Polens Sorgen nach dem Brexit-Votum

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Ob das Schutzssymbol Warschaus auch die Folgen des Brexits abwehren kann?

Mit dem Brexit wird Polen einen wichtigen sicherheitspolitischen Verbündeten in der EU verlieren. Gleichzeitig stellt sich die Frage, welche Folgen das Referendum für die polnischen Migrant/innen haben wird, die bereits Zielscheibe der "Leave"-Kampagne waren.

Die ersten polnischen Reaktionen auf die Ergebnisse des EU-Referendums in Großbritannien unterschieden sich nicht wesentlich von denen in anderen europäischen Ländern. Das Ergebnis war auch für die Polen und Polinnen eine Überraschung, um nicht zu sagen, ein Schock.

Im Vorfeld zur Abstimmung hatten die polnischen Medien der britischen Kampagne viel Platz eingeräumt, da seit dem Beitritt Polens zur EU im Jahr 2004 viele polnische Bürger/innen in das Vereinigte Königreich ausgewandert sind. Premierminister David Cameron hatte Warschau deshalb im Dezember 2015 und im Februar 2016 besucht. Viele seiner Forderungen, wie zum Beispiel der Abbau von Bürokratie in den europäischen Institutionen oder mehr Macht für die nationalen Parlamente, fanden eine starke Unterstützung auch in den Reihen der polnischen Regierung.

#Dennoch befürworten die polnischen Bürger/innen mehrheitlich die europäische Integration und die polnische EU-Mitgliedschaft, und das obwohl sie ihr Land bei den letzten Wahlen der euroskeptischen Partei „Recht und Gerechtigkeit“ anvertraut haben. Die letzten Meinungsumfragen (TNS 27-28. Juni 2016) zeigten, dass 81 Prozent der Polen und Polinnen für den Verbleib in der EU und nur 13 Prozent für das Verlassen der Europäischen Union votieren würden, wenn sie in einem Referendum danach gefragt werden würden. Bei einer so hohen Unterstützung, und der noch relativ kurzen Karriere Polens als Mitgliedstaat der EU, ist für den durchschnittlichen Bürger schwer nachvollziehbar, dass ein Land freiwillig auf die Mitgliedschaft verzichten würde.

Polen verliert einen wichtigen sicherheitspolitischen Verbündeten

Die Regierung der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) entschied sich nach ihrem Amtsantritt, neben zahlreichen und manchmal (sogar für die eigenen Wähler/innen) überraschenden Kurswechseln, für Großbritannien als neuen strategischen europäischen Partner. Deutschland, der bisherige Hauptpartner, fiel auf Platz zwei zurück, obwohl Deutschland weiterhin die Rolle als wichtigster Wirtschaftspartner verteidigen konnte.

Minister Witold Waszczykowski begründete in seiner Rede vor dem Parlament am 29. Januar 2016, dass Großbritannien ein „ähnliches Verständnis für die Prioritäten der europäischen Agenda habe und einen ähnlichen Ansatz bei den Problemen der europäischen Sicherheit“ verfolge. Die Partei „Recht und Gerechtigkeit“ pflegt die Allianz mit Großbritannien im Europäischen Parlament im Rahmen der Fraktion der „Europäischen Konservativen und Reformer“ (EKR), der auch die britischen Konservativen angehören. Somit bedeutet die Entscheidung für „Leave“ ein großes Problem für die polnische Regierungspartei.

Ein aus Warschauer Sicht wichtiger Aspekt ist hierbei die Sicherheitspolitik. In den Beziehungen der EU zu Russland stellte Großbritannien ein Gegengewicht zu der deutsch-französischen Perspektive dar. Polen wird somit einen wichtigen sicherheitspolitischen Verbündeten genau zu dem Zeitpunkt verlieren, zu dem Russland Europa auf die Probe stellt.

Großbritannien, als neuer Verbündeter, wird damit in der Zukunft an Bedeutung in der internationalen Arena verlieren. Es verlässt die Strukturen der Europäischen Union, und obwohl es seine Bereitschaft für weitere enge Zusammenarbeit betont, wird es im besten Fall bei dieser engen Zusammenarbeit bleiben. US-Präsident Barack Obama bestätigte zwar die besondere Verbindung zwischen den USA und dem Vereinigten Königreich, er sagte jedoch direkt vor dem Referendum, dass er die Zukunft von Großbritannien in der Europäischen Gemeinschaft sehe.

