„Liberté, égalité, sexualité“ steht auf der Rückseite des Buchs „Unter – Galliern“ von Sascha Lehnartz. Von 2008 bis 2014 war er Korrespondent der Tageszeitung Die Welt in Paris. In der Zentralredaktion in Berlin leitet er heute das Auslandsressort des Blattes. Sébastien Vennier hat mit Lehnartz über Klischees, deutsch-französische Perspektiven und mediale Narrative gesprochen.
Nach diesen sechs Jahren in Frankreich, wo Sie von innen die französische Gesellschaft analysiert haben – wie hat sich Ihr Blick auf Frankreich geändert, und wie beeinflusst diese Erfahrung Ihre Arbeit heute?
Man ist immer Anwalt der jeweils anderen Seite. In Frankreich verbringt man relativ viel Zeit damit, Deutschland zu erklären. Und in Deutschland verbringt man relativ viel Zeit damit, Frankreich zu erklären. Es gibt viele Dinge, die ich erst in Frankreich verstanden habe. Dass die Wirtschaft anders organisiert ist zum Beispiel. Es gibt eine andere Tradition von sozialer Partnerschaft als hier, wo es eher dialogisch zwischen Arbeitnehmer und Gewerkschaft gelöst wird. In Frankreich ist es aus historischen Gründen viel schwieriger. Um zuzuspitzen, es wird erst gestreikt, oder der Chef wird festgehalten. Es wird symbolisch die Revolution nachgespielt. Und eigentlich wird eine Enthauptung des Chefs, symbolisch, auch nachgespielt. So was gibt es in Deutschland nicht. Oder noch nicht. Um solche Situationen zu verstehen, muss man erst mal da sein. Das ist das Ritual der gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Das ist codiert. Aus diesem Code können die Teilnehmer nicht raus. Auch wenn sie das anders wünschen, wenn Sie zum Beispiel das modèle allemand wünschen. Aber das „deutsche Modell“ kann in Frankreich nicht funktionieren, weil die Tradition dort anders ist.
Wie ist es möglich, einen solchen „Code“ zu entziffern? Wie kann das Publikum die richtigen Erklärungen bekommen, ohne in Klischees zu verfallen?
Die Sisyphus-Arbeit des Korrespondenten besteht darin, dass er die ganze Zeit nichts anderes macht als zu versuchen, Klischees zu dekonstruieren – mit dem Erfolg, dass die Gesellschaft, über die er schreibt, sich sogleich bemüht, diese Klischees wieder zu bestätigen. Ich habe die ganze Zeit nichts anderes gemacht als zu erzählen: „Nein, in Frankreich ist es nicht mehr so, dass der König permanent eine Mätresse hat.“ Und eine Woche später habe ich wieder so eine Geschichte an der Backe. Man versucht differenziert, nuanciert über ein Land zu berichten und ständig passieren Dinge, die – ob Sie es wollen oder nicht – diese Klischees auf eine bestimmte Art und Weise fortschreiben. In meiner Zeit als Korrespondent habe ich angefangen mit der Trennung von Nicolas Sarkozy und seiner Frau Cécilia, dann der Beginn der Beziehung mit Carla Bruni, und mit der SMS „Si tu reviens, j’annule tout“, „Wenn du zurückkommst, sage ich alles ab.“ Ich habe die Strauss-Kahn-Affäre erlebt und dann noch den Präsidenten auf seinem Motorroller. Nach einer solchen Zeit wird es schwierig zu behaupten, dass Sex und Politik in Frankreich kein großes Thema sei.
Klischees, das sind auch diese Bilder, die immer wieder benutzt werden: einerseits die Baskenmütze, das bérêt basque und die Ente von Citroën, die deux chevaux. Beide Motive haben Sie auf dem Cover Ihres Buches durchgesetzt. Auf der anderen Seite sieht man ab und zu in französischen Zeitschriften die Pickelhaube in Zusammenhang mit Deutschland. Welche Rolle spielen solche Bilder?
Was die Klischees über Frankreich angeht, entspricht es einer bestimmten romantischen Vorstellung. Es ist eine einfache Ikonografie, an der Sie nicht vorbei können, wenn Sie in Deutschland ein Buch wie „Unter Galliern“ für das breite Publikum veröffentlichen wollen. Natürlich sieht man fast nichts mehr davon in Frankreich. Aber was wichtig ist, ist der Marketingaspekt. Es kommt nicht von ungefähr, dass auch in französischen Zeitungen oder bei französischen Politikern auf bestimmte Tasten gedrückt wird. Wenn Begriffe wie „Bismarck“ oder „impérialisme allemand“ benutzt werden, ist es klar, dass es emotional etwas auflöst. Es ruft einen gewissen „soupçon“ hervor, mehr einen Argwohn als ein richtiges Misstrauen. Nach dem Motto: Die Deutschen sind schon ganz nett, viel besser als früher, aber „il faut se méfier“ – man muss ihnen misstrauen. Aus Deutschland nach Frankreich ist der Blick eher romantisierend: von „savoir-vivre“ bis auf „sie kriegen es nicht auf die Reihe“.
