Nach der Parlamentswahl in Frankreich steht dem neuen Staatspräsident eine starke parlamentarische Mehrheit zur Verfügung. Jetzt heißt es Farbe bekennen. Nicht nur Emmanuel Macron muss schnell politische Erfolge liefern, auch Deutschland steht in der Pflicht.
Der Wahlmarathon in Frankreich endet mit einer Rekordwahl. Mit über 60 Prozent der Wählerstimmen bzw. 350 der insgesamt 577 Parlamentssitze kann sich neue Staatspräsident Frankreichs auf eine absolute präsidentielle Mehrheit stützen. Damit verfügt der über den parlamentarischen Rückhalt, den er braucht, um seine Reformversprechen umzusetzen.
Eine Rekordwahl für Erneuerung
Trotz dieses Rekordergebnisses fällt die Mehrheit nicht so eklatant aus, wie es nach dem ersten Wahlgang möglich gewesen wäre. Von einer echten Zwei-Drittel Mehrheit war die Rede. Dies könnte für die Handlungsfähigkeit der Exekutive von Vorteil sein. Zum einen, weil eine nicht ganz so erdrückende Mehrheit der Abstimmungsdisziplin zuträglich sein wird. Zum anderen, weil es so noch so etwas wie eine parlamentarische Opposition gibt und sich der Protest – so die Hoffnung – nicht zu stark auf die Straße verlagern wird, die in Frankreich traditionell stark ist und viel Blockademacht besitzt.
Dies mag nicht über die Rekordniederlagen hinwegtäuschen. Die größte Oppositionsfraktion bildet die konservative Partei Les Républicains (112 Sitze) neben der jämmerlich auf 30 Sitze gestutzten sozialistischen Partei (in einer Fraktion mit Bündnispartnern 46 Sitze) und dem linken Wahlbündnis aus der Parti Communiste Française und der France Insoumise von Mélenchon (zusammen 27 Sitze). Der rechtsextreme Front National wird mit seinen acht Abgeordneten dagegen keine Fraktion bilden können (die Marke liegt bei 15 Sitzen). Ohne Fraktionsstatus wird die parlamentarische Oppositionsarbeit der Rechtsextremen Marine Le Pen in der ohnehin mit geringen Minderheitenrechten ausgestatteten Assemblée Nationale zu leiden haben.
Die Parlamentswahl war auch eine Umwälzung des politischen Systems der V. Republik: ein Newcomer als Staatspräsident, der mit einer neu gegründeten Bewegung die Macht aus dem Stand eroberte. 75 Prozent der gewählten Abgeordneten sind neu im Parlament, die alte Parteigarde wurde abgewählt und durch neue, vielfach weibliche Gesichter ersetzt (auch ein Rekord: 38 Prozent sind Frauen). Macron verspricht eine Demokratisierung des politischen Lebens in Frankreich.
Dieses Versprechen sollte er bei der Machtkonzentration auf sein Amt sehr ernst nehmen. Um so mehr, als ein weiterer Rekord, eine Wahlenthaltung von über 57 Prozent, nicht nur Skepsis gegenüber Macron selbst, sondern auch gegenüber der Politik generell zum Ausdruck brachte. Macron muss diese Wahlverweigerer, vor allem auch die Jungwähler/innen, von denen sogar drei Viertel (75 Prozent) den Wahlurnen fern blieben, fest im Blick haben, um reüssieren zu können.
Der Erfolgsdruck ist groß
Die Franzosen und Französinnen, gerade jene, die Macron ihre Stimme gaben, sehnen sich danach, dass der neue Präsident mit seiner Regierung und Parlamentsmehrheit rasch Erfolge erzielt; dass er zeigen wird, dass Politik noch handlungsfähig ist und die Lebensbedingungen der Menschen verbessern kann. Gerade in den kleinen Städten mit bis zu 20.000 Einwohner/innen, aber auch in den mittleren mit bis zu 100.000 Einwohner/innen hat Macrons Partei im ersten Wahlgang die meisten Stimmen erhalten (im Durchschnitt mehr als 40 Prozent).
