Nach den Parlamentswahlen: Wer gestaltet nun Frankeichs Außenpolitik?

Am 9. Juni hatte der französische Präsident Emmanuel Macron die Auflösung der Nationalversammlung angekündigt. Am 30. Juni und 7. Juli fanden vorgezogene Parlamentswahlen statt, nach denen die Neue Volksfront (Bündnis aus der Sozialistischen Partei, der grünen Partei EELV, La France insoumise und anderen linken Parteien) knapp in Führung lag. Die Wahlen brachten keine absolute Mehrheit in der Nationalversammlung. Welche Schritte sind angesichts dieser für die französische Politik beispiellosen Situation in einer Phase der Neustrukturierung des Parlaments und der europäischen Exekutive als nächstes zu erwarten? Welche Folgen ergeben sich für die französische Außenpolitik, und wie werden die Entscheidungen jetzt getroffen? Der folgende Text liefert Ansätze für Antworten.

Macron Scholz NATO
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Left to right: President Sauli Niinistö (Finland) with President Emmanuel Macron (France) and Chancellor Olaf Scholz (Germany)

Die Ergebnisse der vorgezogenen Parlamentswahlen, die nach der von Präsident Emmanuel Macron am 9. Juni angekündigten Auflösung der Nationalversammlung am 30. Juni und 7. Juli abgehalten wurden, überraschten weitgehend. Während die meisten Umfragen einen Sieg der rechtsextremen Partei Rassemblement National (RN) vorhersagten, ging das Linksbündnis – die Neue Volksfront (NFP) – als stärkste Kraft aus den Wahlen hervor. Mit 180 von 577 Sitzen lag die NFP vor dem Wahlbündnis des Präsidenten, Ensemble, das 163 Sitze erhielt, und der RN und ihren Verbündeten mit 143 Sitzen. Keine politische Kraft erreichte die absolute Mehrheit von 289 Sitzen.

Welche Schritte sind angesichts dieser für die französische Politik beispiellosen Episode in einer Phase der Restrukturierung des Parlaments und der europäischen Exekutive als nächstes zu erwarten? Zunächst einmal muss der Präsident der Republik nun einen Premierminister oder eine Premierministerin ernennen, die bzw. der der politischen Kraft mit der absoluten oder relativen Mehrheit in der Nationalversammlung angehört. Es ist zwar üblich, dass der Staatspräsident eine Person aus dem Lager ernennt, das die Mehrheit der Sitze in der Nationalversammlung erhalten hat (in diesem Fall eine Kandidatin oder einen Kandidaten der NFP), aber es gibt keine Verpflichtung dazu, da die Verfassung nur das arithmetische Prinzip kennt. Angesichts des Wahlausgangs sind derzeit drei Szenarien denkbar:

  • Das von Präsident Macron geführte Wahlbündnis Ensemble geht als Hauptpartner mit anderen Abgeordneten aus einer anderen Gruppierung eine Koalition oder ein legislatives Abkommen ein, um eine neue Mehrheit in der Nationalversammlung zu erreichen;
  • Wenn es dem Bündnis des Präsidenten nicht gelingt, eine neue Koalition zu bilden oder ein Abkommen einzugehen, wird ein Mitglied der linken Volksfront zum Premierminister oder zur Premierministerin ernannt, was zur vierten Kohabitation in der V. Republik führen würde;
  • Die Hypothese einer aus Expertinnen und Experten zusammengesetzten Regierung.

Nach der internen Klärung wird also die Zeit der Regierungsbildung kommen, die die Ernennung einer Ministerin bzw. eines Ministers für europäische und auswärtige Angelegenheiten und einer Verteidigungsministerin bzw. eines Verteidigungsministers einschließt.

Wie steht es in diesen beiden Szenarien um die Außenpolitik?

Die Verfassung sieht vor, dass die Innenpolitik des Landes eindeutig der Regierung (Premierminister*in und Minister*innen) anvertraut wird. Die Aufteilung der Verantwortlichkeiten und Befugnisse in der Außenpolitik ist dagegen weniger eindeutig, insbesondere im Falle einer Kohabitation.

1 - Was besagt die Verfassung der Fünften Republik?

Institution

Befugnisse und Zuständigkeiten

Artikel der Verfassung

Aufteilung der Zuständigkeit

Regierung

Der/die Minister*in für europäische und auswärtige Angelegenheiten, der/die an der Spitze einer Verwaltung steht, ist für die Vorbereitung und Ausarbeitung der französischen Außenpolitik zuständig.

Artikel 20, Absätze 1 und 2:

„Die Regierung bestimmt und leitet die Politik der Nation.

Sie entscheidet über die Verwaltung.”

