Sind die Grünen kompatibel mit Angela Merkel? Ralf Fücks, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, spricht im Interview über Koalitionen mit der CDU, den Erfolg der AfD und die Arbeit der Stiftung in den letzten zwanzig Jahren.
Green European Journal: Immer mehr Leute aus linksliberalen, links-alternativen Kreisen (auch Wähler der Grünen) sagen, sie überlegen dieses Mal für die CDU zu stimmen – schrieb die ZEIT im November. Warum ist Angela Merkel so beliebt in diesen Kreisen?
Ralf Fücks: Seit der Entscheidung der Kanzlerin, die deutschen Grenzen für die in Ungarn feststeckenden Flüchtlinge zu öffnen, gibt es eine veränderte Wahrnehmung im grünen und linksliberalen Milieu. Vielen gilt Angela Merkel inzwischen als Hüterin demokratischer Werte und pragmatischer Vernunft in Europa. In einer Zeit, in der es politisch drunter und drüber geht, ist Stabilität ein relevanter politischer Faktor.
Vor dem Hintergrund der Wahl von Donald Trump, dem Aufstieg rechtspopulistischer Parteien in Europa und einer Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen in Frankreich ist Merkel zu einer politischen Zentralfigur geworden, die auch von vielen Sympathisanten aus dem grünen Milieu respektiert wird. Dazu kommt, dass auch in anderen Fragen wie der Energiepolitik oder der Familienpolitik die Union unter Merkel deutlich in die Mitte gerückt ist.
Wenn es um Russland und die Ukraine geht, gibt es sogar mehr Rückhalt für Merkels Politik bei der Mehrheit der Grünen-Anhänger als im CDU-Milieu. Die stärkste Unterstützung für eine kritische Haltung gegenüber der russischen Politik findet sich im grünen Spektrum.
Aus all diesen Gründen werden die Grünen sich hüten, einen Anti-Merkel Wahlkampf zu führen. Wenn sie das tun würden, müssten sie mit Abwanderung von Wähler/innen aus dem eigenen Lager rechnen.
Aber wenn die Grünen Merkel unterstützen, kann das auch zu einer Abwanderung nach links führen…
Die Grünen werden weder einen „Merkel muss weg“ noch einen „Merkel muss Kanzlerin bleiben“ – Wahlkampf führen, sondern ihre Eigenständigkeit betonen. Am Ende läuft es auf die Frage hinaus: Welche Alternative gibt es zu Merkel? Die Grünen werden sich vor der Wahl nicht auf eine konkrete Koalition festlegen, weder auf Schwarz-Grün noch auf eine Linksregierung. Sozial- und steuerpolitisch gibt es mehr Gemeinsamkeiten mit der SPD, aber das gilt schon nicht mehr für die Energiepolitik und erst recht nicht für die internationale Arena.
Wir erleben gerade eine tiefe Krise des Westens. Es ist fraglich, ob Amerika unter Präsident Trump noch für die transatlantischen Werte steht. Auch das Projekt der europäischen Einigung steht auf der Kippe. Wir sind konfrontiert mit selbstbewusst auftretenden autoritären Regimes wie China, Iran und Russland und zugleich mit einer antiliberalen Revolte im Inneren. Das ist eine völlig neue politische Konstellation. Ob eine Linkskoalition in Deutschland die geeignete Antwort auf diese Herausforderungen ist, daran zweifeln viele. Wer glaubt, dass man jetzt denselben Wahlkampf führen könnte wie vor vier Jahren, wird eine böse Überraschung erleben.
Merkel hat in ihrer Amtszeit sehr viele Themen von den Grünen übernommen, zum Beispiel die Energiewende oder die „Willkommenskultur“ gegenüber Flüchtlingen. Schwächt sie damit die Grünen, indem sie ihre Themen enteignet?
Wir sollten das selbstbewusst als Erfolg grüner Politik werten: In den letzten zwanzig Jahren haben wir viele Themen vom Rand ins Zentrum der politischen Debatte katapultiert. Das gilt für den Atomausstieg und die Energiewende, für die Gleichstellungspolitik und die Rechte sexueller Minderheiten, für eine weltoffenere Einwanderungspolitik und das Konzept der Bürgerbeteiligung und der demokratischen Partizipation von unten. Die politische Kultur der Bundesrepublik hat sich in den letzten dreißig Jahren stark verändert, und die Grünen waren eine treibende Kraft dieser Veränderungen.
