Odile Benyahia-Kouider war noch Studentin an der École Supérieure de Journalisme in Lille, als sie eine Studienfahrt Richtung Köln unternahm. Es war November 1989, in Berlin fiel gerade die Mauer. Noch am selben Tag fuhr sie mit ihren Kommilitonen nach Berlin und erlebte hautnah den wichtigsten Tag der deutschen Geschichte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
Ein Wendepunkt für das Land, aber auch für ihre Karriere – Odile -Benyahia-Kouider war 2001 bis 2006 Korrespondentin in Berlin für die Tageszeitung Libération, dann Auslandskorrespondentin der Wochenzeitung Le Nouvel Observateur mit Schwerpunkt auf Wirtschaftsfragen und Deutschland. Seit Ende 2015 ist sie in der Redaktion des Canard enchaîné tätig. 2013 veröffentlichte sie das Buch „L’Allemagne paiera“ („Deutschland wird zahlen“, Fayard), für das sie den Prix du meilleur livre économique („Preis für das beste Wirtschaftsbuch“) erhielt. Im Interview mit Sébastien Vannier skizziert sie das Bild der Deutschen in den französischen Medien.
Was hat Sie an der deutschen Gesellschaft am meisten überrascht, als Sie 2001 nach Berlin kamen?
Zuallererst der Stellenwert der Frauen. Ich hätte nicht gedacht, dass sie in einem solchen Maße gezwungen sind, sich zwischen Familie und Beruf zu entscheiden. Ich wusste nur, dass es wenige Kitas gab und Mütter schwer wieder zurück in den Beruf fanden. Aber das System ist so kompliziert, dass ich es sicher gar nicht vollständig verstanden hätte, wenn ich nicht nach Deutschland gekommen wäre. Dann die Bedeutung der Nazizeit. Ich habe mich viel mit diesem Thema befasst und glaube, dass mir das geholfen hat, dieses Land zu begreifen. Mich beeindruckt, welche Anstrengungen Berlin unternimmt, um diese Vergangenheit gerade nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Und ich hatte das Glück, dass ich für Libération viel über die deutsche Kultur schreiben durfte. Ich erinnere mich zum Beispiel an „Halbe Treppe“ von Andreas Dresen – ich dachte, einen Bericht über einen solchen Film würde meine Redaktion niemals zulassen. Aber das Feuilleton hatte damals, 2002, einen ziemlich avantgardistischen Einschlag, so dass man Themen bringen konnte, die sonst keiner machte.
Zur Bedeutung der Nazizeit in Deutschland haben Sie im Juli 2013 beim Nouvel Observateur ein Dossier herausgegeben. Es trug den Titel „Hitler und die Deutschen – 1933 Wie er sie verführt hat – 2013 Wie er sie weiter quält“. Glauben Sie, dass die Deutschen darin auch ein Klischee sehen?
Das muss ich etwas genauer einordnen. Dieses Dossier sollte eigentlich im Januar 2013 erscheinen, anlässlich Hitlers Machtergreifung vor achtzig Jahren. Durch die Verschiebung auf Juli war dieser historische Bezug nicht mehr ganz so deutlich. In diesem Dossier geht es um Orte des Gedenkens an den Nationalsozialismus, unter anderem in München, wo man sich bis dahin geweigert hatte, vorhandene Quellen auszustellen. Das muss man allerdings nicht unbedingt negativ sehen: Es gibt in Deutschland sehr viele Gedenkstätten, es wird nichts unter den Tisch gekehrt. Außerdem berichte ich nur darüber, was gerade in Deutschland passiert, wo es beispielsweise die ersten Touristenführer zum Thema Berlin unter dem Nationalsozialismus gab. Der Spiegel bringt Hitler regelmäßig auf der Titelseite, bei uns war es das erste Mal seit acht Jahren.
Was ist Ihr Eindruck, seit Sie nach Frankreich zurückgekehrt sind: Welches Bild hat die französische Presse von Deutschland?
Ich glaube, das verläuft in gewissen Wellen. Als ich 2006 wieder nach Paris ging, war das Interesse an Angela Merkel sehr groß, weil sie gerade ins Amt gewählt worden war, eine Frau, noch dazu aus Ostdeutschland. Heute ist sie allgegenwärtig und man kommt kaum mehr umhin, ein Foto von Merkel zu verwenden, wenn man einen Artikel über Deutschland illustrieren möchte. Ganz allgemein hat das Interesse an Deutschland unter Sarkozy wieder zugenommen, der das deutsche Modell in die Diskussion gebracht hat. Außerdem kennen inzwischen viele Franzosen Berlin sehr gut, wodurch sich das Interesse am Land weiter gesteigert hat. Vor den französischen Präsidentschaftswahlen ist immer eine gewisse Germanophobie zu beobachten, da wird Deutschland für innenpolitische Zwecke missbraucht.
