Auf den Plakaten ist es nicht zu erkennen. Die Dominanz der Farbe Grün. Plakate spielen allerdings keine Rolle bei Wahlkämpfen im Nachbarland. Nur vor öffentlichen Gebäuden wie Rathäusern und Schulen hängen sie, in Reih und Glied je eins für jede Partei, und das nur in den zwei letzten Wochen vor der Wahl. Dort sind jetzt die 34 Parteien zu sehen, die zur Wahl zugelassen sind, meist mit den Spitzenkandidaten. Auf dem Plakat der Präsidentenpartei La République en Marche prangt dabei unübersehbar ein Name: Emmanuel Macron.
Außerhalb dieser Plakatwände ist die zentrale Bedeutung des Themas Ökologie in diesem Europawahlkampf nicht zu übersehen. Klimaschutz und die notwendige sozial-ökologischen Transformation ist die dominierende Erzählung im gesamten linken politischen Spektrum. Allein fünf Parteien treten explizit als klar ökologisch ausgerichtete Formationen an: Die französischen Grünen mit ihrem Spitzenkandidaten, dem Europaparlamentarier Yannick Jadot. Der Ex-Sozialist Benoît Hamon mit einem „Bürgerbündnis“ rund um seine Partei Génération-s, der in Deutschland gemeinsam mit dem griechischen Ex-Finanzminister Yanis Varoufakis Wahlkampf macht. Außerdem eine Liste „Urgence Écologique“ (Ökologischer Notstand) um die frühere Umweltministerin von Francois Hollande, Delphine Batot, den Philosophen Dominique Bourg sowie den Mitbegründer der französischen Grünen, Antoine Waechter. Hinzu kommt noch eine Kleinstpartei, Décroissance 2019 (Wachstumsrückgang 2019).
Aber auch die französischen Sozialdemokraten, die Sozialisten, haben sich mit dem Philosophen und Publizisten Raphaël Glucksmann und Teilen von dessen Bewegung Place Publique (Öffentlicher Platz) zusammengetan und diesen an die Spitze ihrer Liste gesetzt. Glucksmann gilt als einer der interessantesten französischen Vordenker für die Notwendigkeit und Möglichkeiten einer sozial-ökologischen Transformation im europäischen Kontext. Hinzu kommt noch, dass zudem die Spitzenkandidatin von „La France Insoumise“ („Unbeugsames Frankreich“) Manon Aubry, 29 Jahre jung und vorher bei der NGO Oxfam engagiert, die ökologische Frage in gleichem Maße wie die soziale Frage ins Zentrum der Wahlkampagne stellt – während sich Parteichef Jean-Luc Mélenchon zurückhält, der zuletzt stark an Zustimmung verloren hatte. Außer den Kommunisten und Trotzkisten geben sich damit im linken Spektrum Frankreichs mehr oder weniger alle grün in diesem Wahlkampf.
Selbst die Präsidentenpartei LaREM widmet der ökologischen Transformation das erste Kapitel im Wahlprogramm und zieht mit einem ehemaligen Staatssekretär der französischen Grünen, Pascal Canfin, sowie einem ehemaligen Grünen-Parteichef, Pascal Durand, auf seiner Liste in den Wahlkampf. Hinzu kommt Daniel Cohn-Bendit, der fest zum Präsidenten steht und kräftig Wahlkampf macht für dessen Partei, während viele Unterstützer aus dem linken Spektrum Macron mittlerweile enttäuscht den Rücken gekehrt haben. Inzwischen wird der Präsident von der Mehrheit der Französinnen und Franzosen klar rechts eingeordnet. Beigetragen haben dazu die sozial sehr unausgewogenen Reformen, gegen die sich insbesondere die Gelbwesten-Bewegung gewandt hat, die Verschärfung der Asyl- und Flüchtlingspolitik sowie der Umgang mit und der Abbau von Bürgerrechten, insbesondere auch in Reaktion auf die Gelbwesten. Die Liste der Präsidentenpartei LaREM für die Europawahl wurde neben einigen Ex-Grünen und Getreuen des Präsidenten vor allem aus Vertreterinnen und Vertretern des proeuropäischen, konservativen und liberalen Zentrums besetzt. Macron versucht mit seinem Rechtsruck vor allem das liberal-konservative, proeuropäische konservative Erbe eines Alain Juppé und Jacques Chirac anzutreben. Das wird ihm leicht gemacht von den zunehmend weit nach rechts rückenden Les Républicains, den traditionellen Konservativen, um ihren Vorsitzenden Laurent Wauquiez, die vor allem auf Themen wie nationale Identität und Immigration setzen und damit dem Front National Konkurrenz machen wollen.