Es hat den Grünen nicht geschadet, dass viele dieser Themen jetzt „mainstream“ geworden sind, im Gegenteil. Wir sind in eine neue Rolle hineingewachsen. Darin liegt jetzt die Herausforderung: aus dem politischen Zentrum heraus die Politik der Bundesrepublik zu prägen. Wir regieren in 11 von 16 Bundesländern, und zwar in unterschiedlichen Koalitionen, von Schwarz-Grün bis Rot-Rot-Grün. Die deutschen Grünen sind faktisch längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen – obwohl wir uns oft noch als Oppositionspartei am Rand fühlen.
Die Zeit ist reif dafür, dass die Grünen auf Augenhöhe mit den Sozialdemokraten und den Christdemokraten um die politische Führung der Bundesrepublik kämpfen. Davor scheuen viele aber noch zurück. Sie kultivieren lieber das Selbstgefühl einer radikalen Minderheit. Dabei zeigt das Beispiel von Winfried Kretschmann, dem grünen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, dass Grüne in der Lage sind, neue gesellschaftliche Allianzen zu bilden, die weit über das grüne Kernmilieu hinausgehen. Dafür braucht es allerdings auch das entsprechende Personal und eine andere politische Sprache.
Sollen wir uns also auf eine Koalition zwischen den Grünen und der CDU vorbereiten?
Wenn nach der Bundestagswahl im Herbst eine schwarz-grüne Koalition rechnerisch möglich ist, wird darüber auch ernsthaft verhandelt werden. Und falls das die einzige Alternative zur Fortsetzung der Großen Koalition sein sollte, wird es auch großen Druck aus der Öffentlichkeit geben, diesen Weg zu gehen. Eigentlich sind alle der Großen Koalition überdrüssig, einschließlich CDU und SPD.
Schwarz-Grün wäre ein Symbol für den Brückenschlag von Ökologie und Ökonomie. Ein Bündnis für ökologische Modernisierung – das wäre für mich auch der Kern einer solchen Koalition. Die zweite Hauptaufgabe besteht in der Verteidigung der liberalen Demokratie. Anhand dieser beiden Kriterien muss entschieden werden, ob Schwarz-Grün möglich ist. Gegenwärtig sehe ich keine unüberbrückbaren Differenzen, die das ausschließen würden.
Und was sollten wir mit einigen eher antiliberalen Tendenzen innerhalb der CDU anfangen? Angela Merkel hat sich zum Beispiel für ein Burka-Verbot ausgesprochen, und innerhalb der CDU gibt es auch Leute die sich gerne der AfD (Alternative für Deutschland) annähern würden.
Das halte ich für irreal. Auf absehbare Zeit wird es keine Koalitionen zwischen AfD und Union geben. Die spezielle Frage eines Verbots der Vollverschleierung in öffentlichen Institutionen wird auch unter liberalen Demokraten und Feministinnen kontrovers diskutiert – siehe die Debatte in Frankreich. Man kann mit guten Gründen argumentieren, dass die Burka kein Ausdruck der Religionsfreiheit ist, sondern ein Symbol für die Entpersönlichung von Frauen, die in der Öffentlichkeit unsichtbar gemacht werden sollen. Das verstößt gegen die Gebote der Menschenwürde und der Gleichberechtigung.
Wir müssen uns fragen, ob wir bereit sind, diese Prinzipien im Namen kultureller Toleranz zu relativieren. Ich bin gegen die Preisgabe universeller demokratischer Werte unter dem Deckmantel multikultureller Vielfalt. Für eine liberale Einwanderungspolitik wird man nur dann Akzeptanz finden, wenn man bereit ist, die demokratischen Grundwerte entschieden zu vertreten.
Außerdem geht es nicht darum, dass man Merkel und die CDU jetzt rundum gut findet. Koalitionen sind keine Liebesheirat, sondern Zweckbündnisse, die danach entschieden müssen, ob es genügend Gemeinsamkeiten in Kernfragen gibt. Und die Kernfragen, um die es jetzt geht sind die ökologische Transformation der Industriegesellschaft und die Verteidigung der liberalen Demokratie.
