Die Angst vor leeren Urnen

Ein Schreckgespenst treibt sein Unwesen in Frankreich, nur wenige Tage vor der zweiten und entscheidenden Runde der Präsidentschaftswahl, in der sich Marine Le Pen und Emmanuel Macron gegenüberstehen werden. Das Gespenst heißt “abstention” (Enthaltung) und es geistert durch die öffentliche Debatte, schwebt über Expertenrunden, rauscht durch sozialen Medien und sitzt landesweit an Bistrotischen. Die Nichtwähler, die abstentionnistes, scheinen an diesem Sonntag genauso wichtig zu sein wie all jene Franzosen, die für einen der beiden Kandidaten stimmen werden. Denn auch wenn die Prognosen noch einen klaren Sieg von Macron mit ca. 60 % in der Stichwahl hervorsagen, so scheint die Unsicherheit zu wachsen, Frankreich könne ein schlimmes Erwachen erleben, denn die massive Enthaltung würde sich sich erfahrungsgemäß positiv für die Rechtsextremisten auswirken. 

Marine Le Pens Wähler gelten als entschieden und motiviert, ihre Kandidatin mit ihrem Urnengang zum Sieg zu verhelfen, während das Wählerpotenzial des Neulings Macron schwierig auszumachen ist, da bereits in der ersten Wahlrunde viele Franzosen für ihn stimmten, weil er als aussichtsreicher Kandidat gegen Le Pen erschien, nicht aber weil sie wirklich für ihn mobilisiert waren. Werden sie ihm diesen Gefallen noch ein zweites Mal tun?  Dabei galt es lange Zeit als sicher, dass die republikanische Front, also der Zusammenschluss der Wähler über Parteigrenzen hinweg, ausreichen wird, um einen Sieg Le Pens zu verhindern, “faire barrage”  (Blockieren) oder “vote utile” (strategische Wahl) heißt das im französischen Wahl-Sprech. 

Um diese republikanische Front zum Bröckeln zu bringen, hat Marine Le Pen allerdings auf den letzten Metern mehrere taktische Manöver gewagt: Zum einen hat sie den Parteivorsitz des Front National zeitweise niedergelegt, um sich als eine Kandidatin des Volkes und über Parteigrenzen hinweg zu präsentieren. Sie sei lediglich vom Front National unterstützt, wählbar aber für jedermann. Zum anderen hat sie angekündigt, einen der ausgeschiedenen Kandidaten, den konservativen Politiker Nicolas Dupont-Aignan,  nach ihrem Wahlsieg  zum Premierminister machen zu wollen, in der Hoffnung, so mehr Mitte-rechts-Wähler für sich zu gewinnen. 

Bruch mit der republikanischen Front

Nun spielt ihr aber vor allem in die Hände, dass viele Menschen nicht zwischen “Pest und Cholera” wählen wollen und stattdessen lieber gar nicht an die Urne schreiten. Wie schon bei der ersten Wahlrunde zeigen sich viele von keinem der Kandidaten wirklich inhaltlich oder persönlich überzeugt. Aber mittlerweile machen Franzosen auch aus der “abstention” ein tatsächliches Prinzip, das ihnen als einzig mögliche Antwort auf die verhasste Konstellation Macron-Le Pen in der Stichwahl erscheint. Die republikanische Front gehört “normalerweise” zu den politischen Gepflogenheiten der V. Republik – doch bei dieser Präsidentschaftswahl zählt (wie in so vielen politischen Ereignissen der jüngsten Zeit) das Wort “normalerweise” nicht mehr viel. Zwar haben sich die meisten etablierten Politiker, aus dem Lager der Sozialisten wie aus dem Lager der Konservativen, ohne Zögern auf die Seite Macrons gestellt – nicht aus Überzeugung, sondern gegen den Front National. 

Doch vor allem der Viertplatzierte Jean-Luc Mélenchon sorgte für Befremden. Der Linke unabhängige Kandidat, der mit erstaunlichen 19,3 Prozent auf dem vierten Platz in der ersten Wahlrunde landete, hat sich im Gegensatz zu den meisten Gegnern nicht explizit dafür ausgesprochen, für Macron zu wählen, sondern lediglich dazu, nicht für Marine Le Pen zu stimmen. Das ist auch die Position der größten französischen Gewerkschaft CGT, bei deren traditioneller 1. Mai-Demonstration die Stimmung „Weder Le Pen, noch Macron“ dominierte. 

