Fußball ist wegen seiner immensen, oft auch überhöhten Symbolkraft eine für alle zugängliche und greifbare Illustration des kollektiven Gefühlshaushalts einer Nation. Das verbindet die beiden Länder Frankreich und Deutschland - auch in Krisenzeiten.
Der 2:0-Erfolg der französischen Fußballnationalmannschaft gegen die deutschen Weltmeister im Halbfinale „ihrer“ Euro am 7. Juli 2016 war einer dieser Momente, in denen der Fußball weit über seine übliche Fanbasis in die Gesellschaft hineinwirkt.
Zum einen galt es, endlich eine historische Wunde zu heilen. Tatsächlich ist das unter tragischen Umständen gegen Deutschland verlorene WM-Halbfinale 1982 in Sevilla über die Jahre ein nationaler Erinnerungsort geworden. Vor allem in Frankreich, wo zwar nur knapp die Hälfte aller Franzosen den Fußball „mögen“ oder gar „lieben“ (über 70 Prozent in Deutschland!), aber 67 Prozent spontan beim Stichwort „Sevilla 82“ wissen, was gemeint ist (gegenüber nur 33 Prozent der deutschen Befragten), wie eine Untersuchung des Forschungsprojektes FREE („Football Research in an Enlarged Europe“) zeigt. Diese Zahlen belegen, wie sehr sich ein solches Ereignis im kollektiven Gedächtnis verankern kann.
Zum andern war die Erinnerung an das Freundschaftsspiel des 13. November 2015 noch frisch in den Köpfen. Deutsche und Franzosen standen sich auf dem Rasen des Stade de France von Saint-Denis gegenüber, als Terroristen sich vor dem Stadion in die Luft sprengten und im elften Arrondissement ein Blutbad anrichteten.
Jetzt nach dem Halbfinale der Euro 2016 mischte sich in die Freude über den sportlichen Erfolg entsprechend auch allenthalben ein großer Seufzer der Erleichterung. Das Spiel war auf dem Rasen und auf den Rängen in einer bemerkenswert respektvollen fair-play-Atmosphäre verlaufen, es hatte keinerlei Sicherheitsprobleme gegeben, und Frankreich hatte mit etwas Glück und einer geschlossenen Mannschaftsleistung einen scheinbar übermächtigen Gegner bezwungen. Wie man in Deutschland spätestens seit dem „Sommermärchen“ 2006 nur zu gut weiß, gibt es Augenblicke, in denen der Fußball symbolisch die Hoffnungen, Wunschbilder und ersehnten Selbstwahrnehmungen einer Nation verdichtet. Den „Blauen“ ist an diesem Abend gelungen, was der französischen Gesellschaft und der Fünften Republik in diesen Jahren fast unmöglich erscheint: einen Teufelskreis zu durchbrechen, sich von historisch gewachsenen Fesseln zu befreien, einen Neuanfang einzuläuten, und das alles, ohne dabei die eigenen Werte zu verleugnen. Natürlich ist das „nur“ Fußball, aber der Fußball ist wegen seiner immensen, oft überhöhten Symbolkraft eben auch oft eine für alle zugängliche, verständliche, greifbare Illustration des kollektiven Gefühlshaushalts einer Nation.
Argwohn, Misstrauen, Ignoranz, Gleichgültigkeit
Im Sommer 2016 ist der wechselseitige Blick auf den Fußball des Anderen so entspannt und gelassen wie er eigentlich nie zuvor seit der Aufnahme eines internationalen Spielbetriebs zu Beginn des 20. Jahrhunderts gewesen war. In einer von auftrumpfendem preußischen Nationalismus und französischen Revanchismus aufgeladenen Atmosphäre ging man sich sportlich zunächst tunlichst aus dem Weg. Bevor sich die beiden Nationalteams zum ersten Mal gegenüberstanden – im März 1931 in Paris – hatte Deutschland bereits 80 Länderspiele gegen 14 verschiedene Gegner absolviert, für Frankreich handelte es sich sogar schon das 115. Länderspiel und den 23. Gegner.
Angesichts der politischen Entwicklung der 30er Jahre blieben Argwohn und Misstrauen auch in der Folgezeit bestehen. Der Hitlergruß der deutschen Elf beim dritten Aufeinandertreffen im Parc des Princes 1935 oder der Name der Austragungsstätte des vierten Spiels – die „Adolf-Hitler-Kampfbahn“ in Stuttgart – zeigten, dass solche sportlichen Begegnungen nie ganz vom politischen Kontext getrennt gesehen werden können.
