Die Frage, wie es mit Europa und der Währungsunion weitergehen soll, erschöpft sich nicht in einer Kontroverse zwischen „deutschen“ und „französischen“ Regierungspositionen. Sie bedarf auch einer breiten gesellschaftlichen Debatte, auf nationaler wie auf europäischer Ebene.
Deutschland? Dominanz. Austerität. Ordoliberalismus. Das „deutsche Europa“? Schuld an der Misere Griechenlands und Frankreichs, natürlich auch am Brexit. So tönt es landauf, landab in unserem Nachbarland. Der Grundton dieser Melodie ist überall zu hören – bei der extremen Rechten um Marine Le Pen, dem Linksaußen Jean-Luc Mélenchon, aber auch bei den Konservativen und in der Sozialistischen Partei.
Frankreich? Krise. Staatsdirigismus. Reformunfähig. Stark nur im Geldausgeben. Klassenkämpferische Gewerkschaften, die jegliche Veränderung blockieren. Dies sind die Bilder, die in Deutschland viele Köpfe in Politik und Medien beherrschen, sobald vom Nachbarn Frankreich die Rede ist. Sie haben in der jüngsten Zeit neue Nahrung erhalten: politische Streiks und wütende Massenproteste gegen eine (sehr gemäßigte) Arbeitsreform, ungeleerter Müll in den Städten, Blockade der Ölraffinerien, die das Land zeitweise lahmzulegen drohten. All dies hat zwar die fröhliche Stimmung der Fußball-EM letztlich nicht überdecken können, wirft aber ein Schlaglicht auf die große Malaise im Nachbarland und hat hierzulande Zweifel an der Zuverlässigkeit des französischen Partners genährt.
Wir wissen um die politische Wirkungsmacht der Bilder (und Zerrbilder) des Nachbarn, die sich – oft über Jahrzehnte – in den Köpfen gebildet haben. In der Schicksalsgemeinschaft, die durch die Wirtschafts- und Währungsunion entstanden ist, gibt es eine neue Aufmerksamkeit für den Nachbarn, mit dem man schließlich im selben Boot sitzt: Welche Folgen hat dessen Politik für die eigene Wirtschaft, die Beschäftigung, die Zukunftschancen? Kann man von den Erfolgen, vielleicht vom Scheitern des Nachbarn lernen, wenn es um die Bewältigung von Problemen im eigenen Land geht? Der Blick über den nationalen Gartenzaun kann den Horizont erweitern in einem Europa, dessen vielfältige Strukturen, Sichtweisen und Problembearbeitungen einen Reichtum darstellen, weil sie ein Reservoir für alternative Methoden und Lösungen bieten.
Stimmungen, die das innenpolitische Klima beeinflussen
Gleichzeitig aber laden sich diese Bilder immer öfter politisch auf. Dies liegt daran, dass politische Entscheidungen in der Eurozone immer mehr direkt die Lebenswirklichkeit der Bürgerinnen und Bürger berühren: Was in Brüssel passiert, ist von höchster Relevanz, ebenso wie die deutsche oder französische Wirtschaftspolitik spürbare und direkte Auswirkungen auf ihre Nachbarn hat. So entstehen Stimmungen, die das innenpolitische Klima beeinflussen und die Zusammenarbeit der Regierungen erschweren. Da wird die derzeitige ökonomische Stärke Deutschlands bei unseren Nachbarn mit einer Mischung aus Bewunderung, Unbehagen und zuweilen offenem Misstrauen wahrgenommen; die Regierung wird aufgefordert, sich dem „deutschen Europa“ zu widersetzen und statt dessen für eine solidarische, wachstums- und beschäftigungsfreundliche Politik in der Eurozone einzutreten. Genau dies nährt aber in Deutschland Ängste, das überschuldete und reformresistente Frankreich wolle die Stabilitätsregeln der Währungsunion aufweichen und letztlich eine Transfer- und Schuldenunion herbeiführen. Dies sind keine guten Aussichten für eine vertrauensvolle deutsch-französische Zusammenarbeit, derer die Europäische Union gerade in diesen Tagen dringend bedürfte!
Indessen: Es gibt nicht „das“ Deutschland- oder Frankreichbild. Die Bilder vom Nachbarn differenzieren sich je nach sozialer Interessenlage oder politischer Position. So gibt seit einiger Zeit in Frankreich eine heftige, ja erbitterte „Schröder-Debatte“: Während Konservative und Liberale die Reformen der Agenda 2010 als Vorbild für Frankreich preisen, um aus seiner wirtschaftlichen Krise herauszufinden, wird die Schröder-Politik auf der Linken in Grund und Boden verdammt. Das französische Sozialmodell, so das Argument, würde von derartigen „neoliberalen“ Reformen zerstört. Diese kontroversen Einschätzungen sind zunächst einmal völlig natürlich, da wirtschaftspolitische Entscheidungen immer auch Gegenstand kontroverser Debatten sind. Schließlich war die Politik Schröders ja auch in Deutschland äußerst kontrovers.
Zerrbilder grenzen an Wirklichkeitsverlust
Aber die Versuchung der Instrumentalisierung ist groß, die Neigung also, sich die Wirklichkeit des Nachbarn je nach ideologischer Brille so zurechtzulegen, dass sie ins eigene Erklärungsschema passt, und alles andere auszublenden. So entstehen die eingangs referierten Zerrbilder. Das grenzt an Wirklichkeitsverlust, etwa wenn in der französischen Debatte das Mantra des „deutschen Europa“ für alle auch hausgemachten Probleme verantwortlich gemacht wird, oder wenn in Deutschland die durchaus vorzeigbare Reformpolitik François Hollandes ignoriert wird, weil sie nicht in das Klischee vom reformunfähigen Frankreich passt.
Die Frage, wie es mit Europa und der Währungsunion weitergehen soll, erschöpft sich nicht in einer Kontroverse zwischen „deutschen“ und „französischen“ Regierungspositionen. Sie bedarf auch einer breiten gesellschaftlichen Debatte, auf nationaler wie auf europäischer Ebene. Dazu müssen wir aber die zahlreichen Zerrbilder vom Nachbarn überwinden und lernen, unterschiedliche Denk- und Argumentationsweisen in Europa als Bereicherung der Debatte zu sehen und zu nutzen.
Dieser Artikel erschien in dem Dossier zur Publikation "Frankreich und Deutschland - Bilder über den Nachbarn in Zeiten der Krise".