Nach den Parlamentswahlen: Neustart und Renaissance der V. Republik à la de Gaulle

Analyse

Nach dem ersten Durchgang der Parlamentswahlen in Frankreich zeichnet sich ab, dass Emmanuel Macron mit einer in der V. Republik seit den Zeiten de Gaulles noch nicht dagewesenen Machtfülle wird regieren und sein Programm umsetzen können. Die etablierten politischen Kräfte sind zerfleddert bis vollständig demontiert – daran wird auch der finale, zweite Wahlgang nichts mehr ändern. In Frankreich beginnt eine neue politische Epoche, ermöglicht durch die angestaubten Institutionen der V. Republik.

Palais Bourbon
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Sitz der Französischen Nationalversammlung: Palais Bourbon, Paris

Der Begründer der V. Republik, die von Mythen umwehte Heroen-Gestalt des Generals de Gaulle, würde sich erstaunt die Augen reiben und beeindruckt zurücklehnen: Sein Amtsnachfolger ist gerade ganz in der Tradition des Generals dabei, alle Macht im Élysée zu konzentrieren. Ohne dafür in einem Weltkrieg für die Befreiung des eigenen Landes gefochten zu haben und ohne eine Algerien-Krise, die Ende der fünfziger Jahre drohte, Frankreich in einen Bürgerkrieg zu stürzen – und zur Rückkehr de Gaulles auf die politische Bühne und der Entstehung der V. Republik in ihrer jetzigen Form führte.

Die Ergebnisse des ersten Wahlgangs in Frankreich sprechen dafür, dass die Bewegung des jüngsten Präsidenten in der Nachkriegsgeschichte bei den Parlamentswahlen eine überwältigende Mehrheit von 415 bis 455 Sitzen von 577 Sitzen in der neuen Nationalversammlung bekommen könnte. Mit 32,32 Prozent liegt „La République En Marche!“ an der Spitze. Dank des französischen Mehrheitswahlrechtes in zwei Durchgängen sowie der geschwächten und gespaltenen Konkurrenz könnte die Bewegung des Präsidenten, die in 449 von 577 Wahlkreisen die Spitzenposition errungen hat, über 80 Prozent der Parlamentssitze erreichen beim finalen Durchgang am kommenden Sonntag.

Hollandes linke Mehrheit komplett versenkt – Grüne fallen zurück in die „Steinzeit“

Die französische Presse beschreibt die gegenwärtige Position abwechselnd als „Erdbeben“, „Flutwelle“ oder sogar „Tsunami“. Die bisherige politische Landschaft wird komplett umgepflügt, die vor fünf Jahren noch linke Mehrheit von Präsident François Hollande von Sozialisten, Kommunisten und Grüne ist bis zur Unkenntlichkeit zerrieben und in die Bedeutungslosigkeit versenkt worden.

Die Sozialisten erzielen gerade noch einmal 9,51 Prozent landesweit, die Grünen für ihre Verhältnisse durchaus noch beachtliche 4,3 Prozent. Allerdings hat nur ein Kandidat der französischen Grünen, Eric Alauzet, im Wahlkreis Doubs in der Stadt Besancon eine realistische Chance, in das neue Parlament zu kommen – weil die Präsidentenbewegung „La République En Marche!“ (LREM, Die Republik in Bewegung) hier keinen eigenen Kandidaten aufgestellt hat. Mit insgesamt 459 Kandidatinnen und Kandidaten war Europe Écologie-Les Verts vor Ort angetreten, in 49 Wahlkreisen wurden diese offiziell auch von den Sozialisten unterstützt, wenn auch teilweise halbherzig und zum Teil doch auch mit Gegenkandidaten, in 15 Wahlkreisen von den Kommunisten. Der Löwenanteil dieser Kandidatinnen und Kandidaten wurde nun bereits im ersten Wahlgang dezimiert, auch die bekannteste unter ihnen, Cécile Duflot, im eigentlich mehrheitlich linksalternativen 10. und 20. Arrondissement im Nordosten von Paris.

