Vorzeitige Parlamentswahlen in Frankreich: Wie ist es dazu gekommen? Wie funktionieren sie?

Analyse

Am Abend der Europawahlen kündigt der französische Staatspräsident Emmanuel Macron die Auflösung der französischen Nationalversammlung an. Frankreich muss neu wählen – in zwei Wahlgängen am 30. Juni und am 7. Juli 2024. Warum traf der Präsident diese Entscheidung? Was sind die möglichen Folgen?

Hémicycle Assemblée nationale

I – Die Gründe, die zur Auflösung der Nationalversammlung führten

Am Sonntag, den 9. Juni, gegen 21 Uhr verkündete der französische Staatspräsident Emmanuel Macron in einer Fernsehansprache: „Deshalb habe ich nach den in Artikel 12 unserer Verfassung vorgeschriebenen Konsultationen beschlossen, Ihnen die Entscheidung über unsere parlamentarische Zukunft durch Neuwahlen zu überlassen. Ich löse daher heute Abend die Nationalversammlung auf.“

Diese Rede folgte auf die Ergebnisse der Europawahlen, bei denen die rechtsextreme Partei Rassemblement National (RN) mit 31 % der Stimmen und 30 gewählten Europaabgeordneten stärkste politische Kraft wurde. Es ist das dritte Mal, dass der RN bei den Europawahlen als Sieger hervorgeht: 2019 hatte die Partei bereits 23 % der abgegebenen Stimmen und 23 Sitze erhalten.

Ergebnisse der Europawahlen vom 9. Juni 2024 in Frankreich

Ergebnisse der Europawahlen vom 9. Juni 2024 in Frankreich. Die Daten stammen von: Vie-publique.fr 

Die Entscheidung Macrons, Artikel 12 anzuwenden, kann auf mehrere Faktoren zurückzuführen sein.

Zunächst kam die Liste des Präsidenten, Besoin d'Europe, mit 14,6 % knapp auf den zweiten Platz (hinter dem RN) und erhielt 13 Sitze – ebenso viele wie die drittplatzierte Liste Place Publique, die von der Sozialistischen Partei (PS) unterstützt wird und 13,8 % der Stimmen erhielt. Während einer Pressekonferenz am 12. Juni sagte Präsident Emmanuel Macron, der Wahlerfolg „der Extremen“[1] mit insgesamt fast 50 % der Stimmen und das Scheitern seines eigenen Lagers hätten ihn davon überzeugt, dass es unmöglich sei, so weiterzumachen wie bisher. Dies habe ihn dazu veranlasst, die Nationalversammlung aufzulösen.

Der zweite Faktor ist institutioneller Natur. Seit 2022 konnten sich die Regierungen von Premierministerin Elisabeth Borne (2022-2024) und ihrem Nachfolger Gabriel Attal (2024) nur dank einer relativen Mehrheit von 246 Abgeordneten in der Nationalversammlung halten[2]. Dadurch mussten sie punktuelle Allianzen schmieden, um Gesetze zu verabschieden. Die Mehrheit des Präsidenten war in diesen zwei Jahren nicht in der Lage, eine stabile Koalition zu bilden.

Angesichts dieser Tatsache war der Präsident der Republik der Ansicht, dass die „Rückkehr zum (Willen des) Volks“ – die Auflösung der Nationalversammlung mit anschließenden vorgezogenen Parlamentswahlen am 30. Juni und 7. Juli – die „einzige republikanische Entscheidung“ sei.

 

II – Artikel 12 der französischen Verfassung: Was bedeutet die Auflösung der Nationalversammlung?

Artikel 12 der Verfassung der Fünften Republik[3]:

Der Präsident der Republik kann nach Rücksprache mit dem Premierminister und den Präsidenten der beiden Parlamentskammern (Nationalversammlung und Senat) die Auflösung der Nationalversammlung aussprechen. [...] 

Die Auflösung der Nationalversammlung ermöglicht die Aussetzung der laufenden Legislaturperiode und sieht vorgezogene Parlamentswahlen vor, um die 577 Abgeordneten der neuen Nationalversammlung zu wählen.

Gemäß der Verfassung der Fünften Republik ist die Auflösung „alleinige Befugnis des Staatspräsidenten, die er ohne die Zustimmung des Premierministers oder der Regierung entscheiden kann (auch wenn er diese vorher konsultieren muss). Dieses Vorgehen ermöglicht es dem Staatspräsidenten, „eine Krise oder eine institutionelle Blockade zu lösen, wodurch er in besonderen politischen und institutionellen Kontexten – im vorliegenden Fall handelt es sich um eine relative Mehrheit, die zum Regieren nicht ausreicht – die „Macht des Schiedsrichters“ bekommt.

