Vor 60 Jahren erschien Heinrich Bölls Roman Ansichten eines Clowns. Das Buch war eines von Bölls erfolgreichsten, aber auch umstrittensten. Markus Schäfer erinnert an das Buch, beschreibt die Zeitumstände und erklärt die besondere Wirkung des Romans, die bis heute anhält.
Heinrich Böll gewann in den fünfziger Jahren eine große Leserschaft, insofern er mit seinen literarischen Mitteln und seiner zeitgeschichtlichen Gesellschaftskritik einen Ton traf, der dem Publikumsgeschmack entsprach. Und dass trotz der allseits spürbaren Nähe und Affinität der rheinischen Region um Köln und Bonn und dem in dieser Region gelebten Katholizismus. Heute versperrt diese religiöse Dimension seines Werkes jungen Leserinnen und Lesern den Zugang zur Lektüre. Die frühere katholische Omnipräsenz ist mittlerweile in den Rheinmetropolen kaum noch wahrnehmbar. Insofern gilt um so mehr, was schon immer galt: Der Roman Ansichten eines Clowns ist auch ohne Kenntnisse der katholischen Bräuche verständlich und lesbar.
Als der Roman Ansichten eines Clowns im Mai 1963 im Buchhandel erschien, gab es bereits durch den Vorabdruck in der Süddeutschen Zeitung eine kontroverse Debatte. Anders als bei "Billard um halb zehn" ging es in den Besprechungen nicht um den komplexen und erzähltechnisch experimentellen Aufbau des Romans, sondern hier ging es um den Inhalt. Die Handlung ist auf etwa drei Stunden an einem Abend des Jahres 1962 zusammengefasst, von hier aus eröffnet der Clown in Rückblenden und Visionen sein Leben, in denen er sehr emotional seine Ansichten als Erzähler-Ich ausbreitet und alle Figuren und erinnerte Begebenheiten nur in seiner subjektiven Sicht charakterisiert.
Im Mittelpunkt aber steht die gescheiterte Beziehung des Clowns Hans Schnier mit Marie Derkum, die ihn nach sieben Jahren verlassen hat. Auch wenn Böll später beteuerte, der Roman sei „eigentlich nur eine Liebesgeschichte, wirklich nicht mehr“, ahnte er die Reaktionen und hielt sich beim Erscheinen des Romans auf Achill Island in Irland auf, wo er von dem „Rummel“ nichts mitbekam. Selten hat ein Buch so viele Diskussionen ausgelöst und über Monate in im Blickpunkt des Feuilletons gestanden. Obwohl es unüblich war, besprachen die bekanntesten Rezensenten den Roman in Die Zeit. Wöchentlich erschien vom 10. Mai bis 21. Juni 1963 eine neue Besprechung von "Ansichten eines Clowns", die fast die ganze Bandbreite der Kritik widerspiegelt.
Obwohl die Kritik durchaus unterschiedlich war, ging es in der Auseinandersetzung mehrheitlich um Bölls „Abrechnung“ mit der katholischen Kirche. Der Rezensent Werner Hofmann titelte beispielsweise seine Rezension „Der Narr und die deutschen Katholiken“ (Die Glocke, 24.9.63), oder Werner Ross formulierte die Schlagzeile: „Katholizismus als rotes Tuch“ (Die Zeit, 31.5.63). Vor allem katholische Presseorgane und der Katholischen Kirche nahestehenden Zeitungen versuchten den Streit um Bölls Roman zu skandalisieren, und dabei wurde die entscheidende, von vielen Kritikern übersehene Darstellung des Autors übersehen, dass das Geschehen ausschließlich aus der Ich-Perspektive eines Außenseiters dargestellt wurde. Es ist keine sachliche oder objektive Darstellung, sondern eine extreme und emotionale Zuspitzung. Einige Ansichten des Clowns entsprachen durchaus den politischen Auffassungen und moralischen Überzeugungen des Autors, die er bereits in früheren Texten geäußert hatte, aber die Ich-Perspektive im Roman ist explizit nicht diejenige von Heinrich Böll.
Unabhängig von der Literaturkritik hatte die Rezeption des Buches bei jungen Menschen, die in einem religiösen Umfeld aufwuchsen und noch mit den Fragen des Katechismus konfrontiert wurden, eine befreiende Wirkung. Der Katechismus vermittelte katholischen Schulkindern alle wesentlichen und grundlegenden Elemente des Glaubens der Kirche, vor allem zum Thema „menschliche Natur“, die außereheliche Sexualität, Masturbation oder Empfängnisverhütung verbietet und Homosexualität als „Sünde“ verurteilt. Als Böll 1985 sich anlässlich eines Nachwortes zu einer Neuauflage noch einmal mit dem Roman beschäftigte, nannte er ihn schon „historisch“ und die Reaktionen verschiedener Rezensenten aus dem Lager des Verbandskatholizismus nicht mehr nachvollziehbar.