2012 hatten die Grünen noch 5,46 im ersten und 3,60 Prozent im zweiten Wahlgang erzielt – und konnten dank eines umfangreichen Abkommens mit den Sozialisten mit 16 Abgeordneten in das Parlament einziehen und erstmals eine Fraktion bilden. Diese gibt es schon seit der Spaltung der Grünen im Jahr 2016 nicht mehr, jetzt ist eine Vertretung der Grünen im Parlament wohl Geschichte. Die Zeitung Le Monde sieht die französischen Grünen nun „zurückgeworfen in die Steinzeit“. 

Macron voraussichtlich ohne nennenswerte Opposition – FN fällt auf Niveau von 2012 zurück

Die Vertreterinnen und Vertreter des neuen Präsidenten vor Ort profitierten nicht nur von dessen Erfolgswelle, sondern auch von der Schwäche und der Spaltung im linken Spektrum. Die Sozialisten dürften insgesamt nur noch auf 20 bis 30 Abgeordnete kommen.

Die konservativen Republikaner waren selbstbewusst mit dem Wahlziel angetreten, die Mehrheit im Parlament gegen den neuen Präsidenten erringen zu können und diesem eine Cohabitation, eine Zusammenarbeit, aufzwingen zu können mit einer konservativen Regierung. Sie wurden nun kräftig dezimiert, sie erreichen nur noch 21,56 Prozent gegenüber 37,95 Prozent vor fünf Jahren und werden im neuen Parlament voraussichtlich nur noch zwischen 70 bis 110 Sitze bekommen. Nur mühsam und in vielen Wahlkreisen auch ohne Erfolg konnten die unterschiedlichen Clans der Sarkozy-, Fillon- und auch Juppé-Unterstützer im Wahlkampf zusammengehalten werden. Viele zentrumsorientierte Konservative könnten im neuem Parlament jetzt  versucht sein, doch lieber zur präsidentiellen Mehrheit zu wechseln.

Aber auch die selbsternannten neuen Oppositionskräfte gegenüber einer Präsidentschaft Macrons werden nicht in der Lage sein, diesem das Leben auch nur annähernd schwer machen zu können. Jean-Luc Mélenchon ist weit entfernt von den 19,58 Prozent und über 7 Millionen Wählerinnen und Wählern, die beim ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen für ihn gestimmt hatten. Seine Bewegung „La France Insoumise“, „Das unbeugsame Frankreich“, kommt gerade einmal auf 13,74 Prozent in der ersten Runde der Parlamentswahlen, mit der Chance auf 8 bis 18 Abgeordnete. Jean-Luc Mélenchon dürfte in dem von ihm als sicher geltenden und deshalb ausgewählten Wahlkreis im Zentrum von Marseille gewählt werden, für eine eigene Fraktion bräuchte er aber mindestens 15 Abgeordnete im Parlament.

Unmöglich dürft das für Marine Le Pen werden, die mit 13,2 Prozent um Längen hinter den 33,90 Prozent und den über 10 Millionen Wählerinnen und Wählern liegt, die in der Finalrunde der Präsidentschaftswahlen für die FN-Chefin gestimmt hatten. Sie selbst liegt zwar in Führung in ihrem Wahlkreis rund um die Stadt Hénin-Baumont im Nordosten Frankreichs, allerdings könnte sie allein bleiben oder noch maximal bis zu vier weitere Mitstreiter bekommen in der Assemblée Nationale, so zumindest die Projektionen für die zweiten Runde auf der Basis der Wahlergebnisse vom vergangenen Sonntag.

Damit ist der FN nun auf das Niveau von 2012 zurückgefallen. Dieser so weitgehende Rückschlag ist eines der bemerkenswerten Ergebnisse dieser Wahl, nach dem scheinbar unaufhaltsamen Siegeszug von Marine Le Pen in den letzten Jahren bis hin zum Einzug in die zweite Runde der Präsidentschaftswahl. Auch die politische Themensetzung und Debatte war in der jüngeren Vergangenheit weitgehend vom FN bestimmt worden und ein Einzug der FN-Chefin in den Élysée-Palast galt als nicht ausgeschlossen. Seit der so klaren Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen, die insbesondere auch auf das von Marine Le Pen gänzlich verpatzte TV-Duell sowie den Positionierungen des FN zu einem Euro-Ausstieg zurückgeführt wurden, machte die Partei aber nur noch mit Konflikten und internen Richtungsstreitigkeit von sich reden. Gegenüber den FN-Kandidaten in der zweiten Runde werden sich andere politische Kräfte jeweils vor Ort zusammenschließen, da bleiben nur geringe Chancen auf Parlamentssitze. Damit wird dem FN ein weiterer Schlag versetzt, der die internen Streitigkeiten noch steigern und den Führungsanspruch von Marine Le Pen gefährden wird.   

