100 Jahre Verdun: Marianne und Michel verstehen sich nicht mehr

Siegesdenkmal der Schlacht um Verdun

Der deutsch-französische Motor stottert und blockiert Europa

Das deutsch-französische Verhältnis gerät in Gefahr, sich in Symbolen und Ritualen gegenseitiger Freundschaftsbekundungen zu erschöpfen, während zugleich der deutsch-französische Motor in Bezug auf politische Schlüsselfragen zunehmend stottert und quietscht.

Es soll ein würdiges Gedenken werden, mit Präsident Hollande und Bundeskanzlerin Angela Merkel am 29. Mai in Verdun, an die: grässliche „Schlacht der Schlachten“, die mit dem blutigen Ringen um ein paar Kilometer Grenzverschiebung zwischen Deutschland und Frankreich die ganze Brutalität und Absurdität des 1. Weltkrieges zeigte. Begonnen als Offensive von deutscher Seite mit dem erklärten Ziel einer „Abnutzung“ des Gegners, also schlicht mehr niedergemetzelten Soldaten in den gegnerischen als in den eigenen Reihen. Hier fand am 22. September 1984 vor dem Gebeinhaus von Duoaumont die symbolisch so wirkungsvolle wie wichtige Szene des Handschlags zwischen Francois Mitterand und Helmut Kohl statt. In ihren Fußstapfen werden am Sonntag Francois Hollande und Angela Merkel zum 100 jährigen Gedenken an das blutige Gemetzel zwischen den Nachbarn Friedhöfe und Gedenkstätte besuchen . Die Spitzen der europäischen Institutionen sind dazu geladen, ein umfangreiches Programm ist vorgesehen.

Alles richtig und wichtig. Nur gerät das deutsch-französische Verhältnis zunehmend in Gefahr, sich in Symbolen und Ritualen gegenseitiger Freundschaftsbekundungen zu erschöpfen, während zugleich der deutsch-französische Motor in Bezug auf politische Schlüsselfragen zunehmend stottert und quietscht. So gut und geschmiert die Zusammenarbeit auf der Ebene der Diplomatie und Verwaltung zwischen Paris, Berlin und Brüssel funktioniert, so weit sind die Nachbarn in europäischen Kernfragen mittlerweile auseinander. Stockt aber der deutsch-französische Motor, kommt auch in Europa wenig bis nichts voran. Die Fassade des deutsch-französischen Paars glänzt, die französische Marianne und der deutsche Michel mögen sich, sie pflegen weiter ein enges Verhältnis – aber sie verstehen sich nicht mehr und reden nicht darüber. Das zeigt sich exemplarisch an vier zentralen Krisen: Die Zukunft des Euro, die Flüchtlingsbewegungen, der drohende Brexit sowie das Erstarken rechtspopulistischer Parteien.

Bei jeder neuen Verhandlungsrunde zu Griechenland bricht der tiefe Riss zwischen Deutschland und Frankreich in Bezug auf den künftigen Kurs in der Eurozone auf. Hier der Unmut über die Verstöße gegen vereinbarte Regeln und die Vorstellung, man könne tiefgreifende Strukturreformen und einen harten Sparkurs kombinieren und sich aus einer heftigen Wirtschaftskrise heraussparen. Jenseits des Rheins die Überzeugung, dass dies nur ein Holzweg sein kann. Dicke Bücher und Seminare lassen sich mit den unterschiedlichen wirtschafts- und finanzpolitischen Traditionen Deutschlands und Frankreichs füllen. Grundidee der europäischen Einigung war allerdings immer, bei allen Unterschieden über teilweise schmerzhafte Kompromisse für beide Seiten einen gemeinsamen Weg zu finden. Dass eine stärkere Koordinierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik in einem gemeinsamen Währungsraum dringend geboten ist, ist eigentlich eine Binsenweisheit. Nur kann sich das deutsch-französische Paar nicht dazu durchringen:Hier überwiegen Arroganz mit Blick auf die „Reformunfähigkeit des ökonomisch kränkelnden Nachbar“ und die alles dominierende Staatszentrierung,dort erstaunliche Vorstellungen über einen vermeintlich brutalen Neoliberalismus als Grundlage der starken Wirtschaft im Nachbarland. Nicht zu unterschätzen sind dabei auch die Blessuren, die die Entscheidung Deutschlands nach der Finanzkrise 2007/2008 hinterlassen hat, alle Vorschläge für eine gemeinsame Bewältigung der Folgen in Europa, von Eurobonds bis Altschuldentilgungsfonds, kühl zu beerdigen.

Wer gerade noch lauthals verkündet hat, Solidarität habe doch ihre Grenzen, braucht sich nicht zu wundern, wenn sich das gegen ihn selbst wendet, wenn er plötzlich zum Bittsteller um die Solidarität seiner europäischen Partner wird. So geschehen mit Deutschland angesichts der Herausforderung der Flüchtlingsbewegungen. Mit dieser Frage soll der ökonomische Riese, nicht geplagt wie so viele andere in Europa mit hoher Arbeitslosigkeit und leeren Kassen, jetzt mal schön allein klarkommen, war mancherorts zu vernehmen in französischen Landen. Die Kaltschnäuzigkeit, mit der der engste Partner Deutschland in dieser Frage allein gelassen hat - zugespitzt deutlich geworden durch den Auftritt seines Premierminister Manuel Valls in München mit geradezu höhnischer Kritik an Merkels Kurs in der Flüchtlingspolitik -  ging aber doch noch einen deutlichen Schritt weiter und zeigte den tiefen Graben in dieser Schlüsselfrage zwischen Paris und Berlin. Den Front National im Nacken wurde die deutsch-französische Perspektive gegenüber innenpolitischen Erwägungen klar zurückgestellt von der französischen Regierung. Erstaunlich gering war der Unmut über Merkels Alleingänge in den Verhandlungen mit der Türkei über das Flüchtlingsabkommen mit der EU. In Paris überließ man der deutschen Bundeskanzlerin das Management in dieser Frage, solange man in der Flüchtlingsfrage nicht in die Verantwortung musste.