Bisher gab es seit der Gründung der Fünften Republik fünf Parlamentsauflösungen:

1. 1962 unter Präsidenten Charles de Gaulle: Nach einem Misstrauensvotum gegen die Regierung Pompidou am 5. Oktober 1962, das zum Sturz der Regierung geführt hatte, wurde die Auflösung des Parlaments beschlossen. Präsident De Gaulle löste die Nationalversammlung auf und erreichte bei der anschließenden Wahl eine absolute Mehrheit für seine Partei, wobei Georges Pompidou erneut zum Premierminister ernannt wurde.

2. 1968 unter Präsidenten Charles de Gaulle: Die Auflösung erfolgte vor dem Hintergrund der durch die Unruhen im Mai 1968 ausgelösten, institutionellen und politischen Krise. Die Partei des Präsidenten erlangte nach den vorgezogenen Parlamentswahlen jedoch eine überwältigende absolute Mehrheit mit 367 von 487 Sitzen.

3 und 4. 1981 und 1988 unter der Präsidentschaft von François Mitterrand: Nach seiner Wahl 1981 und seiner Wiederwahl 1988 löste Präsident Mitterrand die von den republikanischen Rechten dominierte Nationalversammlung auf. Nach den vorgezogenen Parlamentswahlen erlangte die Präsidentenpartei in beiden Fällen die absolute Mehrheit. Vor 2000 wurde der Präsident der Republik für sieben Jahre und die Nationalversammlung für fünf Jahre gewählt. Dies führte in den letzten beiden Jahren der Amtszeit Mitterrands zur ersten „Kohabitation“ (Zusammenarbeit zwischen einem linken Präsidenten und einer rechten Parteimehrheit oder andersrum) der Fünften Republik. Dies führte in den letzten beiden Jahren der Amtszeit Mitterrands zur ersten „Kohabitation“[4] der Fünften Republik.

5. 1997 unter Präsidenten Jacques Chirac: Als er sich einer absoluten Mehrheit sicher glaubte, löste Präsident Chirac die Nationalversammlung ein Jahr vor den Parlamentswahlen von 1998 auf, da er davon ausging, dass seine Chancen auf eine absolute Mehrheit ein Jahr vor den geplanten Wahlen höher standen. Die von Lionel Jospin angeführte pluralistische Linke erreichte jedoch eine absolute Mehrheit. So musste Präsident Chirac Lionel Jospin (Sozialistische Partei) zum Premierminister ernennen, und es kam zu einer erneuten Kohabitation. 

 

III – Die Folgen der Auflösung: vorgezogene Parlamentswahlen, gefolgt von der Bildung einer neuen Regierung

Wie in Artikel 12 der Verfassung festgelegt, „[...] finden die vorgezogenen Parlamentswahlen mindestens 20 Tage und höchstens 40 Tage nach der Auflösung statt [...].“ Im aktuellen Fall mag die Frist von 21 Tagen zwischen dem 10. und dem 30. Juni knapp erscheinen, doch in den Jahren 1968, 1981 und 1988 waren die Fristen mit weniger als 25 Tagen zwischen der Auflösung und den vorgezogenen Parlamentswahlen ähnlich kurz. Der schnelle Zeitpunkt hat sowohl mit den beginnenden Sommerferien als auch den Olympischen Sommerspielen in Frankreich zu tun.

Die erste Runde der vorgezogenen Parlamentswahlen findet also nach 13 Tagen offizieller Wahlkampfzeit statt. Die 577 Abgeordneten der neuen Nationalversammlung werden wie folgt gewählt: In jedem Wahlkreis stellt jede Partei oder jedes Parteienbündnis einen Kandidaten oder eine Kandidatin auf. Die kandidierende Person kann im ersten Wahlgang mit absoluter Mehrheit gewählt werden, d. h.  sie muss mehr als 50 % der abgegebenen Stimmen erhalten, und diese Stimmen müssen mindestens 25 % der in diesem Wahlkreis registrierten Wähler repräsentieren.

