Marianne vor der Wahl: Wahlkampf ohne Vorbild

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Place de la République, Paris

Wenige Wochen vor dem zweiten Durchgang am 7. Mai ist bei den Präsidentschaftswahlen in Frankreich noch alles offen. Die Konstellationen und Siegchancen ändern sich im Stundentakt. Mit unserem Blog „Marianne vor der Wahl“ wollen wir die Entwicklungen beim französischen Nachbarn beleuchten, analysieren und hinterfragen. 

„Noch nie war die Situation zwei Monate vor einer Wahl in Frankreich so unsicher wie jetzt“, sagt Nonna Mayer, einer der bekanntesten Wahlforscherinnen Frankreichs. Eigentlich in Rente, ist sie derzeit besonders gefragt, denn seit Jahrzehnten hat die Parteienexpertin einen Forschungsschwerpunkt: den Front National. Einer der wenigen Konstanten bei diesem Präsidentschaftswahlkampf scheint die Stärke der von Marine Le Pen angeführten Partei zu sein. Seit Monaten kommt die FN-Chefin in nahezu allen Umfragen mit einem Ergebnis von um die 25 % im ersten Wahlgang sicher in den zweiten Wahlgang. Derjenige der ihr dann als Kandidat gegenübersteht – und es gibt außer ihr nur männliche Kandidaten – hat große Chancen, die Mehrheit der Französinnen und Franzosen hinter sich zu versammeln. Vor einigen Wochen schien das sicher der in einer erfolgreichen Urwahl der Konservativen gekürte Kandidat Francois Fillon zu sein. Knietief ist dieser nun in eine Affäre um die äußerst lukrative Beschäftigung seiner Frau und Kinder als Parlamentsassistenten versunken – dumm dabei, dass sich seine Frau Penelope durchweg großformatig als Hausfrau und Mutter vermarktet hatte. Abgestürzt in den Umfragen, hält Fillon unverdrossen an der eigenen Kandidatur fest. Favorit für einen Einzug in den zweiten Wahlgang hinter der Le Pen ist jetzt der parteilose, frühere Wirtschaftsminister Emmanuel Macron und seine Bewegung „En Marche“. 

Erstmals seit der Einführung der Direktwahl des Präsidenten in der Fünften Republik im Jahr 1965, könnte damit kein Kandidat der beiden großen politischen Lager, der Sozialisten auf der einen wie der konservativen Republikaner auf der anderen Seiten, in die Stichwahl um das höchste und wichtigste Amt kommen. 

Passend dazu wird der Kampf gegen „das System“ und etablierte Strukturen zu einem zentralen Merkmal dieser Auseinandersetzung. Für den rechtspopulistischen Front National gehört das seit Jahrzehnten zur eigenen DNA. Dass die FN-Chefin Marine Le Pen den Vorsitz von ihrem Vater in Erbmonarchie übernommen hat, ändert daran nichts. Allerdings hat die Tochter wenig gemein mit ihrem Vater, versucht mit vermeintlicher Seriosität und Freundlichkeit zu punkten, duldet nicht mehr Antisemitismus oder auch Homophobie in ihren Reihen. Dafür setzt sie umso deutlicher auf die drei großen typischen A‘s des Rechtspopulismus: Anti-Immigration, Anti-Europa und Anti-Islam, jeweils in wechselnden Kombinationen. 

Nicht zu vergessen die Kampagne gegen das „System“ der Eliten in Paris sowie die Grundelemente der Demokratie, gegen die Justiz und die Medien. Darin war Le Pen auch Trump bereits Jahre voraus. Nur wird diese Strategie jetzt noch geadelt vom einst als seriös und glaubwürdig geltenden Kandidaten der Konservativen: Konfrontiert mit dem Ermittlungsverfahren in der Affäre um die Beschäftigung von Frau und Kindern sowie der Kritik der Presse, ruft jetzt Francois Fillon seine Anhänger dazu auf, sich dem vermeintlichen „Staatsstreich“ von unabhängiger Justiz und Presse entgegenzustellen. Das sei „wirklich dramatisch für die Demokratie in Frankreich“, urteilt die Politikwissenschaftlerin Nonna Mayer. Aber selbst ein Emmanuel Macron legt großen Wert darauf, als parteiloser Kandidat nichts mit dem etablierten Parteiensystem zu tun haben zu wollen. Offen bleibt, mit wem und wie er dann einmal regieren will. 