Vier Faktoren für den Siegeszug von Macron

Mit einer so überwältigenden Mehrheit für den neuen Präsidenten hatte niemand gerechnet; vielmehr waren die meisten Beobachter/innen davon ausgegangen, dass Emmanuel Macron zunächst ohne eigene Mehrheit in seine Präsidentschaft starten müsste. Immerhin war er im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen mit gerade einmal 24,01 Prozent vorne gelegen – und seine anschließende Wahl zum Präsidenten Frankreichs am 7. Mai war vor allem ein klares Votum gegen Marine Le Pen. Wie konnte es in gerade einmal fünf Wochen zu solch einem Wechsel in der Stimmungslage und sogar Tsunami in Frankreich kommen? Es waren offenkundig vor allem vier Faktoren, die diesen Stimmungswechsel bewirkten: 

  1. Seit der Reduzierung der Amtszeit des Präsidenten auf fünf Jahre im Jahr 2002 und der zeitlich sehr nahen Zusammenlegung der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen gilt es als „goldene Regel“ in Frankreich, dass die Französinnen und Franzosen dem frisch gewählten Staats- und Regierungschef eine Mehrheit verschaffen. Auch diesmal gab es eine sehr weit verbreitete Stimmung, dem neuen Präsidenten nun „eine Chance zu geben“. Diese Dynamik in der Logik der Konzeption der V. Republik wirkte zugunsten von Emmanuel Macron und seiner Bewegung.

     
  2. Der fulminante Start des neuen Präsidenten, der insbesondere mit seinen Auftritten auf internationalem Parkett punkten konnte. Er nutzte die Möglichkeiten des Amtes und seiner Position, um mit seinen Botschaften und den bei den internationalen Treffen mit Trump bis Putin produzierten Bildern die mediale Agenda zu dominieren. Gemeinsam mit der neuen Regierung gab er Themen, Takt und Ton der Berichterstattung vor und beherrschte diese komplett im Parlamentswahlkampf, auch mit Coups wie der Reaktion auf die Ankündigung von US-Präsident Trump, aus dem Klima-Abkommen aussteigen zu wollen.



    Obwohl das Thema Klimaschutz eine große Leerstelle im Wahlkampf von Emmanuel Macron war, musste er seine Mutation zum engagierten Klimaschützer noch nicht mit konkreter Regierungspolitik unterlegen – oder wurde mit deren Ergebnissen konfrontiert. Eine erklärte und reflektierte Strategie von Emmanuel Macron ist es, dem Amt des gewählten Monarchen in Frankreich wieder Würde, Stolz und Größe zurückzugegeben. Durch die Amtszeiten von Nicolas Sarkozy und François Hollande sei das Amt beschädigt worden, so die Ausgangsanalyse. Mit Charme, viel Geschick und jugendlicher Dynamik kombiniert, zeigte er sich der Größe und der Würde dieses Amtes gewachsen. Das funktionierte zumindest in der Anfangszeit offenkundig in wirkungsvoller Weise.

     
  3. Mit seiner zunächst nur für die Zeit des Wahlkampfes installierten Regierung setzte Emmanuel Macron erfolgreich zwei Kernelemente seiner Strategie fort, die bereits seinen Wahlkampf geprägt hatten: Erfolgreich besetzte er politisch das Zentrum, in dem er Vertreter der zentrumsorientierten Konservativen in die Regierung holte, genauso wie bekannte Sozialisten und als große Überraschung auch den profilierten und beliebten Umweltschützer Nicolas Hulot. Mit vielen neuen und unbekannten Gesichtern, die bisher auch nicht in der Politik tätig waren, unterstrich er seinen Anspruch einer Erneuerung der politischen Klasse.



