Die Bundesregierung gilt in Frankreich als Hauptschuldige dafür, dass sich die Wirtschaft im Euroraum nur schleppend erholt. Viele Französ/innen sehen deshalb eine politische Gemeinschaft mit Deutschland mit Skepsis.
In Frankreich wird Deutschland gegenwärtig sehr ambivalent wahrgenommen. Deutschlands wirtschaftliche Erfolge, vor allem in der Industrie und im Export, werden seit langem bewundert. Zumal es Frankreich nie gelungen ist, mit den Deutschen gleichzuziehen. Zugleich stellen die Franzosen und Französinnen besorgt fest, dass es den Deutschen nicht gut gelungen ist, in der Informations- und Kommunikationstechnik Fuß zu fassen.
Auch die deutsche Umweltpolitik wird in Frankreich beneidet, auch wenn ihr Erfolg in den französischen Debatten oft relativiert wird – etwa wenn die deutsche Automobillobby ihren Einfluß auf Kosten von Umweltstandards geltend macht oder der weiterhin massive Kohleverbrauch die Nachhaltigkeit des Atomausstiegs stark einschränkt. Die Mehrheit der Franzosen ist mittlerweile skeptisch, ob die Energiewende erfolgreich sein wird und Deutschland auf kurze Sicht sowohl auf die Atomkraft wie auf fossile Energien verzichten kann.
Aus Bewunderung wird Belustigung
Auch das politische System der Bundesrepublik wird von vielen Franzosen positiv wahrgenommen: Nicht nur aufgrund einer effektiven parlamentarischen Kontrolle und Stabilität, die das System hervorbringt, sondern auch wegen der Regierungen und vor allem auch der parteipolitischen Landschaft. Das französische System zeichnet sich dagegen durch häufige Regierungswechsel und eine Unbeständigkeit in den Parteispitzen aus. Die meisten Franzosen sehen den deutschen Föderalismus als das dem französischen Zentralismus überlegene an. Die Regionalisierungsbestrebungen Frankreichs sind dabei nur von teilweisem Erfolg gekrönt.
Weiterhin hat Frankreich Deutschland lange Zeit um sein Sozial- und Tarifsystem beneidet, dass sich vor allem durch seine Fähigkeit auszeichnet, Kompromisse zwischen den Beteiligten aus Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften schließen zu können. Die erheblichen Schäden, die durch die Agenda 2010 in Sachen Gleichheit und Sicherheit verursacht wurden, haben viel von dieser Bewunderung relativiert. Die Franzosen nehmen belustigt zur Kenntnis, dass Deutschland zur Behebung der Schäden, die durch die Politik von Gerhard Schröder entstanden sind, einige Kernelemente des "französischen Sozialmodells" umsetzt – etwa den gesetzlichen Mindestlohn oder die Ausdehnung der Tarifverträge in allen Unternehmen einer Branche durch den Staat.
Zurückhaltung dient als Feigenblatt für einen Merkantilismus ohne Prinzipien
Aber es ist vor allem die deutsche Europapolitik, die heute in Frankreich die meisten Fragen aufwirft. Nicht weil die Franzosen finden, dass Deutschland Europa zu sehr dominiere, sondern weil sie ganz im Gegenteil feststellen, dass Deutschland es immer noch ablehnt, eine Führungsrolle zu übernehmen. Diese sei jedoch angesichts des wirtschaftlichen und demografischen Gewichtes Deutschlands und seiner geografischen Lage zweifellos gegeben. In gewisser Weise verstehen die Franzosen die aus der deutschen Geschichte resultierende Zurückhaltung: Das letzte Mal, als Deutschland versucht hat eine europäische Führungsrolle auszuüben, hat das sehr schlechte Erinnerungen hinterlassen. Dennoch: Die Tatsache, dass die führenden deutschen Politiker lediglich an ihrer Verantwortung innerhalb der Union festhalten und dort deutsche Interessen wahrnehmen (und das oft irrtümlicherweise, aber das ist ein anderes Thema), ist derzeit eine der größten Ursachen für den Zerfall der Union.
In der Außenpolitik haben die Franzosen vorwiegend das Gefühl, dass der deutsche Pazifismus (aus historischen Gründen verständlicherweise sehr anerkannt) in Wirklichkeit nicht mehr als ein Feigenblatt für einen Merkantilismus ohne Prinzipien ist und vor allem darauf abzielt, ungehindert an jeden alles, einschließlich Waffen, verkaufen zu können. Die effektiven Kosten der europäischen Verteidigung gehen derweil zu Lasten der Franzosen und Briten. Die entschlossene Haltung von Angela Merkel im Ukraine-Konflikt bedeutete jedoch eine Kehrtwende: Deutschland schien endlich entschlossen, auch außenpolitisch Verantwortung zu übernehmen, selbst auf die Gefahr hin, die Geschäfte seiner Unternehmen zu opfern.
Schuldenabbau als Egoismus und Verantwortungslosigkeit wahrgenommen
Vor allem Deutschlands Wirtschaftspolitik wird in Frankreich als nationaler Egoismus und als kurzsichtig wahrgenommen – am Ende könnte dies für Europa (und am Ende auch für Deutschland) schwerwiegende Folgen haben. Die Haltung der deutschen Regierung während der Eurokrise erschien viele Französ/innen als Ausdruck eines unverantwortlichen Wunsches: nämlich dem, die Probleme nicht innerhalb der Eurozone regeln zu wollen. Die Tatsache, dass Angela Merkel am Ende immer ein Minimum notwendiger Kompromisse akzeptierte, damit die Eurozone nicht explodierte, wurde sicherlich geschätzt, aber die Bundesregierung gilt (zu Recht) in Frankreich weithin als Hauptschuldige für die langanhaltende Krise und die schleppende Erholung der Wirtschaft im Euroraum.
Die Franzosen verstehen insbesondere nicht, warum die deutsche Regierung an einem zutiefst irrationalen Ziel festhält: dem Schuldenabbau. Durch ihre Forderung nach übermäßiger Sparpolitik, deflationärer Geldpolitik und niedrigen Arbeitskosten wird die Euro-Zone permanent am Rande der Rezession und Deflation gehalten. In Wirklichkeit verhindert dies die Entschuldung privater und öffentlicher Akteure. Das - trotz ihrer offensichtlich verheerenden Auswirkungen - fast religiöse Festhalten der Regierung und auch der öffentlichen Meinung daran wird in Frankreich als Egoismus und Verantwortungslosigkeit wahrgenommen. Solange die deutsche Wirtschaft selbst nicht leidet, versperrt die deutsche Politik den Blick auf die immensen Probleme in Europa. Heute fragen sich viele Franzosen, ob es überhaupt möglich ist, eine politische Gemeinschaft mit Deutschland aufzubauen. Nicht zuletzt deshalb hat die Front National derzeit so großen Erfolg, auch wenn es dafür noch andere nationale Gründe gibt.
Dieser Artikel erschien in dem Dossier zur Publikation "Frankreich und Deutschland - Bilder über den Nachbarn in Zeiten der Krise".