Viele setzen hier auf Macron und legen Hoffnung in ihn, dass er sich um die maroden Schulen, den öffentlichen Transport und Ausbildungsplätze kümmert. Der Präsident hat bereits angekündigt, dass er einige Reformvorhaben, darunter die Reform der Arbeitsrechts sofort angehen wird, schon im Sommer, teilweise durch präsidentielle Dekrete. Das Parlament wird ihm dafür eine Bemächtigung erteilen.
Arbeitslosigkeit ist Gradmesser des politischen Erfolgs
Der Abbau der Arbeitslosigkeit wird der Gradmesser sein, an dem sich Macrons Präsidentschaft messen muss. Die Arbeitslosigkeit liegt in Frankreich bei 10 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit bei über 25 Prozent. Die wichtigste Maßnahme für den Arbeitsmarkt betrifft das Arbeitsrecht. Macron will es lockern. Die Sozialpartner sollen künftig in den Betrieben eigenständig über Arbeitszeit, Vergütung und Entschädigungen verhandeln dürfen.
Die höhere Flexibilität für die Unternehmen soll zu mehr Einstellungen gerade bei jungen aber auch bei älteren Arbeitnehmer/innen führen. Zudem plant die neue Regierung die Arbeitslosenversicherung für Freiberufler/innen und Selbständige zu öffnen, gleichzeitig sollen Arbeitssuchende stärker in die Pflicht genommen werden. Zudem plant der Präsident das staatliche Rentensystem zu vereinheitlichen und berufsständische Privilegien zu streichen.
Die Konjunktur, die in Europa schon seit einigen Monaten im Aufwind ist, wird der Regierungspolitik zunächst Fahrt geben könnten. Doch das wird nicht reichen. Die Herausforderungen sind enorm. Nicht nur gegenüber den Franzosen auch gegenüber der EU und insbesondere Deutschland will und muss sich der neue Präsident beweisen. Im Herbst nach der Bundestagswahl soll die neue deutsche Regierung keinen Zweifel mehr am Reformwillen in Paris haben.
Macron hat versprochen, die Drei-Prozent-Marke der jährlichen Neuverschuldung einzuhalten, auf die sich alle Mitgliedstaaten der Eurozone verpflichtet haben. Damit will er seine Glaubwürdigkeit unter Beweis stellen. Wie er Neuverschuldung vermeiden und wo er kürzen will, ist noch unklar. Die Krux wird sein, wie es dem neuen Präsidenten gelingen wird, europäische Stabilitätsziele und innerfranzösischen Reformen und Konjunkturmaßnahmen miteinander in Einklang zu bringen.
„Macromania“ in Europa
Der verhaltenen Hoffnung und Skepsis in Frankreich steht der Jubel in Europa gegenüber. Es gibt viel Grund zum Jubeln. Nicht nur weil Macron das Unglaubliche geschafft und das Horrorszenario mit Le Pen verhindert hat, sondern auch weil der junge, pro-europäische und wirtschaftsliberale Macron selbst Grund zur Hoffnung gibt.
Alle Freude sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich vor allem in wirtschaftspolitischer Hinsicht das Programm von Macron vom bisherigen Kurs der Bundesregierung in Kernpunkten unterscheidet. Mögliche Konfliktfelder zeichnen sich bereits ab.
Ein starkes Europa und eine starke deutsch-französische Partnerschaft
Macrons Denken ist durchdrungen von der Idee einer deutsch-französischen Schicksalsgemeinschaft für Europa. Das Wiedererstarken des deutsch-französischen Motors in der EU ist für ihn notwendige Voraussetzung, um drängende Reformen voranzubringen. Vor dem französischen Präsidenten und der nächsten Regierung in Berlin liegen voraussichtlich vier gemeinsame Regierungsjahre. Macron will sie angesichts der Entfremdung vom amerikanischen Präsidenten und des Brexit-Votums für eine vertiefte Zusammenarbeit in der EU nutzen.