    Die in einer so heterogen mit unterschiedlichsten politischen Ausrichtungen zusammengesetzten Regierungsmannschaft angelegten Konflikte in Kernfragen zeigten sich in diesen ersten paar Wochen naturgemäß noch nicht. Selbst die Affäre um Günstlingswirtschaft um den engen Vertrauten von Emmanuel Macron und Mitbegründer seiner Bewegung „En Marche!“, Richard Ferrand, Minister für Wohnungsbau und Stadtentwicklung in der neuen Regierung, konnte dieser Dynamik nicht schaden – obwohl sie im Kontrast zu viel versprochenen neuen „Moralisierung der Politik“ steht. Vielmehr landete Richard Ferrand in seinem Wahlkreis ganz im Osten der Bretagne, im Finistère, an der Spitze und wird dort offenkundig sein Abgeordnetenmandat verteidigen können. Mit dieser Strategie einer „Großen Koalition“ innerhalb der eigenen Bewegung konnte Emmanuel Macron offensichtlich rechts wie links der politischen Mitte punkten.

     
  4. Wie schon im Präsidentschaftswahlkampf profierten der 39-Jährige und seine Vertreterinnen und Vertreter vor Ort von der großen Schwäche der politischen Konkurrenz. Bei den Sozialisten, die 2012 immerhin noch 40,91 Prozent und 285 Sitze erzielt hatten, ging die Operation nach einer Urwahl mit einem stark sozial-ökologisch ausgerichteten Kandidaten Benoît Hamon einen Neustart zu versuchen, gründlich schief. Auch weil dessen Positionierung von großen Teilen der Sozialisten nicht mitgetragen wurde – und dessen Programm für die Parlamentswahl dann schnell wieder beerdigt wurde. Dass Benoît Hamon und die mit ihm verbundenen Sozialisten und Grüne daraufhin nicht versuchten, mit einer eigenen, neuen Kraft anzutreten, erweist sich nun als Fehler. Zwar wollen er und Mitstreiter wie Cécile Duflot offenbar daran festhalten, am 1. Juli eine solche neue Kraft zu gründen –  diese wäre aber zu fünf Jahren außerparlamentarischer Opposition verdammt oder könnte höchstens eine handvoll Abgeordnete für sich gewinnen.



    Hausgemacht durch strategische Fehlentscheidungen ist das schlechte Abschneiden von Jean-Luc Mélenchons Bewegung. Dieser hatte die Dynamik seines Präsidentschaftswahlkampfes bereits verspielt durch sein Verhalten, vor der finalen Runde nicht zu einer Wahl von Emmanuel Macron gegen Le Pen aufrufen zu wollen. Sich damit als erste Oppositionskraft gegen Macron positionieren zu wollen, ging gründlich schief. Offenkundig geblendet vom eigenen Erfolg, setzte Mélenchon für die Parlamentswahlen strickt darauf, überall in Frankreich im Alleingang anzutreten, und verweigerte sich jeder Form von Bündnissen mit Kommunisten, Grünen oder auch linksorientierten Sozialisten, untersagte diese sogar vor Ort. Dadurch kam es zu einer großen Zersplitterung im linken Spektrum. Kombiniert mit den von Macron vor allem mit seiner Regierungsbildung erzielten Spaltungen im konservativen Lager konnten die Kandidatinnen und Kandidaten von „La République En Marche!“ im Wortsinne durchmarschieren – und haben nun auch für den entscheidenden zweiten Wahlgang am 18. Juni alle Trümpfe in der Hand.  

Nicht mehr viel dürfte schief gehen für einen abschließenden triumphalen Erfolg des neuen Präsidenten am kommenden Sonntag. Ein Risiko stellt für ihn allerdings die historisch niedrige Wahlbeteiligung dar: 51,29 Prozent der Wahlberechtigten blieben diesmal den Wahlurnen fern, das gab es in diesem Umfang noch nie in der V. Republik, die höchste Wahlenthaltung gab es bislang im Jahr 2012 mit 42,78 Prozent. Offenkundig hat der sich so klar abzeichnende Sieg von Macron bei den Parlamentswahlen eher demobilisierend als mobilisierend gewirkt für mögliche Oppositionskräfte, da die Machtfrage mit der Präsidentenwahl schon als entschieden galt. Diese hohe Enthaltung führt dazu, dass letztlich nur 15,39 Prozent der Wahlberechtigen für die Präsidenten-Partei gestimmt haben – wie die Zeitung Le Monde auf ihrer Titelseite nach der Wahl unterstrich. 