Bekommt im ersten Wahlgang niemand eine absolute Mehrheit, findet am 7. Juli ein zweiter Wahlgang statt. Die beiden Personen, die im ersten Wahlgang die meisten Stimmen auf sich vereinten, sind für den zweiten Wahlgang qualifiziert. Eine Ausnahme: Erhält eine dritte oder vierte Person mindestens 12,5 % der registrierten Wählerschaft, kommt sie ebenfalls in den zweiten Wahlgang. Diese Konstellation mit drei Kandidat*innen im zweiten Wahlgang wird „Dreieckswahl“ genannt. Im zweiten Wahlgang wird die Person mit den meisten Stimmen (relative Mehrheit) zum oder zur Abgeordneten gewählt.

Ausgehend von der Zusammensetzung des neuen Parlaments wird eine Regierung gebildet, an deren Spitze ein*e neue*r Premierminister*in steht, der oder die vom Präsidenten der Republik ernannt wird[5]. Dabei wählt der Staatspräsident üblicherweise die Person, die von der neuen Mehrheit der Nationalversammlung unterstützt wirdda die Regierung der Nationalversammlung gegenüber verantwortlich ist.

 

IV – Welche Szenarien sind nach dem 7. Juli denkbar? Eine mögliche Kohabitation?

Unmittelbar nach der Auflösung der Nationalversammlung haben die französischen Parteien daran gearbeitet, Bündnisse für die vorgezogenen Parlamentswahlen zu schmieden:

  • Die Koalition Ensemble pour la République („Gemeinsam für die Republik“) aus der Präsidentenpartei Renaissance und weiteren Mitte-Rechts-Parteien (Horizons, Modem, UDI).
  • Die Koalition der linken Parteien: die Neue Volksfront (Nouveau Front Populaire, NFP), bestehend aus der Sozialistischen Partei (PS), der Linke (La France insoumise), den Grünen (Les Ecologistes - Europe Ecologie les Verts), Place Publique, der Kommunistischen Partei Frankreichs, der Republikanischen und Sozialistischen Linke (la Gauche républicaine et socialiste), der Ökosozialistischen Linke (la Gauche écosocialiste), Génération.s und aus der Neuen Antikapitalistischen Partei (le Nouveau Parti Anticapitaliste). Diese Koalition vereint linke Politiker wie Jean-Luc Mélenchon für La France insoumise, Marine Tondelier für die Grünen, Raphaël Glucksmann für Place Publique sowie den ehemaligen, sozialistischen Präsidenten François Hollande.
  • Le Rassemblement National (rechtsextreme „Nationale Sammlungsbewegung“, ehemals Front National), die führende rechtsextreme Partei Frankreichs, die von Marine Le Pen und Jordan Bardella angeführt wird.
  • Les Républicains („Die Republikaner“, rechts): Die Partei ist derzeit gespalten zwischen den Unterstützern des Vorsitzenden Eric Ciotti, der 62 Kandidatinnen und Kandidaten im Bündnis mit dem RN aufgestellt hat; und einem weiteren Flügel der Partei, der eine Koalition mit dem RN ablehnt und 400 Kandidat*innen aufgestellt hat, darunter auch einige, die gegen die von Ciotti aufgestellten Kandidat*innen antreten.
  • Reconquête („Rückeroberung“, rechtsextrem), die Partei von Eric Zemmour.

 

Mehrere Szenarien werden in Betracht gezogen:

SZENARIO 1: Die Koalition um die Präsidentenpartei erreicht eine absolute Mehrheit

In diesem Szenario würden die vorgezogenen Parlamentswahlen dazu führen, dass Emmanuel Macrons Koalition Ensemble pour la République mindestens 289 der 577 Abgeordnetensitze erhält. In dieser Konstellation würde der Präsident einen Premierminister aus eben dieser Koalition ernennen. Diese*r Premierminister*in ernennt dann die Minister*innen, mit denen er eine neue Regierung bildet. Mit einer absoluten Mehrheit könnte die Exekutive ihre Gesetzesentwürfe leichter durch das Parlament bringen, da sie wüsste, dass die absolute Mehrheit der Nationalversammlung für sie stimmen würde.

 

SZENARIO 2: Die Koalition um die Präsidentenpartei erreicht eine relative Mehrheit

Dieses Szenario wäre identisch mit der Situation vor der Parlamentsauflösung seit den Parlamentswahlen von 2022 und würde dazu führen, dass die Regierung weiterhin für jeden Gesetzentwurf eine punktuelle Koalition bilden müsste – der Grund des Staatschefs, die Nationalversammlung aufzulösen. Für ein Jahr nach diesen Wahlen kann der Präsident die Versammlung gemäß Artikel 12 der Verfassung nicht noch einmal auflösen.