Banker oder Rassistin? Ohne mich! 

Diese Zweideutigkeit kann gefährlich werden. Für die meisten Anhänger des Linken Politikers ist Emmanuel Macron schließlich die Verkörperung des Ultraliberalismus und eine regelrechte Hassfigur. In einer landesweiten Befragung gaben nur 35 % der Mélenchon-Wähler an, für Macron stimmen zu wollen. Die meisten zögen es vor, sich zu enthalten. Ihre Haltung drücken sie indes auf Twitter durch den Hashtag #SansMoi (ohne mich) aus. Viele von ihnen waren am 01. Mai auf die Straße gegangen und hatten den Slogan “Ni banquier, ni rasciste” proklamiert (Weder Banker, noch Rassist). Sie sind außerdem davon überzeugt, dass die Wahl Macrons zwangsläufig zum Sieg Le Pens im Jahre 2022 führen würde, da er den Zustand Frankreichs derart verschlimmern würde, dass der FN problemlos siegen könne und dann noch wesentlich stärker wäre als heute. 

Aber auch im konservativen Spektrum verbreitet sich diese Haltung: Im Unterschied zu 2002 hat die wichtige Katholische Kirche keine Wahlempfehlung abgegeben, nicht einmal gegen Marine Le Pen. Die neue Garde der konservativen Républicains, Francois Baroin und Laurent Wauquiez, wollen auch nicht klar für eine Wahl des En Marche!-Kandidaten aufrufen sondern sind vor allem damit beschäftigt, sich als Oppositionskraft gegen Emmanuel Macron für die Parlamentswahlen im Juni in Stellung zu bringen.

Nichtwählen als Glaubenskampf 

Aus dem Akt des Nichtwählens ist mittlerweile ein wahrer Glaubenskampf geworden, mit anekdotischen Zügen. So hat der bekannte Humorist Pierre-Emmanuel Barré den Radiosender France Inter verlassen, nachdem die Intendantin Laurence Bloch ihm nicht erlaubt haben soll, in einer Livesendung für das Nichtwählen zu werben. Den entsprechenden Text verlas er im Anschluss als Videobotschaft auf seiner Facebookseite und schaffte es innerhalb weniger Tage auf 7,5 Mio Mal Aufrufe und tausende zustimmende Kommentare. Eine andere Initiative schlägt vor, dass man erst nach 17h zur Wahl gehen sollte und dadurch zum Ausdruck bringen, man gehöre in Wahrheit zu den Nichtwählern. Damit wäre zur Tagesmitte die Wahlbeteiligung derart niedrig, dass allerorts die Alarmglocken schrillen würden – erst nach 17h solle man dann Macron wählen, sich aber damit als eigentlicher Nichtwähler zu erkennen geben, der “nur” den FN stoppen wollte. 

Die Beispiele zeigen aber, dass die Nichtwähler sich selbst mittlerweile als eine ernstzunehmende Gruppe empfinden und die in ihrer Haltung eine ebenso legitime Entscheidung sehen, wie die Wahl an der Urne. Viele von ihnen glauben, dass sich – egal wer am Ende in den Elysée einzieht – der Kampf um die Zukunft Frankreichs derzeit nicht auf traditionelle Art und Weise gewinnen lässt, das heißt mit den Mechanismen des bestehenden Politikbetriebs. Die Zahl der Nichtwähler wird am Ende dieses Wahnsinnswahlkampfs noch mal zeigen, wie groß die Politikverdrossenheit in Frankreich wirklich ist. 

Nicht zuletzt ist da noch die Frage des guten Timings. Der Montag nach der Stichwahl fällt auf den 08. Mai, an dem Frankreich das Ende des Zweiten Weltkriegs feiert. Nur wer am verlängerten Wochenende auch an seinem Heimatort weilt, kann seinem Wahlbüro einen Besuch abstatten oder er muss sich vorab um das Verfahren der procuration kümmern, also das Stimmabgabe durch eine andere Person. Wie viele von den skeptischen Franzosen auf einen Ausflug verzichten oder die administrative Hürde auf sich nehmen, nur um am Ende zwischen aus ihrer Sicht „Pest und Cholera“ zu wählen, werden sie uns am Sonntag zeigen.