Eine Machtfülle wie noch nie in der V. Republik für den neuen Präsidenten

Trotzdem spricht nun alles dafür, dass Emmanuel Macron ab Anfang nächster Woche mit einer Machtfülle ausgestattet sein wird wie noch kein Präsident vor ihm in der V. Republik. Dem Kandidat der Erneuerung und eines frischen Aufbruchs in Frankreich nutzt dabei in besonderer Weise die Logik des Merheitswahlrechtes in der V. Republik. Würde wie in Deutschland das Verhältniswahlrecht gelten, käme seine Bewegung LREM gerade einmal auf 197 Sitze – und würde die absolute Mehrheit verfehlen. Er wäre dann auf Koalitionsbildungen mit anderen politischen Kräften, vor allem den Konservativen angewiesen. Das wird aufgrund des französischen Wahlrechtes nicht nötig sein.

Hinzu kommt, dass der Hausherr im Elysée-Palast und sein Premierminister zumindest für die Anfangszeit mit einer handzahmen Regierungsfraktion rechnen können. Über die Hälfte werden Politikneulinge sein, die andere Hälfte besteht aus erfahrenen ehemaligen Sozialisten, auch einigen Grünen, manchen Konservativen und Abgeordneten der Zentrumspartei MoDem. Ausgewählt wurden die Kandidatinnen und Kandidaten von einer kleinen Kommission aus einem Kreis von 19.000 Bewerberinnen und Bewerbern, die per Online-Antrag ihren Hut in den Ring geworfen hatten. Alle Kandidatinnen und Kandidatin sind in erster Linie dem Präsidenten und der LREM-Spitze verpflichtet, nicht einem selbstbewussten Kreis- oder Ortsverband vor Ort oder auch wichtigen gesellschaftlichen Kräften in ihrem Wahlkreis. Auf den Plakaten der Präsidentenbewegung ist auch allerorten Emmanuel Macron neben dem oder der Kandidaten bzw. Kandidaten zu sehen, in gleicher Größe. Das beschert dem neuen Präsidenten eine so noch nicht dagewesene Machtfülle, er kann nun erst einmal vollständig durchregieren und seine Vorstellungen in der Europapolitik oder auch seine Reformen auf dem Arbeitsmarkt oder im Rentensystem umsetzen. 

Erklärtes Ziel de Gaulles mit der Konzeption der V. Republik und der Installation eines republikanischen Monarchen war es, die Macht eines direkt gewählten Präsidenten gegenüber Parteien und Parlament deutlich auszuweiten und stärken. Eine Erneuerung von weiten Teilen der politischen Klasse ist damit absehbar mit einer so noch nicht dagewesenen Renaissance der angestaubten Grundprinzipien der V. Republik verbunden. Selbst bei Anhängern von „La République En Marche!“ macht man sich vor diesem Hintergrund schon sorgen, dass die Opposition im Parlament zu sehr reduziert sein und sich damit umso stärker auf die Straße verlagern könnte. Vor allem wird es angesichts der sich so klar abzeichnenden Mehrheit jetzt darauf ankommen, dass am nächsten Sonntag überhaupt noch Menschen zur Wahl gehen – die Rekord-Enthaltung vom ersten Wahlgang ist dafür kein gutes Omen.

Emmanuel Macron selbst hatte in einem seiner grundsätzlichen, politisch-philosophischen Essay in der Zeitschrift „Esprit“ im Jahr 2011 unterstrichen, wie wichtig die öffentliche Debatte sei, um politische Entscheidungen mit anderen Richtungen, Orientierungen und Realitäten zu konfrontieren und entsprechend anzupassen. Es wird spannend sein zu sehen, wie der neue Élysée-Bewohner nun mit dieser Erkenntnis umgehen wird.

 

Am kommenden Sonntag findet der zweite Durchgang der Parlamentswahlen in Frankreich statt. Unser Büro in Paris begleitet die aktuellen Entwicklungen auf dem Blog "Marianne vor der Wahl".