Das „Skandalöse“ an diesem Buch war zum einen, dass die Romanfiguren Hans Schnier und Marie Derkum nicht verheiratet waren und sie – wie man es damals formulierte – in einer „wilden Ehe“ zusammenwohnten. Zum anderen empfanden einige Leser den Protagonisten provokant und selbstmitleidig, seine Kritik an den gesellschaftlichen Umständen der 1950er und 1960er Jahre und an den Konventionen der katholischen Kirche nicht angemessen. Für das Zusammenleben von Mann und Frau gab es konkrete Leitbilder. Damals orientierte sich die Politik an einem bürgerlichen Familienbild. Befördert wurde dieses Bild von der Regierung Adenauers, die vor allem unter dem Einfluss der katholischen Kirche stand. Der Mann sollte das Oberhaupt und der Ernährer der Familie sein, und die Frau ist nicht erwerbstätig, sondern sorgt für den Haushalt und die Kinder. Die katholische Naturrechts- und Soziallehre, die jedem in der Schöpferordnung Gottes einen festen Platz zuweist, diente als Basis dieser konservativen Familienideologie.
Das uneheliche Zusammenleben eines Paares passte nicht in dieses Weltbild, und spätestens seit der Studentenbewegung Mitte der 1960er Jahre war dies kein Anlass für moralische Empörung oder sittliche Entrüstung mehr. Dagegen war nach deutschem Gesetz 1963 das Zusammenleben von Marie Derkum und Hans Schnier noch strafbar; das wurde erst 1974 geändert. Für die katholische Kirche durfte Sexualität nur in der Ehe stattfinden und der Fortpflanzung dienen. Das gemeinsame Leben unverheirateter Paare galt schlicht als „Unzucht“ und „Sünde“.
In dem Roman ist es der Clown Hans Schnier, der gegen die Einmischung der Kirchenvertreter in sein intimes Verhältnis zu Marie rebelliert. Er hinterfragt die „abstrakten Ordnungsprinzipien“ die ihn „an eine Folterkammer“ erinnerten. Nach Ansicht von Hans Schnier verunsicherte die permanente Einflussnahme Marie und trug dazu bei, dass die Beziehung der beiden scheiterte. Die Provokation für die Institution Kirche lag darin, dass der Clown – wie Böll auch schon in anderen Texten – der katholischen Kirche das Recht absprach, die christliche Ehe gesetzlich ausgestalten und verwalten zu wollen. Denn im Gegensatz zu allen anderen Sakramenten spenden sich Brautleute das Ehesakrament selbst.
60 Jahre nach Veröffentlichung des Romans – und das ist wirklich historisch – ist es für nachfolgende Generationen zunehmend unvorstellbar, welche Bedeutung die katholische Kirche auf Politik und Gesellschaft in den Nachkriegsjahren hatte. Nachdem der „Glaube an den Nationalsozialismus“ durch das Kriegsende weitgehend getilgt wurde, war das Bedürfnis nach einer religiösen „Sinngebung“ der Gesellschaft stark. Der Einfluss der katholischen Kirche und des Klerus war höher als je zuvor in der deutschen Geschichte. Für Orientierung sorgte kirchlich genormte Religiosität, die in ihrer moralischen Autorität weitgehend anerkannt wurde.
Mit Bundeskanzler Konrad Adenauer, dem Vorsitzenden der deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Frings, und dem Präsidenten des Zentralkomitees deutscher Katholiken, Karl Friedrich Fürst zu Löwenstein-Wertheim-Rosenberg, waren zum ersten Mal in der deutschen Geschichte die Katholiken gegenüber den Protestanten nicht in der Minderheit, sondern spielten bei politischen Entscheidungsfindungen in der frühen Bundesrepublik eine wichtige Rolle. Die vom Zentralkomitee deutscher Katholiken organisierte Gremienarbeit war mit einflussreichen Politikern besetzt und bekam auf allen Entscheidungsebenen eine große Bedeutung.
Doch genau diese enge Verknüpfung von Regierung und Kirche kritisierte Böll schon früh, etwa im Hinblick auf den fehlenden Einspruch der Kirche gegen die Wiederbewaffnung bzw. den Aufbau der Bundeswehr in den 1950er Jahren oder die direkte Wahlhilfe für die CDU/CSU von der Kanzel. Böll befand 1958 in dem Essay-Brief an einen jungen Katholiken die Fast-Kongruenz von CDU und Kirche verhängnisvoll, weil sie zur Bedeutungslosigkeit der Kirche führen könnte. Er kritisierte die Destruktion christlicher Werte zugunsten institutioneller Machtansprüche und Einflussnahmen, die Deutungshoheit beanspruchende Instrumentalisierung einer Moralinterpretation, die „Moral immer noch mit sexueller Moral identifiziert“, politische Moral jedoch systematisch ausblendet.