In der Praxis ist jedoch traditionell der/die Staatspräsident*in – und nicht der/die Premierminister*in – der/die Hauptansprechpartner*in für ausländische Staats- und Regierungschefinnen und -chefs.

Präsident*in der Republik

Akkreditiert die Botschafter*innen und außerordentlichen Gesandten, die in andere Länder entsendet werden.

Artikel 14:

„Der Präsident der Republik akkreditiert die Botschafter und außerordentlichen Gesandten, die in andere Länder entsendet werden; die ausländischen Botschafter und außerordentlichen Gesandten werden von ihm akkreditiert.“

Ernennungen auf Vorschlag der Ministerin bzw. des Ministers für europäische und auswärtige Angelegenheiten.

Pierre Sellal, Diplomat: „Der Präsident kann die Ernennung eines Botschafters ablehnen, aber er kann keinen anderen Kandidaten aufzwingen.”

Verhandelt und ratifiziert Verträge.

Artikel 52, Absatz 1:

„Der Präsident der Republik verhandelt und ratifiziert die Verträge.“

Machtteilung mit dem Parlament (Artikel 53, Absatz 1): „Friedensverträge, Handelsverträge, Verträge oder Abkommen über die internationale Organisation [...]“ – können nur per Gesetz ratifiziert werden. Es ist also Aufgabe der Regierung, dem Parlament ein Gesetz über den entsprechenden Vertrag vorzulegen, das dann vom Parlament genehmigt wird oder nicht.

  • Im Falle des ersten Szenarios, d. h. einer um das Bündnis des Präsidenten, Ensemble, gebildeten Koalition, würde die Regierung derselben politischen Richtung angehören wie der Präsident der Republik. Die Außenpolitik Frankreichs würde dann zwischen dem Elysée-Palast und dem Quai d'Orsay (dem Ministerium für europäische und auswärtige Angelegenheiten) abgestimmt und das Handeln der Regierung würde sich an den Positionen des Präsidenten orientieren.
  • Im Falle des zweiten Szenarios, einer Kohabitation mit einer Regierung, die eine andere politische Orientierung als die des Präsidenten hat, würden die Befugnisse des Präsidenten stärker eingeschränkt.

Der Diplomat Pierre Sellal erinnert daran, dass es während einer Kohabitation wesentliche „Risiken von Spannungen“ bezüglich der verschiedenen außen- und verteidigungspolitischen Entscheidungen geben kann. Diese Spannungen können von Ernennungen über diplomatische Leitlinien bis hin zu Haushaltsentscheidungen reichen. Um den Einfluss Frankreichs nicht zu beeinträchtigen, wird jedoch seit 1958 und insbesondere in Zeiten der Kohabitation die Ernennung der Ministerin oder des Ministers für europäische und auswärtige Angelegenheiten – ebenso wie die der Verteidigungsministerin oder des Verteidigungsministers – im Einverständnis zwischen der Präsidentin bzw. dem Präsidenten der Republik und der Premierministerin bzw. dem Premierminister vorgenommen.

2 - Die Außen- und Verteidigungspolitik, im Falle einer Kohabitation von einer „reservierten” zu einer geteilten Zuständigkeit?

Was passiert im Falle einer Kohabitation, wenn die Regierung und die Präsidentin bzw. der Präsident in verschiedenen Fragen der Verteidigungs- und Außenpolitik uneins sind?

Eine institutionelle Praxis der Fünften Republik, die auf die Präsidentschaft von General De Gaulle zurückgeht, ist das, was der ehemalige Premierminister Jacques Chaban-Delmas als „reservierte Zuständigkeit“ der Präsidentin bzw. des Präsidenten der Republik bezeichnet hat. Die Praxis der „domaine réservé“ (manchmal auch „domaine partagé“ genannt) verleiht der Präsidentin bzw. dem Präsidenten eine gewisse „Vorrangstellung“ in der Außen- und Verteidigungspolitik. Die Regierung soll zwar die Politik der Nation leiten, aber diese Vorrangstellung gibt der Präsidentin bzw. dem Präsidenten mehr Verantwortung in Bezug auf die Außen- und Verteidigungspolitik. Unter Verfassungsrechtlerinnen und -rechtlern gibt es Debatten über die rechtliche Grundlage dieser „reservierten Zuständigkeit“.