Jetzt im Wahlkampf lässt der Präsident aber keine Gelegenheit aus, sich vor allem auch ökologisch zu geben: Vom Weltbiodiversitätrat in Paris bis zur Klima-Initiative beim EU-Sondergipfel in Rumänien. Mit dieser grünen Strategie sollen offenkundig auch einige Wählerinnen und Wähler im linken Spektrum angesprochen werden, wo sich nun ja alle relevanten Parteien klar grün aufgestellt haben. Von dort kamen einst auch die meisten Stimmen, die Emmanuel Macron zum Präsidenten gemacht haben.
In ihren Programmen überschlagen sich die französischen Parteien nun mit Forderungen für die schnellste und entschiedenste ökologische Transformation: Die französischen Grünen wollen dafür europaweit 500 Milliarden Euro in fünf Jahren investieren, die Präsidentenpartei gleich das doppelte, 1000 Milliarden, und Benoît Hamon fordert sogar 2500 Milliarden. Auf den ersten Blick könnte diese plötzliche und in dieser Deutlichkeit überraschende Begrünung der französischen Politik erstaunlich wirken. Vor gerade einmal sechs Monaten sind die Gelbwesten zu hunderttausenden auf die Straße gegangen, gegen eine Erhöhung der Benzin- und Diesel-Steuer, die von Regierungsseite als ökologische Maßnahme deklariert worden war. Auf den zweiten Blick erstaunt es weniger, dass und in welchem Umfang die Klimakrise die Europawahlen von den französischen Parteien aufgegriffen wird. Die soziale Bewegung der Gelbwesten war von Beginn an in erster Linie ein Protest gegen die unfaire Steuer- und Sozialpolitik der Regierung sowie gegen die zentralistische Machkonzentration. Auch in Frankreich gingen seit Jahresbeginn tausende Schülerinnen und Schüler für die Fridays for Future-Bewegung auf die Straße, auch wenn die Mobilisierung weit geringer war und ist als in Deutschland. Dafür demonstrierten Mitte März im ganzen Land über 300.000 Menschen aller Altersgruppen für den Klimaschutz. Eine Initiative mehrerer Umwelt-NGOs, die die französische Regierung nach niederländischem Vorbild juristisch zu wirkungsvoller Politik gegen die Klimakrise zwingen will, die auch von prominenten Schauspielerinnen wie Juliette Binoche und Marion Cotillard unterstützt wird, bekam in kurzer Zeit über zwei Millionen Unterschriften. Laut Umfragen ist das Klima- und Ökologie-Thema eine Priorität für die französischen Wählerinnen und Wähler für die Europawahlen.
So prominent das Thema derzeit aufgegriffen wird, so wenig spricht allerdings dafür, dass es bei den Wahlen zum Einzug zahlreicher ökologisch ausgerichteter Kräfte in das Europaparlament kommen wird - oder sich Paris anschließend zum Vorreiter wandelt und Europa antreibt.
Bei allen anderen Abstimmungen zwingt das Mehrheitswahlrecht die politischen Kräfte in Frankreich zur Zusammenarbeit. Hier gilt einmal das Verhältniswahlrecht, allerdings im Unterscheid zu Deutschland mit einer 5-Prozent-Hürde. In dieser Situation machen sich die unterschiedlichen grün ausgerichteten Kräfte heftig Konkurrenz. Das führt zu einer erheblichen Unübersichtlichkeit für Wählerinnen und Wähler. Nach den bisherigen Umfragen profitiert vor allem das Original, Europe Écologie-Les Verts, die französischen Grünen von der Allgegenwart des Öko-Themas, trotz der zurückliegenden Jahre, die von Spaltungen und dem Versinken in die Bedeutungslosigkeit bei den Parlamentswahlen geprägt waren. Sie liefern sich mit dem „Unbeugsamen Frankreich“ von Jean-Luc Mélenchon ein Kopf-an-Kopf-Rennen um Platz eins im linken Spektrum, mit jeweils 7-10 Prozent in den Umfragen, mit zuletzt einem leichten Vorteil für die Grünen. Die „Unbeugsamen“ setzen dabei auf eine vor allem vom Nationalstaat geplante und verordnete sozial-ökologische Transformation (Planification écologique) und wollen Frankreich aus der EU führen wollen, wenn sie dort nicht die Verträge und Politik nicht vollständig in ihrem Sinne ändern können. Demgegenüber wollen die französischen Grünen in und mit einem demokratischeren Europa die sozial-ökologische Transformation voranbringen.
Die Rechnung der Sozialisten, mit einem radikalen Neuanfang durch einen bekannten grünen Vordenker von außen ihren Niedergang seit den letzten Wahlen aufzuhalten, scheint nicht aufzugehen: Die Stammwählerschaft goutiert es offenkundig nicht, dass ein Außenseiter im Wahlkampf viel damit beschäftigt ist, ihre bisherigen Positionen und Traditionen umzustoßen. Viele der noch im Herbst von der rund um Glucksmann gegründeten Bürgerbewegung Place Publique Begeisterte haben sich ihrerseits nach dem Zusammenschluss mit den Sozialisten enttäuscht abgewendet. Die altehrwürdige Partei kratzt nun an der 5-Prozent-Hürde. Es wäre das erste Mal seit dem Bestehen des Europaparlamentes, dass dort keine französischen Vertreter der sozialdemokratischen Parteienfamilie vertreten sind. Auf den letzten Metern steigen nun zahlreich die alten Größen in den Ring, wie der frühere Innen- und Premierminister Bernard Cazeneuve oder die frühere Justizministerin Christiane Taubira, um den harten Kern der Anhänger doch noch zur Wahl zu bewegen.