Ein gefährliches Gebräu, da sich da beim Nachbarn zusammenmixt. Noch ist Marine Le Pen weit entfernt von den Toren des Präsidentenpalastes Élysée, noch steht eine klare Mehrheit der Französinnen und Franzosen gegen sie. Aber die Gefahr wächst, dass doch eine Situation entsteht, die ihr die Schlüssel der Macht in die Hände gibt. 

Mit nicht auszudenkenden Folgen für Europa – und damit auch den Partner Deutschland. Gelangt Marine Le Pen in den Élysée, wird sie alles versuchen, dem europäischen Projekt den Garaus zu machen. Da sollte man sie beim Wort nehmen. Ohne Frankreich ist eine Europäische Union nicht denkbar, das wäre das Aus. Ein Hoffnungsschimmer ist da, dass es mit dem Jungstar der französischen Politik, Emmanuel Macron, sowie dem Sieger der Urwahlen bei den Sozialisten, Benoît Hamon, zumindest zwei überzeugte Proeuropäer gibt, die der FN-Chefin im Wahlkampfgetöse Paroli bieten.

Auch das ist neu und ein besonderes Merkmal: Der Kampf um Europa bei einer Präsidentschaftswahl. 

Damit entscheiden Französinnen und Franzosen bei diesen Wahlen nicht nur über das Schicksal in ihrem Land, sie entscheiden mit ihrer Wahl auch über das Schicksal ganz Europas. 

Kein Wunder, dass das Wahlgeschehen beim Nachbarn in Deutschland ein so großes Interesse hervorruft. Dem will das Frankreich-Büro der Heinrich-Böll-Stiftung mit diesem Wahlblog Rechnung tragen, Frankreich auf die Couch legen, auf den Zahn fühlen, Hintergründe ausleuchten und Analysen vorlegen. Möglichst zu Themen und Geschichten, die noch nicht alle anderen aufgeschrieben haben. Und das prägnant, anschaulich und gut verständlich. 

Wenig verwunderlich: Der Blick der Heinrich-Böll-Stiftung auf das Wahlkampf-Geschehen wird grün getönt sein. Besonders interessiert uns die Vertrauenskrise in die Demokratie, ihre Institutionen und Prozesse und welche Folgen diese hat. Den Kampf um Glaubwürdigkeit zwischen Fakten und Fake News werden wir genau verfolgen. Wir wollen wissen, mit welchen Strategien und Methoden der Rechtspopulismus in Frankreich vorgeht, auch im europäischen Vergleich. Bei Fragen zu Ökologie und Energiepolitik schauen wir genauer hin als andere. Schließlich ist die Frage, wie sich die Wahl in Frankreich auf das deutsch-französische Verhältnis und die Zukunft Europas auswirkt, der kräftige rote Faden.

Benannt haben wir diesen Wahl-Blog nach dem Revolutions-Symbol der Freiheit und später der ganzen Republik in Frankreich: Marianne. Stolz steht sie in Paris auf dem Place de la République, wo sich im letzten Sommer wochenlang die Aktivisten der Bewegung „Nuit Debout“ nächte- und tagelang versammelt haben. In Graffiti und Kunst wird sie variiert und interpretiert. Sie steht für die Werte der Republik, für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Werte, um deren Verteidigung es bei dieser Wahl in Frankreich gehen wird – wie noch nie in der Geschichte der V. Republik.