In früheren Kohabitationen war diese „Vorrangstellung“ nicht immer offensichtlich, wurde aber manchmal angewandt. Beispielsweise starteten die USA 1983 ein Projekt zur Strategischen Verteidigungsinitiative (SDI). In dessen Rahmen sollte ein Netzwerk von Satelliten geschaffen werden, die dafür bestimmt waren, im Kontext des Kalten Krieges gegen ihr Land gestartete ballistische Raketen aufzuspüren und zu zerstören. Die französische Regierung der ersten Kohabitation unter Präsident Mitterrand (Regierung Jacques Chirac 1986-1988) war eher für die Beteiligung Frankreichs an diesem Projekt, aber Präsident Mitterrand lehnte dies strikt ab. Am Ende dieser Meinungsverschiedenheit setzte sich die Position des Präsidenten durch und Frankreich beteiligte sich nicht an dem Projekt. Dieses Beispiel, das sowohl mit der Außenpolitik Frankreichs als auch mit seiner Verteidigungspolitik (französische Nukleardoktrin) verbunden ist, veranschaulicht einen Konflikt zwischen dem Präsidenten und der Regierung – ohne dass die Verfassung klar definiert, wer das letzte Wort hat.

Im Szenario einer Kohabitation wird sich die sogenannte „reservierte Zuständigkeit“ in eine „geteilte Zuständigkeit“ verwandeln. Die Schieds- und Entscheidungsbefugnisse müssten zwischen den beiden Parteien der Exekutive ausgehandelt werden.

Wie sieht es mit der europäischen Politik aus?

1 - Wer sitzt im Europäischen Rat?

Traditionell vertritt die Präsidentin oder der Präsident der Republik Frankreich im Europäischen Rat, der Institution, in der die Staats- und Regierungschefinnen und -chefs der Mitgliedsländer der Europäischen Union die wichtigen politischen Leitlinien für die Union beschließen. Während der beiden Kohabitationen unter Präsident Mitterrand nahmen der linke Präsident Mitterrand und der rechte Premierminister (Jacques Chirac, dann Edouard Balladur) jedoch gemeinsam an den Sitzungen des Europäischen Rates teil. Wenn es erneut zu einer Kohabitation kommt und die beiden Spitzen der Exekutive ebenfalls gemeinsam im Europäischen Rat sitzen, könnte dies zu Meinungsverschiedenheiten darüber führen, welche Position Frankreich in Bezug auf die wichtigsten politischen Leitlinien der Europäischen Union vertreten wird. Beispielsweise möchte die Neue Volksfront „Freihandelsverträge“ wie CETA beenden, während Präsident Macron dieses Abkommen verteidigt.

2 - Der Rat der Europäischen Union: das Vorrecht der Regierungsminister*innen

Die Minister*innen der Regierung sitzen im Rat der Europäischen Union und vertreten dort die Positionen Frankreichs. Im Rat der EU treffen sich die Minister*innen der Mitgliedstaaten, die je nach Thema zusammenkommen, um die Gesetzestexte der Europäischen Union zu verhandeln und zu verabschieden. Der/die Minister*in für europäische und auswärtige Angelegenheiten hat insbesondere die Aufgabe, die Position Frankreichs zu den großen europäischen Themen auszudrücken und zu verteidigen. Die Regierung und die Minister*innen, die im Rat der EU sitzen, setzen dann ihr Programm und ihre Positionen um.

3 - Die Europäische Kommission: Wer ernennt die nächste französische Kommissarin oder den nächsten französischen Kommissar?

In Frankreich gibt es eine „rechtliche Unklarheit“ darüber, wer entscheidet, welche Person dem Rat als nächste französische Kommissarin oder französischer Kommissar vorgeschlagen wird. Die Verfassung schweigt sich über diese Ernennung aus. In der Praxis ist es üblich, dass die Präsidentin oder der Präsident der Republik mit der Auswahl der Kandidatin oder des Kandidaten beauftragt wird. Unter Verfassungsrechtlern gibt es jedoch eine Debatte über die Vorrechte des Staatsoberhauptes. Claude Blumann, emeritierter Professor für öffentliches Recht an der Universität Paris Panthéon-Assas, ist zum Beispiel der Ansicht, dass im Falle einer Kohabitation die Kandidatin oder der Kandidat hauptsächlich auf Initiative der Premierministerin bzw. des Premierministers ausgewählt werden sollte.

Während der drei Kohabitationsperioden konnte Frankreich noch zwei französische EU-Kommissarinnen bzw. -kommissare ernennen. So wurde eine(r) vom Präsidenten und die/der andere vom Premierminister ausgewählt, wodurch dieses außenpolitische Vorrecht zu einer „geteilten Zuständigkeit“ zwischen den beiden Spitzen der Exekutive wurde. Seit 2004 kann Frankreich jedoch nur noch eine(n) französische(n) Kommissar(in) ernennen.

Wenn es zu einer neuen Kohabitation kommt, muss sich die Premierministerin bzw. der Premierminister mit dem Präsidenten einigen, wer ernannt werden soll: Es muss eine Persönlichkeit gefunden werden, die konsensfähig genug ist, um beide Seiten zufriedenzustellen.

Wie sieht es mit der Verteidigungspolitik aus? Eine verfassungsrechtliche Unklarheit über die Vorrechte der beiden Teile der Exekutive

1 - Was besagt die Verfassung der Fünften Republik?

