Frankreichs Linke schaufelt weiter an ihrem Grab: Statt ihren Präsidentschaftskandidaten zu unterstützen, lassen sie Benoît Hamon im Stich. Immer mehr prominente Sozialisten laufen zum parteilosen Rivalen Emmanuel Macron über.
Eigentlich wollte Benoît Hamon dem Zerfall der linken Partei ein Ende setzen. Mit überraschenden 59 Prozent haben ihm die Sozialisten auch den Weg geebnet und ihn gegen den parteiinternen Konkurrenten Manuel Valls als Präsidentschaftskandidat gekürt. Als Hoffnungsträger und Erneuer der Linken wurde der proeuropäische und vor allem beim linken Flügel beliebte Politiker zunächst gefeiert. Doch die Befürchtungen, dass Hamon die Partei noch tiefer spalten könnte als sie ohnehin schon ist, bewahrheiten sich früher als erwartet. Prominente Parteivertreter lassen den Präsidentschaftskandidaten nun im Stich. Hamon-Anhänger reden von Verrat.
Es ist nicht das erste Mal, dass die französischen Sozialisten sich über die Ausrichtung ihrer Partei streiten. Doch diesmal könnten ihre Querelen das endgültige Aus der Parti Socialiste (PS) bedeuten, denn immer mehr Sozialisten verlassen das aus ihrer Sicht sinkende Schiff. Während zunächst nur vereinzelnd Vertreter der PS zum parteilosen Emmanuel Macron übergelaufen sind, darunter der Lyoner Bürgermeister Gérard Collomb sowie dessen ehemaliger Pariser Amtskollege Bertrand Delanoë, planen nun immer mehr Sozialisten aus dem rechten Flügel der Partei ihrem Kandidaten den Rücken zu kehren.
Die Frage ist nicht mehr, ob sie sich von Hamon abwenden, sondern wie - geschlossen in einer Gruppe oder einzeln. Laut der französischen Tageszeitung «Le Figaro» wollen die sogenannten Realos in einem Gastbeitrag zu einem gemeinsamen Ausstieg aufrufen. Die Sozialisten kämpften nicht mehr um das höchste Staatsamt, sondern um die Leichen auf dem Schlachtfeld, warnten bereits einige Kommentatoren. Innerhalb des sozialistischen Lagers scheint es mehr um die Aufstellung nach den Wahlen zu gehen als um einen Wahlsieg – dieser wird von vielen schon abgeschrieben.
Hamon-Anhänger reden von Verrat
Aurélie Filippetti, Ex-Kulturministerin und Sprecherin von Hamon, hat den Zulauf der Sozialisten als Verrat bezeichnet, denn die Wähler des linken Lagers hätten in der Urwahl massiv für Hamon gestimmt. Das Argument, Macron hätte bessere Chancen um gegen die Rechtspopulistin Marine Le Pen zu gewinnen, sei eine große Heuchelei, warf sie ihnen vor. Laut jüngsten Umfragen liegen der Politstar und die FN-Chefin in der ersten Wahlrunde am 23. April fast gleich auf. Hamon hingegen fällt gegenwärtig zurück.
Hamon gehörte als Bildungsminister den «Frondeurs» an, den Rebellen, die gegen die Sozial- und Wirtschaftspolitik der Regierung unter dem ausscheidenden Staatschef François Hollande aufbegehrten, weshalb der 49-Jährige nach nur wenigen Monaten wieder ausschied. Er steht für einen deutlichen Linkskurs, wobei er allerdings erstmals in der Geschichte der Sozialisten ein klar sozial-ökologisches Reformprogramm vertritt.
Er fordert den Ausstieg aus der Atomenergie und ein Investitionsprogramm für eine Energiewende in ganz Europa. Damit hat er den Präsidentschaftskandidat der Grünen, Yannik Jadot, ins Boot geholt, der auf seine Kandidatur verzichtet hat. Seit 1974 ist somit die Umweltpartei erstmals bei einer Präsidentschaftswahl nicht dabei. Dieses urgrüne Programm mit einem ambitionierten Atomausstiegs-Plan hat allerdings auch in besonderer Weise den rechten Flügel der sozialitischen Partei verprellt. Diese hatten nach dem Sieg von Hamon gefordert, dieser solle nun programmatisch auf sie zugehen.