Böll äußerte seine Kritik an der katholischen Amtskirche und dem organisierten Verbandskatholizismus in Aufsätzen und Interviews. Immer wieder verglich Heinrich Böll den Anspruch der westdeutschen Gesellschaft, sie stehe auf der Grundlage des Christentums mit der Realität und stellte fest, dass christliche Werte wie Mitmenschlichkeit und Brüderlichkeit nicht zu gesellschaftlichen Kategorien gemacht wurden. Er thematisierte diese Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit auch in seinen Romanen und wurde mit dem Vorwurf konfrontiert, ihm sei der moralisierend erhobene Zeigefinger wichtiger als die Literatur. Bölls Hinweis, dass die katholische Kirche wenig zur christlichen Orientierung beitrage, weil sie aus eigenen Machtansprüchen Grundwerte wie Mitmenschlichkeit und Brüderlichkeit aus pragmatischen Gründen unterdrückt, wurde als Anmaßung empfunden. Dabei diente der Vorwurf des „erhobenen Zeigefingers“ lediglich dazu, Bölls literarische Arbeit zu diskreditieren, sein Anliegen zu diffamieren und vor allem eine inhaltliche Auseinandersetzung zu verhindern.
Das Urteil bzw. Vorurteil, Böll sei moralisierend und kein reflektierender Autor, der die gesellschaftlichen Themen und Probleme seiner Zeit in seinem Werk spiegelt, hat sich bis in die jetzige Zeit fort- und festgesetzt – wird aber zunehmend brüchig. Jüngste Publikationen zeigen ein anderes Bild. Ihnen entsprechend entwirft der Roman "Ansichten eines Clowns" das Bild eines Menschen in einer scheinbar ausweglosen konkreten Situation, die aber sinnbildlich auf andere Zustände, Zeiten und Lebenskonstellationen übertragbar ist.
Hans Schnier protestiert gegen Normen und Konventionen mit der die Kirche bzw. die Gesellschaft seinen Lebensentwurf in Frage stellen. Nicht explizit, aber offensichtlich drängt sich die Frage auf, wer eigentlich diese Normen definiert und wer über diese Ordnungsprinzipien bestimmt. Böll spricht in einem Vorwort zu Walter Warnachs Buch "Wege im Labyrinth" von 1982 davon, dass das Romanprojekt „Widerstand gegen die selbstgefälligen Kräfte und Gruppen [war], die zu ihrem unantastbaren Eigentum erklärten, zu ihrem eigenen Besitz, was man nicht besitzen kann wie etwas katasteramtlich Verbrieftes: Christentum und Demokratie“. Hans Schnier verkörpert diesen Impuls des Widerstandes des in Ich-Form verfassten Romans radikal subjektiv. So erscheint die katholische Administration als mächtige Verwaltung zur Durchsetzung „gewisser Ordnungen“, die kontrolliert, menschliche Bedürf-nisse regelt und moralisiert, mit Strafen droht und sich als autoritär, unbarmherzig und unerbittlich erweist. Dass es Formen der Verwaltung geben muss, so erläuterte Böll 1969 in einem Interview mit dem Norddeutschen Rundfunk, sei selbstverständlich,
„aber die totale Verwaltung ist eigentlich ein faschistischer Prozess, und der ist auch für mich in dieser scheinbar demokratischen Welt drin, und den versuche ich auszudrücken als Autor, nicht indem ich das Faschismus nenne. Das ist ja nur ein, sagen wir, strittiges Wort für viele Erscheinungen. Aber dazu brauche ich eben einen ganzen Roman, in dem das Wort Faschismus gar nicht vorkommt, um auszudrücken, dass diese Elemente in der Gesellschaft drin sind.“
Böll ging es um die Sprengung autoritärer Strukturen von innen, und für die Darstellung bezog er sich auf die katholische Kirche, weil es das für ihn vertrauteste und bekannteste Modell ist. „Ich glaube aber, dass es auch übertragbar ist auf andere autoritäre Strukturen. Für mich ist das Problem kein religiöses, sondern ein Strukturproblem“, sagte er im März 1969 im Interview mit Klaus Colberg für den Österreichischen Rundfunk.
Bölls Zeitgenossenschaft als Denkprinzip zeigt sich darin, und das könnte von Interesse für die Re-Lektüre bzw. für junge Leserinnen und Leser sein, dass der Clown gegen Formen und Konventionen rebelliert, die ihm vorgesetzt werden und die Umsetzung seines Lebensentwurfs verhindern. Er hinterfragt vorgegebene Denkmuster und verteidigt sein Bedürfnis nach individueller Freiheit. Er will nicht den Erwartungen entsprechen müssen, auch wenn es einen sozialen Abstieg bedeutet. Die Widersprüche, mit denen sich der Clown konfrontiert sieht, sind heute größtenteils obsolet, aber das Grundmuster, die Behauptung der eigenen Autonomie gegenüber den Ansprüchen der Gesellschaft, hat sich nicht verändert. In ihr liegt die Aufforderung zu einem widerständigen Leben, gerade in einer demokratischen Gesellschaft, die diese Pluralität braucht.
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