Eine deutsch-französische Initiative für eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik oder das Einbringen des Gewichts der beiden Partner für eine abgestimmte, gesamteuropäische Strategie zur Beendigung des blutigen Krieges in Syrien sowie des Staatszerfalls in Libyen ist bislang nicht einmal an einem fernen Horizont zu erkennen. Um Haaresbreite wären durch den Leerlauf des deutsch-französischen Motors auch noch die freien Grenzen und Schengen beinahe nebenbei beerdigt worden. Die Gefahr der kalten Rückabwicklung einer der größten Errungenschaften der europäischen Einigung ist bei weitem nicht gebannt.   

Denn mit dem Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU steht die nächste existenzielle Krise vor der Tür. Ein Brexit wäre eine perfekte Vorlage für die Riege europäischer  Populisten  von Marine Le Pen über Viktor Orban bis hin zu Jaroszlaw Kazcynski, die anti-europäische Stimmungsmache weiter anzuheizen und nach diesem ersten Stein aus dem Fundament des gemeinsamen europäischen Hauses weitere herauszubrechen, um das ganze Gebäude zum Einsturz zu bringen. Auf der Insel wächst derzeit die Zustimmung zu einem Austritt  des Vereinigten Königreiches - doch anstatt im vollen Bewusstsein um mögliche Konsequenzen eines Austritts –beispielsweise- einen Aufruf der 27-EU-Mitglieder an die Bürgerinnen und Bürger auf der Insel zu initiieren, ist vom französisch-deutschen Gespann nichts zu vernehmen, blicken Marianne und Michel derzeit nur stumm und erschrocken über den Kanal: Statt gemeinsamer Ideen und Initiativen nur untätiges Abwarten.

Kaum besser steht es mit Blick auf das Anwachsen der rechtspopulistischen bis rechtsextremen Parteien in Europa und die Ausweitung sogenannter illiberaler Demokratien, in denen die elementaren Machtbegrenzungs- und Kontrollmechanismen demokratischer Systeme schrittweise außer Kraft gesetzt werden. Freudig beobachtet und vielfach auch finanziell unterstützt vom selbsternannten Vorreiter der illiberalen Demokratie, Russlands Präsident Wladimir Putin. Begonnen von Viktor Orban in Ungarn, eifrig nachgeahmt von PiS-Chef und –Strippenzieher Jaroslaw Kazcinsky in Polen und gerade noch einmal äußerst knapp verhindert in Österreich dank des Wahlsiegs des Grünen Alexander Van der Bellen. Doch wie das Kaninchen auf die Schlange starrt in der französischen Politik alles nur auf die Frage, wer  mit Front-National-Chefin Marine Le Pen in den zweiten Durchgang der Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2017 ziehen wird. Dass sie eine der beiden sein wird, die in den zweiten Durchgang kommen, scheint schon ausgemacht. Während die Wellenbewegungen, die der Durchmarsch der AfD bei den vergangenen Landtagswahlen in Deutschland ausgelöst hat, schon wieder zu verebben scheinen.

Hier ließe sich nun wirklich ein klares, gemeinsames Interesse für kraftvolle deutsch-französische Initiativen identifizieren, der unentwegt anwachsenden Vertrauenskrise in Europa in die etablierten demokratischen Akteure, Prozesse und Institutionen zu begegnen und die Grundlagen liberaler Demokratien zu verteidigen.  

Wenn der deutsch-französische Motor rundläuft und zieht, geht so manches: Zwar ist die Situation in der Ostukraine unverändert angespannt, es wird weiter geschossen, der Friedensprozess kommt nicht wirklich voran. Auch bei der Demokratisierung und dem dringend notwendigen wirtschaftlichen Aufschwung hakt es in der Ukraine.  Doch die Eindämmung des Konfliktes in der Ostukraine erzielte das im Normandie-Format gemeinsam agierenden Duo Hollande und Merkel über Verhandlungen und Dialog mit Putin einerseits und dem Schulterschluss der Europäer in einer gemeinsamen, europäischen Linie mit Sanktionen gegenüber Russland andererseits. Diese Erfahrung zeigt, was ein reibungslos funktionierendes deutsch-französisches Tandem zustande bringen kann. Nicht auszudenken, was ein Auswachsen des Konfliktes zu einem Bürgerkrieg in der ganzen Ukraine mit Flüchtlingsbewegungen in noch völlig anderen Dimensionen für Europa bedeutet hätte.  

Vieles geht also, wenn das deutsch-französische Triebwerk läuft statt stottert, wenn Marianne und Michel sich mit Kompromissen zu einem gemeinsamen Weg durchringen. Das zweifelsohne bedeutende Verdun-Gedenken wäre in der aktuellen europäischen Krise ein ebenso guter wie zeitlich gebotener Anlass und Ausgangspunkt, mit konkreten gemeinsamen Initiativen und Projekten statt allgemeinen  Freundschaftsbeteuerungen und Retrospektiven den deutsch-französischen Motor wieder anzuwerfen.