Das lehnte Hamon ab, da mit der Urwahl-Entscheidung für seine Person und Programm eine klare Absage an die bisherige Regierungslinie Hollande/Valls verbunden war.Viele haben mit dem Sieg Hamons auf einen Neuanfang der PS gesetzt. Vor allem hoffte man, die Jugend wieder zu gewinnen. Aus Protest gegen das umstrittene Arbeitsgesetz der PS, das unter anderem den Schutz des Arbeitnehmers auflockert, hatte Frankreichs Jugend in Form der Widerstandsbewegung «Nuit debout» wochenlang für Aufsehen gesorgt.
Realos sehen in Hamon einen Utopisten
Der Realo-Flügel steht für eine gewisse Kontinuität der pragmatisch-sozialdemokratischen Politik Hollandes. Sie halten Hamon unter anderem wegen seiner Forderung eines universellen Grundeinkommens und einer Arbeitszeitverkürzung von 32 Stunden pro Woche für einen «Träumer» und «Utopisten». Für sie scheint sein Kurs unvertretbar und unwählbar zu sein, auch wenn Hamon mittlerweile seinen Vorschlag eines universellen Grundeinkommens abgeändert hat. Statt ursprünglich 750 Euro soll es noch 600 Euro geben und das auch nicht mehr uneingeschränkt für alle. Das zeigt, dass Hamons Positionen durchaus verhandelbar sind.
Frankreichs Linke war traditionell in mehrere Strömungen unterteilt, gleich ob als Opposition oder Regierungspartei. Sie ist 1969 unter anderem aus der stark antikommunistischen SFIO entstanden, der französischen Sektion der Arbeiter-Internationale. Unter François Mitterrand gelangte die PS 1981 erstmals an die Macht. Er hatte es erstmals geschafft, die verschiedenen linken Parteien hinter sich zu vereinen. 1983 vollzog die Partei einen Kurswechsel: Sie wandte sich von ihrer sozialistischen Wirtschaftspolitik ab und einer pragmatisch-sozialdemokratischen Linie zu. Die PS stand seit dem Ende der Ära Mitterrand schön öfter am Rande einer Implosion. Ihre Zerrissenheit kurz vor den Wahlen könnte diesmal jedoch das Ende der «mitterandistischen» PS bedeuten.
Auch Macron vertrat als Wirtschaftsminister unter Hollande - auf ihn geht das umstrittene Arbeitsmarktgesetz zurück - die sozialliberale Linie der Sozialisten, bevor er aus der Regierung austrat und sich mit seiner Bewegung «En marche» (In Bewegung) als unabhängiger Kandidat outete. Heute steht der 39-Jährige nach seinen Worten «weder links noch rechts» und beansprucht den Platz in der Mitte. Dass nun die Abtrünnigen der PS Zuflucht bei ihm suchen, könnte eher ein Danaergeschenk sein. Der Zustrom von Politikern, die dem Kurs von Hollande nahe stehen, könnte durchaus Macrons Spitzenstellung gefährden. Denn Macron will alles sein, nur kein Ersatz für Hollande, der so unbeliebt war, dass er auf eine Wiederwahl verzichtet hat.
Noch ist offen, inwieweit es Macron wirklich gelingen wird, das Zentrum zu besetzen oder letztlich doch als Kandidat des linken Spektrums wahrgenommen zu werden. Innerhalb der Sozialisten warten auch viele ab, wie Benoit Hamon bei den Wahlen abschneiden wird – um dann auch möglicherweise wieder einen Kurswechsel gegen ihn einleiten zu können. In ersten Konturen zeichnet sich eine Neustrukturierung des Parteiensystems im linken Spektrum um drei neue Pole ab: Einen eher sozial-liberalen, zentrumsorientierten Pol um Emmanuel Macron, einen sozial-ökologischen Pol um Benoît Hamon und grüne Kräfte, die beide auch proeuropäisch ausgerichtet sind, sowie einen anti-europäischen, klassisch linken Pol um den Chef der Linkspartei, Jean-Luc Melenchon. Der Ausgang der Präsidentschaftswahlen wird diese Neustrukturierung entscheidend prägen.