Das gilt auch für das fünfte Match, eine zaghafte Wiederaufnahme fußballerischer Beziehungen im Oktober 1952 in Paris. Man verzichtete beispielsweise auf das Abspielen der Hymnen vor dem Spiel und gab sich danach über die freundliche Atmosphäre im Stadion von Colombes erleichtert.
In den kommenden Jahrzehnten erlebte der deutsche Fußball einen erstaunlich nachhaltigen Höhenflug, vom vielbeschworenen „Wunder von Bern“ 1954, über die äußerst erfolgreiche Einführung der Bundesliga 1963 und die guten Leistungen der Clubs auf europäischer Bühne, bis hin zu drei Europameistertitel (1972, 1980, 1996) und den beiden weiteren WM-Triumphen 1974 und 1990. Über den Rhein schaute man nicht mehr, man war sich selbst genug. Eine ähnliche Ignoranz und Gleichgültigkeit gegenüber dem Fußball des Nachbarn setzte sich auch in Frankreich durch, was umso überraschender ist, als zahlreiche französische Top-Spieler in Diensten deutscher Vereine sich abmühten, um bei ihren Landsleuten für die deutsche Fußballkultur zu werben.
So spielte der Fußball, der durch seine grenzübergreifende Beliebtheit und Freiheit von Sprachbarrieren eigentlich zum populärkulturellen Mittler zwischen den Nationen bestens geeignet ist, in den Nachkriegsjahrzehnten nur eine ganz geringe Rolle im kulturellen Austausch zwischen Deutschland und Frankreich. Fremd- und Selbstbilder in der Fußballkultur blieben von althergebrachten Stereotypen geprägt. Indem französischen Fußballern zwar hohes technischen Können nachgesagt wurde, aber eben auch unnötige „Ballverliebtheit“ und ein Mangel an Einsatzwillen, Durchsetzungsvermögen oder Ausdauer, griff die Fußball-Literatur auf traditionelle Vorurteile der Oberflächlichkeit und Frivolität, Unzuverlässigkeit und Ineffizienz zurück.
Eine Geschichte der schrittweisen Europäisierung
Dies hat sich nun im Zuge einer schrittweisen Europäisierung des Fußballs seit den 90er Jahren geändert. Ereignisse wie die Einführung der Champions League (1992) oder das sogenannte Bosman-Urteil des EU-Gerichtshofs, das einen integrierten europäischen Arbeitsmarkt des Fußball herstellte (1995), aber auch der Nachhall des französischen WM-Triumphes 1998 hatten zur Folge, dass der Blick aller Akteure im Fußball immer mehr über die Landesgrenzen hinausging.
Insbesondere zwischen Frankreich und Deutschland kam es seit Beginn des neuen Jahrhunderts zu verstärktem Interesse für die Praktiken des Nachbarn und zu wechselseitiger Inspiration. Um dem sich abzeichnenden Niedergang des deutschen Fußballs entgegenzuwirken, richtete der Deutsche Fußball-Bund (DFB) ab dem Jahr 2000 sein neu eingerichtetes, flächendeckendes Ausbildungsnetzwerk an dem von der Fédération Française de Football (FFF) schon seit den 70er Jahren aufgebauten System aus. Auch für den Bau der neuen „DFB-Akademie“ in Frankfurt/Main diente das französische Leistungszentrum von Clairefontaine explizit als Vorbild. Sogar der von den französischen Medien jahrelang fälschlicherweise verwendete Begriff „La Mannschaft“ wurde vom Management der deutschen Nationalmannschaft mittlerweile als neues Markenzeichen aufgegriffen und kommerzialisiert.
Umgekehrt fand der französische Verband FFF Anregung beim deutschen Vorbild in der Nutzung von Infrastrukturen und Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit des Profifußballs, sowie insbesondere in der Entwicklung des Mädchen- und Frauenfußballs.
Heute besteht eine institutionalisierte Partnerschaft zwischen der FFF und dem DFB, mit regelmäßigen Besuchen und Erfahrungsaustausch. An der Basis gibt es Freundschaften zwischen Fanclubs, und die jeweilige Nationalmannschaft des Nachbarn erzielt Sympathiewerte, die in den 70er oder 80er Jahren kaum denkbar gewesen wären. Aus Misstrauen, Ignoranz und Gleichgültigkeit ist tatsächlich ein freundschaftliches Verhältnis erwachsen.
Dieser Artikel ist Teil unseres Dossiers zur Publikation "Frankreich und Deutschland - Bilder über den Nachbarn in Zeiten der Krise".