Die wirtschaftlichen Probleme, mit denen die Britinnen und Briten wahrscheinlich noch zu rechnen haben, werden sich ebenfalls nicht besonders positiv auf die Bedeutung des Landes in der Welt auswirken. Dies ist nicht der gleiche Partner für die institutionellen und politischen Reformen der Union, von dem die PiS-Partei träumte.

Für ein Brüssel mit minimalen Kompetenzen

Deutschland, der bisherige wichtigste Verbündete Polens, ist angesichts der europaskeptischen Haltung der PiS-Regierung derzeit nicht bereit, die enge Zusammenarbeit wieder aufzunehmen. Die antideutsche Rhetorik der Regierung und der rechtsorientierten Medien, wie auch die antidemokratischen Reformen der Justiz und der Medien, haben zu einem Vertrauensverlust bei den Nachbarn am anderen Oderufer geführt. Die geschwächten Beziehungen zu Deutschland übertragen sich automatisch auf eine schwächere Position Polens gegenüber seinen mittel-und osteuropäischen Nachbarn und regionalen Partnern. Sowohl die Mitglieder der Visegrád-Gruppe als auch die baltischen Staaten haben immer wieder betont, Polen werde als ein eventueller Anführer nur dann akzeptiert, wenn es ihren bilateralen Beziehungen zu Berlin nicht im Weg stehe.

Die PiS-Regierung sieht die Schuld für den negativen Ausgang des Referendums bei der europäischen Elite. Sie kritisiert die vermeintliche Entfremdung von den realen Bedürfnissen der Bürger/innen als auch den Mangel an Legitimität der EU-Institutionen. Polen stehe für ein „Europa der souveränen Nationalstaaten“ und für die Einschränkung der Kompetenzen von Brüssel auf ein notwendiges Minimum. Die europäische Führung in Brüssel solle für das Ergebnis des britischen Referendums die Verantwortung ziehen und geschlossen zurücktreten, so die polnische Regierung.

Allerdings darf die personelle Frage nicht außer Acht gelassen werden, die diese Kritik zusätzlich anheizt. Diese Aufforderung ist umso brisanter, als dass der Präsident des Europäischen Rates, Donald Tusk, zuvor polnischer Ministerpräsident, „der ewige Gegner“ von Jarosław Kaczyński ist. Tusk nahm das Amt des Präsidenten des Europäischen Rates noch zu einer Zeit an, als er mit seiner Bürgerplattform noch Regierungschef war.

Die Nationalkonservativen werfen ihm vor, er habe die Interessen des Staates seiner persönlichen Karriere geopfert. Als er auf das Amt des Ministerpräsidenten und des Chefs einer durch acht lange Regierungsjahre müde gewordenen Partei ein Jahr vor den Wahlen verzichtete, trug er gewissermaßen zum Sieg der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ bei. Nach den erfolglosen Versuchen, die Briten vom Verbleib in der Europäischen Union zu überzeugen, sei Donald Tusk als Anführer Europas gescheitert.

Was passiert mit den polnischen Migrant/innen?

Die Frage allerdings, die viele Polen und Polinnen umtreibt ist, ist die, welche Auswirkungen ein Brexit auf das Schicksal der polnischen Migranten und Migrantinnen in Großbritannien haben wird. Die Anzahl der Polen und Polinnen, die auf den Inseln leben und arbeiten, wird von verschiedenen Quellen auf 850.000 bis 1 Million Menschen geschätzt. Der britische Arbeitsmarkt hatte sich nach der Osterweiterung als einer der ersten für die neuen Mitgliedstaaten geöffnet. Die Arbeitslosenquote in Polen betrug am Tag des Beitritts Polens zur EU (Mai 2004) 20 Prozent. Es dauerte nicht lang, bis sich die erste Welle von Polinnen und Polen für die Auswanderung entschied.

