Souveränität- der neue Begriff des französischen Wahlkampfs

Analyse

Die Schockwelle der russischen Invasion in der Ukraine am 24. Februar hatte unmittelbare Auswirkungen auf den französischen Präsidentschaftswahlkampf, sei es auf die Ausrichtung des Wahlkampfs durch die Kandidat*innen als auch auf die Präferenzen der Wähler*innen. Während sich die letzten Wahlkämpfe überwiegend um nationale Belange drehten, hat der Krieg in der Ukraine die Spaltung der französischen Politik in Bezug auf internationale Fragen deutlich gemacht - insbesondere auf die globalen Organisationen der internationalen Zusammenarbeit (NATO, EU und UN).

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Gleiches Ergebnis - unterschiedliche Verantwortungsträger: Die NATO wird Thema im Wahlkampf

Zwar verurteilen mittlerweile alle Parteien die russische Aggression in der Ukraine, nachdem sich die rechtsextremen und linksextremen Parteien zuvor unklar gegenüber Putin positioniert hatten, doch über die Verantwortlichen für diesen Krieg herrscht Uneinigkeit. Die Haltung und Rolle der NATO wurden von drei der wichtigsten Kandidat*innen - Éric Zemmour, Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon - als Auslöser für Putins Verhalten gedeutet, und die NATO ist damit in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt.

Hierbei handelt es sich um eine sehr französische Debatte: Die Teilnahme Frankreichs an der integrierten Kommandostruktur des Atlantischen Bündnis, dem Frankreich unter Nicolas Sarkozy nach 43 Jahren Abwesenheit wieder beigetreten ist, spaltet die Präsidentschaftskandidat*innen. Die Programme der beide rechtsextreme Kandidat*innen sowie von Jean-Luc Mélenchon sehen einen sofortigen oder schrittweisen Rückzug Frankreichs aus dem integrierten Kommando der Atlantischen Allianz vor, mit dem Ziel, die NATO letztlich vollständig zu verlassen. Im Gegensatz dazu sprechen sich Emmanuel Macron, Valérie Pécresse, Anne Hidalgo und Yannick Jadot, für einen Verbleib in der NATO aus.

Doch einen Monat nach dem Beginn der russischen Offensive in der Ukraine müssen die Kandidat*innen ihre Standpunkte überarbeiten. Der derzeitige Präsident der Republik spricht von einem "Elektroschock" für die NATO, nachdem er die NATO 2019 für "hirntot" erklärt hatte. Die Kandidatin des Rassemblement National Marine Le Pen, eine vehemente Verfechterin der französischen Souveränität, ließ verlauten, dass es nicht der Zeitpunkt sei, "aus dem westlichen Lager auszusteigen, aber [dass] man es [zu gegebener Zeit] tun muss".

Die Abneigung gegen das Atlantische Bündnis ist seit General de Gaulles Austritt aus der integrierten Kommandostruktur (dem militärischen Organ der NATO) im Jahr 1966 eine Konstante in der politischen Landschaft Frankreichs. Es hieß, die NATO und der Einfluss der USA seien ein Hindernis für die französische Souveränität und Unabhängigkeit. Diese Sichtweise wurde durch die eigene Atomstreitkraft gefestigt, insbesondere, da Frankreich nach dem Austritt Großbritanniens nun die einzige Atommacht innerhalb der EU-Nationist. In den letzten Jahren hatte sich das Misstrauen gegenüber dem Atlantischen Bündnis wegen Donald Trump, zuletzt aber auch durch die AUKUS-Affäre[1], verstärkt.

Vielleicht mehr als die Debatte über die NATO, liegen die Konfliktpotenziale des Wahlkampfes im Begriff der „Souveränität“. Frankreich steht vor einer Souveränitäts-Entscheidung: Wird eine nationale oder eine europäische Interpretation der Souveränität die Oberhand gewinnen?

Europa als Sicherheitsantwort?

Das Jahr 2022 ist bereits im März in vielerlei Hinsicht ein entscheidendes Jahr für die europäische Verteidigung geworden, auch dank der französischen EU-Ratspräsidentschaft. Die Annahme des strategischen Kompasses am 24. März mit einer EU-Eingreiftruppe von bis 5.000 Soldat*innen, die neuen Herausforderungen (Cybersicherheit, die hybride Kriegsführung), die Aufnahme eines neuen Verteidigungs- und Sicherheitsdialogs zwischen der EU und den Vereinigten Staaten und letztendlich der Kurswechsel der neuen deutschen Regierung, die in der Europapolitik mit Paris mehr Gemeinsamkeit aufweist, sind allesamt Umwälzungen in der Verteidigungsstrategie der EU. Innerhalb eines einzigen Tages hat der Krieg in der Ukraine eine europäische Verteidigungspolitik dringend notwendig gemacht und den Streit zwischen den sogenannten "atlantischen" und "europäischen" EU-Ländern, wie Frankreich, weitgehend obsolet.