Erhebliche Zweifel gibt es bei Medien wie Beobachtern in Bezug auf die Glaubwürdigkeit der neuerdings so ökologischen Ausrichtung der Präsidentenpartei und des Élysée-Hausherrn selbst. Noch frisch ist die Erinnerung an den Rücktritt des populären Umwelt- und Energieministers Nicolas Hulot im vergangenen Sommer. Begründet hatte dieser seinen Rückzug unmissverständlich damit, dass mit dieser Regierung eine ernsthafte sozial-ökologische Transformation nicht zu machen sei. Insbesondere übte er Kritik an dem Einfluss der agrarindustriellen Lobbys, weshalb eine stärkere Orientierung in Richtung einer nachhaltigen Landwirtschaft unmöglich sein. Vor diesem Hintergrund ist es aufschlussreich, dass neben Ex-Grünen auch ein junger Funktionär der klassischen Agrarlobby einen sicheren Platz auf der Liste der Präsidentenpartei hat. Seit dem Abgang von Hulot hat der Präsident im ökologischen Bereich bislang nur eher symbolische Maßnahmen angekündigt: Die Schaffung eines „Rates zur Verteidigung der Ökologie“ in der Regierung, ähnlich dem deutschen Klimakabinett, und ein Bürger/innenrat, der sich als erstes mit dem Thema Klimaschutz befassen soll. Die wichtigste echte Entscheidung der französischen Regierung in diesem Bereich ist seitdem, die Atomkraft als Klimaschützer zu deklarieren und ihre bereits beschlossene Reduzierung nun so weit nach hinten zu schieben, dass sie damit de facto beerdigt wird. Folge wird eine Laufzeitverlängerung vieler AKWs weit über die 40 Jahre hinaus sein, für die sie konstruiert wurden - mit allen damit verbundenen Risiken, auch für die Nachbarstaaten.
Auf der Endstrecke des Wahlkampfes droht nun allerdings das von Emmanuel Macron ausgerufene Duell mit Marine Le Pen alles andere zu überlagern. Die Frage er oder sie, wer am Ende die Nase vorne haben wird am Wahlabend, hat der französische Präsident zu einer Schlüsselfrage und einem zentralen Wahlkampfziel erklärt. Macron versucht den Wahlkampf so auf eine Auseinandersetzung zwischen seinen proeuropäischen, progressiven Kräften und dem rechtsautoritären, antieuropäischen Kräften des Rassemblement National, wie der Front National neuerdings heißt, zuzuspitzen. Damit bringt er nicht nur die proeuropäischen demokratischen Alternativen links und rechts von ihm in die schwierige Situation, bei diesem High-Noon-Duell noch durchzudringen. Diese Strategie droht auch Marine Le Pen aufzuwerten, die den Fehdehandschuh flugs angenommen und freudig erklärt hat, jeder, der den Präsidenten für dessen bisherige Politik abstrafen wolle, könne dies nun mit einer Wahl ihrer Partei erfolgreich tun. Nach der Gelbwesten-Bewegung und angesichts der breiten Enttäuschung nach dem mageren Ergebnis, das Emmanuel Macron nach immerhin drei Monaten nationaler Debatte im ganzen Land präsentiert hat, könnte die Versuchung für viele groß sein, dieser Einladung einmal zu folgen. Nur um dem unbeliebten Präsidenten eine deutliche rote Karte zu zeigen, ohne dass eine unmittelbare Machtübernahme der Le Pen-Truppe droht. Hinzu kommt noch der erstaunlich unprofessionelle Pleiten-Pech-und-Pannen-Wahlkampf der Präsidentenpartei mit ihrer Spitzenkandidatin Nathalie Loiseau, der früheren Staatssekretärin für Europa. Emmanuel Macron könnte nach den Wahlen als der große Verlierer dastehen. Eine Regierungsumbildung für die zweite Hälfte der Amtszeit wäre die mögliche Folge. Mit welchem Erfolg Macron dann die Mehrheitsverhältnisse im neuen Europäischen Parlament wirklich in seinem Sinn aufmischen und die Wahl der neuen Kommission wird entscheidend mitbestimmen können, steht dann auch in Frage.
In dieser Situation könnte das Thema Klimaschutz dann schnell wieder weit nach hinten rutschen auf den Prioritätslisten in Paris wie Brüssel.