Das war sein wichtigstes Versprechen während des Wahlkampfes, bei dem seine Anhänger zuhauf Europafahnen schwenkten. Emmanuel Macron spricht sich für ein starkes Europa aus, das in Sicherheitsfragen, Klimafragen und den internationalen Beziehungen eine starke Rolle einnimmt.
In Bezug auf die europäische Wirtschaftspolitik setzt sich Macron für eine Stärkung des Euro als Gemeinschaftswährung ein. Um dies zu erreichen, forderte er ein Budget für die Eurozone, mit dem Zukunftsinvestitionen sowie finanzielle Nothilfen für Krisenländer ermöglicht werden sollen. Ein Wirtschafts- und Finanzminister für die Eurozone soll – unter der Kontrolle eines neu zu schaffenden Eurozonen-Parlaments – über das Budget verfügen und die wirtschaftspolitische Koordinierung zwischen den Ländern der Eurozone verbessern. Auch eine gemeinsame Aufnahme von Neuschulden für die Zukunft und damit eine Vergemeinschaftung der Schulden der Euro-Länder klang in Macrons Reden zuweilen an.
Daneben steht das Versprechen für entschlossene Reformen und die Reduzierung der Staatsschulden in Frankreich selbst. Dieses Versprechen ist gebunden an den Aufruf, dass es auch die anderen Euro-Länder gleich tun sollen. Das stärkste Signal geht aber an die deutsche Regierung. Deutschlands soll seinen Beitrag leisten, indem es sich für eine europäische Investitionspolitik öffnet und seinen Außenhandelsüberschuss verringert.
Nicht bis zu der Bundestagswahl warten – Deutschland ist jetzt in der Pflicht
Die Wahl Macrons wird in Deutschland allerorts begrüßt und die Nähe zum französischen Überflieger gesucht. Doch beim genaueren Hinschauen tun sich schon Risse auf. Von einzelnen Politikern der CDU und FDP waren schnell nach der Wahl Macrons im Mai kritische Stimmen zu dessen europäischen Wirtschaftsprogramm zu hören. Diese bedienten die deutsche Angst vor der Vergemeinschaftung der Schulden und bemühten das alte Stereotyp, Deutschland dürfe nicht der Zahlmeister Europas sein.
Doch sollte die deutsche Regierung nicht bis zu den Bundestagswahlen im September warten, um Signale nach Frankreich zu senden, sondern sofort Angebote aus Paris aufgreifen. Es muss jetzt insbesondere um nachhaltige Investitionen zur Bekämpfung der hohen Arbeitslosigkeit gehen, nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa. Der Investitionsbedarf ist in der ganzen EU sehr hoch. Die Vernachlässigung von Zukunftsinvestitionen und Strukturreformen in Zeiten der Eurokrise haben zu einem Investitionsstau in vielen Regionen Europas geführt und die Krise in vielen Ländern verfestigt.
So könnte Deutschland die aus Paris angestrebte Kombination aus Investitionen, Reformen und Haushaltskonsolidierung für ganz Europa positiv unterstützen. Viele Möglichkeiten sind dafür denkbar, die Schaffung eines neuen EU-Zukunftsfonds, der mittels öffentlicher Investitionen die sozial-ökologische Modernisierung der europäischen Wirtschaft vorantreibt oder der bereits vorhandene EU-Investitionsfonds (EFSI), der ausgeweitet werden könnte. Deutschland muss jetzt einen angemessenen Beitrag leisten und das Signal nach Frankreich senden, dass es bereit ist, mehr Verantwortung zu übernehmen und damit zur Gesundung der europäischen Wirtschaft beizutragen. Deutschland steht jetzt in der Pflicht!
Der Erfolg des neuen Staatspräsidenten ist essentiell für die Zukunft Frankreichs und damit für die Zukunft der EU. Macron hat Le Pen verhindert. Vorerst. Es ist ein Spiel auf Zeit. Ein Zeitfenster, das jetzt genutzt werden muss.