Kann sich ein deutscher Journalist erlauben, sich über die Franzosen lustig zu machen?
Das ist schwer, aber es hängt vom Humorverständnis der Rezipienten ab. Ich habe schon Kommentare oder Briefe bekommen, dass meine Texte arrogant oder herablassend seien, obwohl ich sie eher liebevoll fand. In Frankreich ist es wichtig, zuerst zu sagen, dass alles großartig ist. Erst wenn man diese Grundlage beherrscht, darf man Witze machen. Bemerkenswert ist jedoch, dass die Weltmeister im French-Bashing eigentlich die Franzosen selbst sind. Es gibt kein anderes Land, in dem es so viele Bücher in dieser Richtung gibt: über „le déclin“, „le suicide“ oder „la soumission“ (Niedergang, Selbstmord, Unterwerfung). Diese ganzen Themen kommen von links wie von rechts. So etwas dürften Deutsche natürlich nicht schreiben.
Ist die Frankreich-Berichterstattung der deutschen Redaktionen nicht meist von Pessimismus geprägt?
Nicht immer. Man ist jedoch stark abhängig von den Ereignissen und von den Daten. Und die harten Daten sind bei der französischen Wirtschaftsentwicklung schlecht oder stagnierend. Aus diesem Narrativ gibt es seit 2005 oder 2007 kein Entkommen. Auf der diplomatischen Ebene können positive Punkte gefunden werden, zum Beispiel die Tatsache, dass Frankreich sich mehr engagiert als Deutschland. In diesem Bereich gibt es Respekt gegenüber Frankreich. Die Erfolge sind sonst eher klein. Als Korrespondent versucht man Geschichten zu schreiben über Erfolge auf anderen Ebenen, wie die französische Start-ups zum Beispiel. Wenn man das nicht macht, hat man den Eindruck, dass in Frankreich alles eine Katastrophe ist. Gegen dieses Bild muss man arbeiten. Es ist zwar ein Land mit einer relativ hohen Verschuldung und mit einer relativ hohen Arbeitslosigkeit, aber wir reden von einem hochentwickelten Land mit Spitzenleistungen. Dieses Land ist keine Wüste geworden, nur weil es Deutschland gerade besser geht. Wir dürfen nicht vergessen: der „homme malade de l’Europe“, der Kranke Mann -Europas, vor 15 Jahren – das waren wir, die Deutschen.
Erhalten Frankreichthemen in der Auslandsberichterstattung genügend Platz?
Es ist von Zeitung zu Zeitung unterschiedlich. Einige berichten umfassend über Nachbarländer wie Frankreich. Bei uns gibt es Themen, die wir nicht mehr machen, weil wir wissen, dass es die Leserinnen und Leser nicht interessiert, z. B. ein Parteitag der Sozialisten. Es ist schwierig, die Leser für eine Situation zu interessieren, die anscheinend stagniert. Das heißt jedoch nicht, dass sich in der Realität nichts verändert. Seit zehn Jahren gibt es viele Diskussionen über die Notwendigkeit von Reformen, aber ohne dass sie umgesetzt werden. In der Realität gibt es ein tatsächlich ein Reformprogramm. Aber es ist so komplex, dass es sehr schwer ist, dem deutschen Leser so etwas wie den „crédit d’impôt“ zu erklären, die Steuergutschrift. In den Details interessiert es niemanden. Aber nichts würde besser funktionieren als ein Artikel mit der Überschrift: „Hollande gelingt der große Wurf! Radikales Reformprogramm!“. Das würde Publikumsinteresse hervorrufen. Es passiert jedoch leider nicht. Es ist natürlich interessanter in Zeiten der Polarisierung: Sarkozy gegen Hollande. Oder wenn es Figuren sind, die etwas bewegen, auch innerhalb ihrer Parteien: Wirtschaftsminister Arnaud Montebourg und sein Nachfolger, Emmanuel Macron, zum Beispiel. Auch Marine Le Pen ist zweifellos eine polarisierende Figur.
In unserer Redaktion stellt niemand die deutsch-französische Freundschaft infrage. Wenn das Verhältnis indirekt diskutiert wird, fürchten beim Brexit einige, dass wir – grob zusammengefasst – „alleine mit den Franzosen“ bleiben. Einige denken, dass unsere pragmatische liberale Mentalität der britischen ähnlicher ist. Viele Intellektuelle fühlen sich Frankreich näher, aber die Wirtschaftskreise schauen eher Richtung England oder Skandinavien. Es wird also gefragt, ob wir vielleicht raus aus dem „commémoratif“ können, dem Gedenken, der Tradition, und einen ganz neuen Impuls für die Freundschaft zwischen Frankreich und Deutschland erreichen könnten.
Dieser Artikel ist Teil unseres Dossiers zur Publikation "Frankreich und Deutschland - Bilder über den Nachbarn in Zeiten der Krise".