Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland und Frankreich würde mehr Kenntnis über die wechselseitigen Wahrnehmungsmuster helfen, die Diskurse und Handlungsweisen des anderen besser zu verstehen. Unser neuer Sammelband und dieses Dossier wollen hierzu einen Beitrag leisten. Das Vorwort.
Frankreich und Deutschland – das ist eine schicksalhafte Beziehung, die die Geschicke des europäischen Kontinents geprägt hat. Sie stand im Zentrum einer Reihe von Kriegen, die Millionen Tote auf den Schlachtfeldern hinterließen und eine bittere Feindschaft besiegelten. Rund 60 Jahre nach dem historischen Neubeginn ist die deutsch-französische Partnerschaft nach wie vor die Zentralachse der europäischen Einigung: Wenn sich Franzosen und Deutsche einig sind, kommen die Dinge voran; wenn sie über Kreuz liegen, stottert der Integrationsmotor. Das gilt erst recht in der kritischen Lage, die durch das britische Referendum über den Austritt aus der EU ausgelöst wurde.
Schaut man auf die letzten Jahre zurück, fallen jetzt vor allem die Differenzen ins Auge. In der europäischen Schuldenkrise trat die unterschiedliche Denkweise in wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen offen zutage. In der Energiepolitik sind die Unterschiede immer noch erheblich, auch wenn die Atomenergie in Frankreich einiges von ihrem Nimbus eingebüßt hat. Und in der aktuellen Auseinandersetzung über den Umgang mit der Massenflucht aus dem Vorderen Orient besteht keine Einigkeit zwischen Deutschland und Frankreich.
Auch wenn die Regierungen beider Länder um gemeinsame Lösungen ringen und sich am Ende immer wieder auf Kompromisse einigen können, ist das deutsch-französische Tandem derzeit nicht in der Verfassung, die europäischen Herausforderungen beherzt anzupacken. Das schlägt sich auf die Handlungsfähigkeit der EU insgesamt nieder. Möglicherweise liegen die Gründe tiefer als in Meinungsverschiedenheiten zu einzelnen politischen Fragen. Das Gleichgewicht zwischen unseren beiden Ländern ist seit der deutschen Wiedervereinigung aus dem Lot geraten.
Das gilt nicht nur für die unterschiedliche Wirtschaftskraft. Auch die politischen Gewichte haben sich verschoben. Während Frankreich beinahe gelähmt wirkt, ist Deutschland unfreiwillig zur europäischen Zentralmacht geworden. Der Fall der Mauer und die Osterweiterung der EU haben die Bundesrepublik in die Mitte Europas gerückt. Diese Kräfteverschiebung bleibt nicht ohne Auswirkungen auf das deutsch-französische Verhältnis.
Der vorliegende Sammelband widmet sich den Bildern, die Frankreich und Deutschland voneinander haben. Der Glaube, dass sich mit zunehmender Zusammenarbeit alte Stereotype auflösen würden, war ein Irrglaube. Sie spiegeln sich nach wie vor in politischen Debatten und der medialen Berichterstattung wider. Affekte gegen Deutschlands vermeintliche oder wirkliche Dominanz sind in der französischen Debatte immer wieder virulent. Unterschiedliche Grundeinstellungen in ökonomischen und politischen Fragen überlagern oft die Sachdebatte.
Mehr Kenntnis über die wechselseitigen Wahrnehmungsmuster würde helfen, ein besseres Verständnis für die Diskurse und Handlungsweisen des anderen zu entwickeln, und eine Wiederannäherung der beiden Freunde befördern. Dazu soll der Sammelband einen Beitrag leisten. Umfragen zeigen, dass Deutsche und Franzosen trotz der Konflikte der letzten Jahre mehrheitlich ein gutes Bild voneinander haben und das jeweilige Nachbarland nach wie vor als den wichtigsten Partner ansehen.
Doch schaut man genauer hin, werden Risse sichtbar. So bewerten weitaus weniger Französinnen und Franzosen den Zustand der deutsch-französischen Beziehungen als ausgeglichen. Deutschlands Rolle hat sich seit der Wiedervereinigung gewandelt. Es ist wirtschaftlich gestärkt aus der Eurokrise hervorgegangen. Die deutsche Stärke weckt Misstrauen und löst Missbehagen aus – nicht nur in Frankreich. Der Umgang mit diesem Ungleichgewicht ist eine der großen politischen Herausforderungen für die Zukunft unseres Kontinents. Europa bleibt auf ein funktionierendes deutsch-französisches Tandem angewiesen, auch wenn diese Partnerschaft nicht exklusiv sein darf. Dies gilt umso mehr für eine künftige Europäische Union ohne Großbritannien.
Unser besonderer Dank geht an die Autorinnen und Autoren, deren deutsch-französische Biographien sie in besonderem Maße befähigen, beide Seiten in ihrer Verschiedenheit und Gemeinsamkeit zu sehen. Sie haben einen reichhaltigen Schatz zusammengetragen.
Dies ist das Vorwort unserer Publikation "Frankreich und Deutschland - Bilder über den Nachbarn in Zeiten der Krise" und Teil des Online-Dossiers.