In der gegenwärtigen politischen Großwetterlage muss man die demokratische Mitte gegen die Extreme stärken. Deshalb ist es nicht abwegig, über eine Koalition mit den Christdemokraten nachzudenken, die unter Merkel zunehmend in die Mitte gerückt sind.
Wie kann man die derzeitige Popularität der AfD erklären? Wieso gibt es nach den Jahrzehnten der Immunität in Deutschland jetzt eine so starke populistische und fremdenfeindliche Partei?
Die Bundesrepublik ist keine Insel, die abgeschottet wäre von Entwicklungen, die wir in ganz Europa sehen. Es gibt auch in Deutschland relevante Gruppen, denen die ganze Richtung nicht passt. Sie laufen Sturm gegen Feminismus und die Gleichstellung von Homosexuellen, gegen die zunehmende kulturelle und religiöse Vielfalt unserer Gesellschaften; sie betrachten die EU als Bedrohung nationaler Souveränität, fürchten sich vor sozialem Abstieg und sehen sich als Verlierer der Globalisierung.
Alle diese Motive der antiliberalen Revolte gibt es auch in Deutschland, allerdings immer noch in einem geringeren Ausmaß als in vielen anderen Ländern: die AfD erreicht längst nicht die Stärke wie der Front National, die FPÖ oder die rechtspopulistischen Parteien in Skandinavien.
Die Bundesrepublik ist wegen ihrer wirtschaftlichen Prosperität und der Leistungsfähigkeit ihres Sozialstaats immer noch eine relativ stabile Gesellschaft. Es macht einen großen Unterschied, ob ein Land eine rechtspopulistische, zu Teilen rechtsradikale Partei mit 15 Prozent Unterstützung hat oder eine mit 30 Prozent. Ich hoffe, dass wir die AfD auf eine Größenordnung begrenzen können, die nicht zum Kippen des politischen Klimas führt, wie das etwa in Frankreich der Fall ist, wo Marine Le Pen den öffentlichen Diskurs bestimmt.
Brexit und der Wahlerfolg von Donald Trump haben Medien, Kommentatoren, Meinungsforscher und auch Politiker überrascht. Kann Deutschland eine ähnliche Überraschung erleben?
Wir sind alle vorsichtig geworden, politische Entwicklungen vorauszusagen. Aber ich denke immer noch, dass das demokratische Immunsystem stark genug ist, einen Durchbruch der AfD zu verhindern. Das hängt auch davon ab, ob die demokratischen Parteien vermitteln können, dass sie den Schuss gehört haben. Wir können nicht im alten Stil weitermachen, sondern müssen die Frage sozialer Teilhabe ernsthaft angehen und die Sorgen vor einer schrankenlosen globalen Konkurrenz ernst nehmen.
Demokratische Politik muss für elementare Sicherheit in Zeiten stürmischer Veränderung sorgen. Wir leben in einer Periode fundamentaler Veränderungen, die gleichzeitig und mit hoher Geschwindigkeit ablaufen: die Globalisierung der Ökonomie, die digitale Revolution, die massenhafte Zuwanderung von Menschen aus anderen Kontinenten, der demografische Wandel, dazu die Verlagerung politischer Entscheidungen auf supranationale Institutionen. All das summiert sich zu einem Megastress für unsere Gesellschaften – vor allem für Menschen, die mit diesen Veränderungen nicht souverän umgehen können, sondern sich ihnen ausgeliefert fühlen. Das Stichwort „Kontrollverlust” spielte eine große Rolle sowohl in der Brexit-Kampagne wie im Wahlkampf von Trump.
Die demokratischen Kräfte können nicht versprechen, dass wir unsere Gesellschaften gegen die großen Veränderungen unserer Zeit abschirmen könnten. Aber wir müssen Vorkehrungen dafür treffen, dass relevante Teile der Gesellschaft sich nicht schutzlos ausgeliefert fühlen. Dafür braucht es eine krisenfeste soziale Grundsicherung, vor allem aber die Befähigung von Menschen durch Bildung, um selbstbewusst mit dem sozialen und wirtschaftlichen Wandel umgehen zu können.