Von den bisher ausgewanderten Arbeitsmigrant/innen sind nur wenige zurückgekehrt. Sie blieben nicht nur wegen der deutlich höheren Gehälter, sondern auch wegen besserer Arbeitsbedingungen und höherer Lebensqualität. Die polnischen Migrant/innen wussten auch das Leben in einer pluralistischen Gesellschaft mit verschiedenartigen Weltanschauung sowie einer religiösen und ethnischen Vielfalt zu schätzen. Die Idee, Geld zu verdienen und für einen besseren Start nach der Rückkehr in das Heimatland zurückzulegen, wurde zugunsten der Familienplanung im neuen Land aufgegeben. Gerade die jungen Polinnen bringen in Großbritannien mehr Kinder zur Welt als Frauen im gleichen Alter in Polen. Nur wenige Menschen aus dieser Gruppe haben sich für die britische Staatsbürgerschaft entschieden – der polnische Pass reichte bisher aus.

Und genau diese Polen und Polinnen sowie die Bürger/innen anderer mittel- und osteuropäischen Länder wurden zum zentralen Thema der “Leave Kampagne“. Besonders die eher ländlich geprägten Gegenden in Großbritannien, die für den Brexit gestimmt haben, bekundeten auf diese Weise ihren Widerstand gegen die wachsende Zahl von Migrant/innen im öffentlichen Leben. Unmittelbar nach dem Referendum wurde besonders die polnische Bevölkerungsgruppe zum Ziel fremdenfeindlicher Angriffe.

Obwohl die Reaktion der britischen Spitzenpolitiker/innen schnell und entschlossen war, brachte sie keine Antwort auf die Frage: Was wird der Status einer Gruppe von fast einer Million Menschen in einem Land sein, das sich von der Europäischen Union verabschiedet? Einzig der neue Bürgermeister von London, Sadiq Khan betonte, dass die Stadt, Fremden gegenüber weiter offen bleiben und ihre Bedeutung wertschätzen werde.

Ein eigenartiger Rollentausch

Die polnische Regierung hat in den letzten Tagen immer wieder beteuert, alles daran zu setzen, dass ein bevorstehender Brexit nichts am Leben der Polen und Polinnen im Vereinigten Königsreich ändern wird. Dies wird sicherlich die Haltung der polnischen Seite bei den Verhandlungen über den Austritt Großbritanniens aus der EU stark beeinflussen. Nach Ansicht einiger Expert/innen ist es allerdings denkbar, dass sogar die Hälfte der Pol/innen Großbritannien verlassen muss.

Sicher ist, dass der polnische Arbeitsmarkt ein großes Problem haben würde, eine so große Zahl an Arbeitssuchenden wieder aufzunehmen. Zudem ist es nicht das Interesse der polnischen Migrant/innen, die mehrheitlich in Großbritannien bleiben wollen. So kommt es zu einem eigenartigen Rollentausch – das Fremde und Böse, das eine Gefahr für Europa darstellt, ist nun gar nicht der Zustrom arabischer Flüchtlinge, wie die PiS-Partei im letzten Jahr unkte, sondern Exil-Polen, die drohen den polnischen Arbeitsmarkt zu überschwemmen. Leider wird dies nicht zwangsläufig zur Heilung der Haltung vieler Polinnen und Polen zu Europa führen.

Was erwartet Europa als nächstes aus Polen? Jarosław Kaczyński sprach von der Notwendigkeit, die Union zu reformieren. Die Abhilfe sollte ein neues Abkommen schaffen. Er gab in seinem letzten Interview für „Rzeczpospolita“ kund, einen renommierten polnischen Anwalt mit dem Aufsetzen eines solchen Dokuments beauftragt zu haben. Die Premierministerin Beata Szydło vergaß dies bei dem letzten EU-Gipfel zu erwähnen, bei dem einstimmig erklärt wurde, dass man keine Vertragsänderungen anstreben wolle.

Auch wenn in der PiS das letzte Wort beim Parteivorsitzenden Kaczyński liegt, stellt sich die Frage, ob jemand außerhalb seiner eigenen Partei ein offenes Ohr für diesen Vorschlag haben wird. Auf der europäischen Bühne wird es für Polen so einsamer.

Dieser Beitrag ist Teil unseres Brexit-Dossiers.

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