Aus journalistischer Sicht war es lange Zeit so, dass ich alle Freiheiten hatte und schreiben konnte, was ich wollte. Seit zwei Jahren allerdings sehe ich am linken Rand des politischen Spektrums eine neue Welle von Deutschenfeindlichkeit aufbranden. Daran ist Jean-Luc Mélenchon vom Parti de Gauche, der sich mit seinen kritischen Bemerkungen zu Merkel und zu den Deutschen gerne als die Stimme der Linken gibt, nicht ganz unschuldig. Ich habe das Gefühl, wer sich für Deutschland auch nur interessiert, der wird sofort rechts eingeordnet, auch wenn er sich gar nicht positiv geäußert hat. Diese Atmosphäre hemmt mich bei meiner täglichen Arbeit und auch intellektuell. Ich finde es sehr einfach, ja sogar gefährlich, wenn man schlicht darüber hinwegsieht, dass Deutschland derzeit von einer großen Koalition regiert wird, oder wenn man gleich die gesamte Bevölkerung mit der Regierung gleichsetzt.
Den Deutschen haften so einige Klischees an: Sie sind pünktlich, diszipliniert, umweltbewusst usw. Was machen Sie als Journalistin mit solchen Klischees – bedienen, vermeiden, widerlegen?
Ich glaube, es geht nicht darum, sich mit diesen Klischees zu beschäftigen, sondern man muss die deutsche Gesellschaft beschreiben, wie sie ist, und dabei die Vorurteile, die wir Franzosen über sie haben, möglichst außen vor lassen.
Haben sich nicht alle gerade deswegen auf den Volkswagen-Skandal gestürzt, weil er dem Bild des umweltbewussten Deutschen zuwiderläuft, das in diesem Land so gern gepflegt wird?
Ich glaube, das war vor allem ein so großes Thema, weil jeder Volkswagen kennt. Beim Korruptionsskandal bei Siemens war das Interesse viel geringer. Aber wenn es um Autos geht, hat jeder etwas dazu zu sagen. Gut – dass die Deutschen als sehr umweltbewusst gelten, hat die Aufmerksamkeit sicher noch gesteigert. Was mich aber am meisten schockiert, ist, dass Volkswagen gelogen und betrogen hat. Und das steht in der Tat im Gegensatz dazu, wie Deutschland seinen Nachbarn gegenüber auftritt, zum Beispiel bei der Schuldenkrise, in der Deutschland den Griechen vorgeworfen hat, über ihren Schuldenstand gelogen zu haben.
Um bei den Klischees zu bleiben: Die französische Wochenzeitung Marianne hat im Juli 2015 zum Thema Griechenland Angela Merkel mit Pickelhaube auf der Titelseite abgebildet. Die Schlagzeile lautete „Ein Abkommen? Nein, ein Diktat“. Was sagen Sie zu dieser Darstellung?
Diese Art von Rhetorik kommt vom linken Rand. Der Vergleich Merkel/Bismarck stammt von Arnaud Montebourg, dem damaligen Wirtschaftsminister. Ich halte das für eine politische Instrumentalisierung. Damit kommen sie dreißig Jahre zu spät, die Debatte ist längst gegessen. Für mich geht es vielmehr darum, sich Angela Merkels Politik genau anzusehen und sie zu diskutieren. Merkel mit Pickelhaube oder andere Übertreibungen, wie man sie etwa in Mélenchons Buch „Le hareng de Bismarck“ („Der Bismarckhering“) hat lesen müssen, scheinen mir eher symptomatisch für die Probleme derer, die sich solcher Mittel bedienen.
Gibt es umgekehrt Klischees, die die deutsche Presse benutzt, um Frankreich zu beschreiben, und die Sie schockiert oder entrüstet haben?
Wie in Frankreich sind es auch dort die Übertreibungen, an denen ich mich störe. Ich erinnere mich an einen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über die Liebschaften des französischen Präsidenten, der sich wie einst Ludwig XIV. seinen eigenen Hof halte. In gewisser Hinsicht stimmt das sogar, obwohl die Affären von François Hollande und Dominique Strauss-Kahn Ausnahmen darstellen und auch mit den französischen Medien zu tun haben, die immer mehr darauf aus sind, das Privatleben öffentlicher Personen auszustellen. Aber es ist ja nun nicht so, dass Helmut Kohl oder Gerhard Schröder frei von solchen Geschichten gewesen wären. Und es gibt auch in Deutschland genügend Beispiele für eine zu große Nähe zwischen Politikern und Journalisten.
Desgleichen habe ich Schwierigkeiten mit Berichten, wie sie etwa der Spiegel gebracht hat, der die Goldverzierungen und die antiquierte Ausstattung des Élysée-Palasts thematisierte. Natürlich kann man darüber reden, aber es geht zu weit zu behaupten, dass dies eine bestimmte Form des politischen Denkens zur Folge habe. Jeder darf das System der Fünften Republik kritisieren, das Problem ist aber nicht dieses Gebäude. Ich erinnere mich auch an einige aggressive Artikel in Deutschland, als François Hollande das Rentenalter für Menschen mit sehr frühem Berufseinstieg auf 60 Jahre herabgesetzt hat. Mein Eindruck war, dass in der Kritik völlig übersehen wurde, dass dies nur bestimmte Berufsgruppen betraf und dass die Franzosen im Durchschnitt viel früher zu arbeiten beginnen als die Deutschen. Ironie der Geschichte: Kurz darauf hat Deutschland ebenfalls beschlossen, das Rentenalter für diese Berufe zu senken.
Übersetzung: Frank Sievers
Dieser Artikel erschien in dem Dossier zur Publikation "Frankreich und Deutschland - Bilder über den Nachbarn in Zeiten der Krise".