Man kann in dieser Situation zwei Fehler machen: einerseits den Populisten nachzulaufen und ihren Diskurs zu übernehmen, und andererseits stur zu ignorieren, woher diese Proteststimmung kommt. Das betrifft auch die Flüchtlingspolitik: Man kann der Bevölkerung nicht im Ernst sagen, dass die Frage, wie viele und welche Menschen zu uns kommen, nicht demokratisch verhandelt werden könnte – als ließe das humanitäre Völkerrecht keinen Spielraum für politische Steuerung. Eine Politik der offenen Grenzen ist genauso irreal wie eine Politik der Abschottung. Die massenhafte Zuwanderung von Fremden berührt die Kernfrage, welchen Weg wir als Gesellschaft gehen wollen und was wir uns zutrauen. Dieser Debatte müssen wir uns stellen.
Was wird der Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt in Dezember für die progressiven, linksliberalen und grünen Kräften Deutschlands bedeuten?
Die wichtigste Lektion des Berliner Anschlags ist folgende: Wir dürfen die Frage der inneren Sicherheit nicht den Rechten überlassen. Auch die Befürworter einer liberalen Flüchtlings- und Einwanderungspolitik müssen sich damit auseinandersetzen, wie wir mit Mehrfach-Straftätern und gewaltbereiten Islamisten umgehen. Ein Generalverdacht gegen muslimische Flüchtlinge ist ebenso falsch wie der laxe Umgang mit Leuten, die tatsächlich eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellen. Wer das Asylrecht verteidigen will, muss gegen seinen Missbrauch vorgehen.
Welche Rolle kann eine politische Stiftung wie die Heinrich Böll Stiftung spielen, wenn es darum geht eine öffentliche Debatte über diese Themen zu führen und antidemokratische Kräfte wie die AfD zu begrenzen?
Unsere Möglichkeiten, den harten Kern der Anhängerschaft der AfD zu überzeugen, sind sehr begrenzt. Diese Leute haben in der Regel ein geschlossenes Weltbild, das durch Argumente nicht zu erschüttern ist. Wir müssen versuchen, vor allem diejenigen zu erreichen, die mit der Lage der Dinge nicht einverstanden sind, ohne rassistischen und antidemokratischen Positionen zu huldigen.
In Zeiten großer Verunsicherung muss die Stiftung ein Ort für ernsthafte politische Debatten sein – ein Forum, in dem unterschiedliche Stimmen zu Wort kommen und eine Zukunftswerkstatt, in der an politischen Alternativen gearbeitet wird. Die Böll-Stiftung ist ein internationales Netzwerk in einer Zeit, in der wir unbedingt an einer demokratischen Internationale arbeiten müssen – einem Bündnis demokratischer Kräften in ganz Europa und darüber hinaus.
Wie sehen sie ihre Jahre als Vorstand der Heinrich Böll Stiftung?
Es waren zwanzig stürmische und erfolgreiche Jahre. Wir haben 1996 mit einer Handvoll Leute begonnen, die Stiftung komplett neu aufzubauen. Inzwischen sind wir international eine zentrale Adresse für Ökologie und Menschenrechte. Wir betreiben 33 Büros rund um den Globus mit einem großen Netzwerk von Partnerinnen und Partnern. Parallel haben wir unsere gesellschaftliche Reichweite enorm vergrößert: Wir arbeiten heute mit einem großen Spektrum zwischen Attac und den Spitzenverbänden der Wirtschaft. Nicht zuletzt sind wir einer der spannendsten Orte für politische Debatten.
Das ist die Erfolgsgeschichte. Dennoch sind wir jetzt in vielen Ländern in die Defensive geraten, und vieles von dem, was wir seit der großen Demokratisierungswelle von 1989/90 schon fast für selbstverständlich gehalten haben, steht heute in Frage. Wir sind wieder in einer Situation, in der man auch in Europa für die demokratischen Prinzipien kämpfen muss.
Dennoch bin ich zuversichtlich, dass Brexit, Trump und auch Aleppo nicht das letzte Wort waren. Die Rückschläge des letzten Jahres sind ein Signal, dass wir wieder stärker um unsere Werte kämpfen müssen. Ich glaube nach wie vor an die Kraft der liberalen Demokratie und an die Chancen einer grünen industriellen Revolution. Wir brauchen eine neue Idee von Fortschritt – eine positive Erzählung, die wir gegen die zunehmende Furcht und den Zukunftspessimismus setzen. Dafür wird die Stiftung auch künftig ein wichtiger Ort sein.
Das Interview wurde zuerst im Green European Journal veröffentlicht.