Institution

Befugnisse und Zuständigkeiten

Artikel der Verfassung

Regierung

Der oder die Verteidigungsminister*in ist „zuständig für die Vorbereitung und Umsetzung der Verteidigungspolitik.”

 

Artikel 20, Absätze 1 und 2

Die Regierung „entscheidet [...] über die Streitkräfte.”

Artikel 20, Absatz 2

Premierminister*in

ist „verantwortlich für die nationale Verteidigung.”

Artikel 21, Absatz 1

Präsident*in der Republik

ist „Oberbefehlshaber*in der Streitkräfte“ und „steht den Obersten Räten und Ausschüssen für die Landesverteidigung vor.”

Artikel 15

Parlament

Bestimmte Entscheidungen im Zusammenhang mit der Landesverteidigung müssen durch Gesetze festgelegt werden:

 

„Das Gesetz legt die Regeln fest, die [...] die durch die Landesverteidigung den Bürgern in ihrer Person und in ihrem Eigentum auferlegten Unterwerfungen betreffen.”

 

„Das Gesetz bestimmt die grundlegenden Prinzipien der allgemeinen Organisation der Landesverteidigung.”

 

Das Parlament spielt auch eine Rolle beim Einsatz der Streitkräfte im Ausland (Art. 35):

Die Kriegserklärung wird vom Parlament genehmigt. Die Regierung informiert das Parlament spätestens drei Tage nach Beginn des Einsatzes über ihre Entscheidung, die Streitkräfte im Ausland einzusetzen.

Artikel 34 und 35

2 - Regierung aus dem Lager des Präsidenten oder Kohabitation: Welche Folgen für die Verteidigungspolitik?

In Anlehnung an die beiden wahrscheinlichsten Szenarien, die zu Beginn des Artikels erörtert wurden: 

  • Im Falle einer Koalition um das Präsidentenlager Ensemble würden die Nationalversammlung, die Regierung und der Präsident der gleichen politischen Richtung angehören. Die von der Regierung und der Nationalversammlung ausgearbeitete und umgesetzte Verteidigungspolitik würde dann von den politischen Leitlinien des Präsidenten der Republik bestimmt und an diese angepasst werden.
  • Im Falle einer Kohabitation stellt sich die Frage nach der Schieds- und Entscheidungsbefugnis im Bereich der nationalen Verteidigung. Wie das Beispiel der amerikanischen SDI zwischen Präsident Mitterrand und der Regierung Chirac gezeigt hat, ist es sehr wahrscheinlich, dass die Antwort auf diese Frage ganz davon abhängt, wer in der Regierung sitzt und an ihrer Spitze steht, inwieweit und wie der Präsident seine „reservierte Zuständigkeit“ oder „geteilte Zuständigkeit“ in Verteidigungsfragen ausüben möchte, sowie von den wichtigen Verteidigungsfragen und den Meinungsverschiedenheiten, die zwischen der Regierung und dem Präsidenten in diesen Bereichen bestehen.

Im Gegensatz dazu entscheidet die Präsidentin bzw. der Präsident der Republik allein über den Einsatz von Atomwaffen (Dekret vom 18. Juli 1962, 2009 aktualisiert).

Fazit: Während der Kohabitation muss über eine „geteilte Zuständigkeit“ verhandelt werden

 So kann die Praxis der geteilten Zuständigkeiten zwischen Regierung und Präsident im Bereich der Verteidigungs- und Außenpolitik konfliktträchtig sein und hängt vor allem davon ab, ob zwischen den beiden Institutionen Vereinbarungen über den Umgang mit ihren Meinungsunterschieden getroffen werden. Andernfalls besteht die Gefahr, dass es bei diesen Themen zu völligen Blockaden kommt und es Frankreich nicht gelingt, eine klare Position in der Außen- und Verteidigungspolitik aufzubauen.

Der Politologe Pascal Perrineau betont, dass während der drei vorherigen Kohabitationen die Linke und die Rechte in der Außenpolitik keine radikal unterschiedlichen Positionen vertraten; es gab keine wesentlichen Blockaden zwischen dem Präsidenten, dem Premierminister und seiner Regierung. Doch derzeit haben Präsident Macron und eine potenzielle Regierung der Neuen Volksfront unterschiedliche Positionen zu wichtigen internationalen und verteidigungspolitischen Fragen – z. B. zur Anerkennung des palästinensischen Staates. Es bleibt abzuwarten, wie die beiden Teile der Exekutive mit diesen Meinungsverschiedenheiten umgehen werden, um politische und institutionelle Blockaden zu vermeiden.


Dieser Artikel wurde von voxeurop ins Deutsche übersetzt.