Dennoch ist von "europäischer Verteidigung" im Präsidentschaftswahlkampf kaum die Rede, obwohl der Begriff in den Programmen von Emmanuel Macron, Valérie Pécresse und Yannick Jadot auftaucht. Im Einklang mit dem europäischen Trend der Erhöhung der Verteidigungsausgaben wollen die sechs in den Umfragen führenden Präsidentschaftskandidat*innen die Investitionen in die Verteidigung absichern oder erhöhen. Ob sich dies auf die Nato oder eine europäische Verteidigung bezieht, ist jedoch nicht ersichtlich.

Bei den französischen Grünen gibt es jedoch kein Zweifel: Yannick Jadot spricht sich für eine Stärkung der internationalen Organisationen bei der Friedenssicherung und für eine „Wiederherstellung eines Gleichgewichts in der transatlantischen Partnerschaft durch eine europäische Verteidigungspolitik“ aus. Der Präsidentschaftskandidat von EELV (Europe Ecologie les Verts) hat sich explizit für Waffenlieferungen in die Ukraine sowie -  für mehr europäische Sanktionen gegen Putin ausgesprochen. Laut Vanessa Jérôme, Spezialistin der Grünen Partei in Frankreich, sei dies jedoch keine Abkehr vom ursprünglichen Pazifismus der französischen Grünen, sondern lediglich eine Anpassung an die tatsächlichen Verhältnisse.

 

Europa – oder die Idee eines Europas- als großer Gewinner

Die Programme der Präsidentschaftskandidat*innen 2022 verankern und vertiefen Frankreichs Rolle in der Europäischen Union, auch wenn die Berichterstattung der Medien hierüber bisher eher gering war. Als besonderes Beispiel dient die Kehrwende von Marine Le Pen: Es geht ihr nicht mehr darum, ein Referendum über den "Frexit" oder einen Austritt aus dem Euro zu planen, wie es noch 2017 der Fall war, sondern darum, "Europa neu zu gründen". Ähnlich klingt es bei Eric Zemmour, der sich zwar klar zu dem Gedanken der nationalen Souveränität bekennt und sich dennoch "ein Europa der Nationen" wünscht. Dasselbe gilt für Jean-Luc Mélenchon, der, wenn er gewählt wird, anstatt die EU zu verlassen, die europäischen Verträge neu verhandeln will.

Trotz allem darf man sich nicht täuschen lassen: Auch wenn alle Kandidaten Europa in ihre Programme „integriert" haben, dann nur, weil die Franzosen mehrheitlich an dieser Idee festhalten; wenn auch auf „diffuse“ Weise und trotz eines gewissen Pessimismus, der in den verschiedenen Eurobarometern[2] sichtbar wird.

Laut einer Umfrage des Think Tanks ECFR, die vor der russischen Invasion in der Ukraine durchgeführt wurde, sprachen sich 29 % der Befragten aus 12 EU-Ländern für und 20% gegen eine europäische Souveränität aus. Die befragten französische Bürger*innen waren deutlich negativer eingestellt als der EU-Durchschnitt: In Frankreich sprachen sich nur 18% für und 34% gegen eine europäische Souveränität aus. Das Stimmungsbild in Deutschland ist das frappierende Spiegelbild, 33% der befragten Deutschen begrüßen eine europäische Souveränität, während nur 17% die Idee ablehnen. Der Weg zu einer europäischen Souveränität, die fähig ist, gemeinsame Lösungen für die Herausforderungen im Bereich Gesundheit, Umwelt und Verteidigung zu finden, könnte also noch lang sein.

Die Fokussierung des Wahlkampfs auf internationale Themen hat die Kandidat*innen gezwungen, sich klarer zu ihrer Haltung gegenüber der Weltordnung zu positionieren, wodurch insbesondere bei den Kandidat*innen der extremen Rechten Widersprüche deutlich werden. Die Europa-Debatte ist nicht wie 2017 nur mit der Person Macron verknüpft, sondern wird nun in allen Parteien diskutiert und präsent – wenn auch nicht in der Öffentlichkeit. Während der Ausgang der Wahl aufgrund des in den Umfragen vorhergesagten hohen Anteils an Wahlenthaltungen schwer vorhersehbar ist, werden die hoheitlichen Bereiche von der nationalistischen/europäischen Spaltung eingeholt, die bereits in anderen Bereichen der öffentlichen Politik vorhanden ist.

 

 

[1] Ein angekündigter U-Boot Deal zwischen Frankreich und Australien ist im September 2021 durch die USA und die neue AUKUS Allianz (Australien, USA und Großbritannien) geplatzt. Das wurde davor mit Paris nicht abgesprochen und dies wurde von Paris als „Dolchstoß in den Rücken“ durch die USA bezeichnet. Der ursprüngliche 56 Milliarden Vertrag sah die Lieferung von 12 U-Booten vor.

 

[2] In der letzten Eurobarometer-Umfrage vom Frühjahr 2021 stehen die Franzosen der europäischen Idee weiterhin ablehnender gegenüber als ihre deutschen Nachbarn. Nur 47 % der befragten Franzosen sind mit der Funktionsweise der Demokratie in der EU zufrieden und 59 % glauben, dass die Interessen Frankreichs von Europa berücksichtigt werden, während dies bei den Deutschen 53 % bzw. 72 % tun.