 

SZENARIO 3: Das Szenario der Kohabitation: Ein Oppositionsbündnis (der Rassemblement National, die Neue Volksfront oder in einem unwahrscheinlicheren Szenario die Republikaner) erreicht eine absolute oder relative Mehrheit

Bei diesem Szenario würde eine andere Partei oder Koalition als die des Präsidenten die (relative oder absolute) Mehrheit in der Nationalversammlung erlangen. In diesem Fall müsste Präsident Macron eine*n Premierminister*in aus dieser Partei oder Koalition ernennen. Es wäre die vierte Kohabitation in der Geschichte der fünften Republik.

Eine Kohabitation entsteht, wenn der Präsident der Republik einen Premierminister aus einer anderen politischen Partei ernennen muss. Nach seiner Ernennung bildet der Premierminister eine Regierung mit Ministern aus seiner Partei bzw. seiner Koalition, die die Mehrheit in der Nationalversammlung erlangt hat. Seit der Einführung der Fünften Republik im Jahr 1958 gab es in Frankreich drei Kohabitationen: von 1986 bis 1988 sowie von 1993 bis 1995 jeweils unter Präsidenten François Mitterrand; und von 1997 bis 2002 unter Präsidenten Jacques Chirac.

 

Wie die Kohabitation funktioniert:

Laut Verfassung „leitet der Premierminister die Arbeit der Regierung [...]“[6], und „die Regierung bestimmt und leitet die Politik der Nation [...]“[7]. Somit wird die „Innenpolitik des Landes [...] der Regierung und nicht dem Präsidenten anvertraut.“ Gemäß den Gepflogenheiten der V. Republik wird die von der Regierung und dem Premierminister verfolgte Politik an die des Präsidenten angepasst, wenn Präsident und Premierminister derselben Partei angehören. Bei einer Kohabitation unterscheidet sich die von der Regierung verfolgte Politik vom Programm des Präsidenten – die Entscheidungs- und „Schiedsrichterbefugnisse“ sind dann aufgeteilt.

Während der bisherigen Kohabitationen war es üblich, dass der Präsident der Republik über die Bereiche der nationalen Verteidigung und der auswärtigen Angelegenheiten entscheidet, was gemeinhin als „dem Präsidenten der Republik vorbehaltene Domäne bezeichnet wird. Der französische Politologe Pascal Perrineau bekräftigte dies in einem Interview am 9. Juni: Selbst im Falle einer Kohabitation würde Präsident Macron die Kontrolle über die Verteidigungs- und Außenpolitik behalten, da er (und nicht der Premierminister) beispielsweise im Europäischen Rat sitzen würde. Während der beiden Kohabitationen unter Präsidenten Mitterrand nahmen jedoch der linke Präsident Mitterrand und der rechte Premierminister (zuerst Jacques Chirac, später Edouard Balladur) gemeinsam an den Sitzungen des Europäischen Rates teil. Diese dem „Präsidenten vorbehaltene Domäne“ ist in der Verfassung nicht klar definiert; sie bleibt in dieser Hinsicht relativ vage: Der Text sieht vor, dass der Präsident zwar „Oberbefehlshaber der Streitkräfte“ ist und „den Vorsitz in den Räten und höheren Ausschüssen für die Landesverteidigung“ innehat[8], der Premierminister jedoch „für die Landesverteidigung verantwortlich“ ist[9]. Es ist daher Aufgabe des Premierministers und des Präsidenten, sich in diesen Fragen zu einigen, um institutionelle Blockaden zu vermeiden.

 

 

Die am 10. Juni 2024 beschlossene Auflösung der Nationalversammlung öffnet die Tür für eine vierte Kohabitation ab Juli. Sie könnte die erste sein, in der eine rechtsextreme Partei in Frankreich die Regierung stellt.

 

[1] Wenn Emmanuel Macron von den „Extremen“ spricht, meint er die Rechtsextremen (Rassemblement National und Reconquête) und die extreme Linke (La France insoumise, LFI), die insgesamt 46,7 % der Stimmen auf sich vereinigen konnten (31,3 % für RN; 9,9 % für LFI und 5,5 % für Reconquête).

[2] Die absolute Mehrheit liegt bei 289 Abgeordneten.

[3] Die Fünfte Republik ist die seit 1958 bestehende aktuelle Republik in Frankreich.

[4] Zusammenarbeit zwischen einem linken Präsidenten und einer rechten Parteimehrheit oder andersrum