Bei der zweiten TV-Debatte im französischen Präsidentschaftswahlkampf trafen erstmals alle 11 zugelassenen Kandidaten aufeinander. Über vier Stunden präsentierten sie in der langwierigen Debatte ihre Positionen. Das nutzte vor allem den eher unbekannten Kandidaten. Als Sieger gingen dann aber Linkspartei-Kandidat Jean-Luc Mélenchon und der parteilose Emmanuel Macron vom Platz.
Bei dieser ersten TV-Debatte mussten die neun Kandidaten und nur zwei Kandidatinnen vor allem eines: Schweigen. Das Format mit allen zur Wahl zugelassenen Bewerbern um den Posten des Staats- und Regierungschefs zwang diese in gut 90 Prozent der Zeit gute oder weniger gute Miene zu den Ausführungen der Mitbewerber zu machen. Und das trotz vierstündiger Debatte. Das perfektionierte etwas übertrieben der gegenwärtige Favorit Macron: Er versuchte immer ernst und staatsmännisch dreinzublicken. Im Profil erinnerte er an den jungen, entschlossenen Napoléon, als ob er sich zuvor mit dessen Büste zu Trainingszwecken umstellt und diese unablässig studiert hätte. Lebendiger zeigte sich der Kandidat der Linkspartei, Jean-Luc Mélenchon, der Zustimmung, Ablehnung oder Interesse deutlich bekundete. Auch das trug dazu bei, dass beiden nach der TV-Debatte als Sieger vom Platz gehen konnten, zumindest nach einer Umfrage im Auftrag des Senders BFMTV, der die Debatte durchgeführt hatte: Mélenchon hielten 26 Prozent für den Überzeugendsten, Macron war es für 21 Prozent. Wichtiger waren aber sicherlich die Redeanteile und zumindest streckenweise lebendigen Debatten.
Musterbeispiel demokratischer Gleichbehandlung: Vorbild für Deutschland?
Im Vorfeld und bei der ersten Debatte am 20. März war kritisch diskutiert worden, dass nur die fünf Favoriten auftreten konnten. Diesmal waren alle elf Kandidaten vertreten, die mindestens 500 Mandatsträger hatten für sich gewinnen können und damit zur Wahl zugelassen sind. Erstmals in der Geschichte Frankreichs gab es vor dem ersten Wahldurchgang am 23. April eine solche Fernsehrunde. Zwangsläufig führte das zu einem etwas sperrigen und mit vier Stunden langwierigen Format, bei dem die unbekannten Kandidaten viel gewinnen und der Kreis der Favoriten umso mehr verlieren konnte. Wenn es auch keine Sternstunde ansprechenden Infotainments war, so erwies es sich doch als Musterbeispiel demokratischer Gleichbehandlung. Insbesondere aus deutscher Sicht lohnt es sich, darauf einen zweiten Blick zu werfen: Verweigern sich bei den deutschen Wahlen doch regelmäßig die Kandidaten der Union und der SPD einer TV-Debatte mit den Spitzenkandidaten der anderen Parteien vor der Wahl, selbst mit den Vertretern der im Bundestag vertretenen Parteien, das wären übrigens nur vier Personen. Unions-Kandidatin Angela Merkel und die SPD-Kandidaten Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück debattierten 2009 und 2013 nur exklusiv unter sich in den sogenannten Kanzlerduellen, während die weiteren Kandidaten in Extra-Formaten alleine streiten durften. Das war 2009 absurd, als die Spitzenkandidaten der regierenden Großen Koalition unter sich diskutierten, das droht 2017 noch absurder zu werden, wenn mit Angela Merkel und Martin Schulz wieder nur die Kandidaten der Regierungsparteien unter sich sind – und sich dann die im Bundestag vertretene Linkspartei und die Grünen mit den APO-Vertretern der FDP und AfD in kleinen Extra-Formaten kloppen dürfen. Eine bizarre Vorstellung, die allerdings, wie man hört, so in Planung zu sein scheint. Erst nach dem die Wahlbüros geschlossen sind, sind dann plötzlich auch die Unions- und SPD-Kandidaten bereit, mit allen anderen in einer TV-Runde zu sitzen.
Die selbsternannten Anti-System-Kämpfer werden plötzlich zum System
Dabei dürfte der Einfluss dieser TV-Debatten auf die Wahlentscheidung kaum zu unterschätzen sein. In Frankreich sind noch über 40 Prozent unentschieden, die erste TV-Debatte war von 10 Millionen Zuschauern verfolgt worden, diese zweite verfolgten 6,3 Millionen. Sie brachte einige Klärungen und überraschende Erkenntnisse, obwohl jeder Kandidat in den vier Stunden nur etwa 18 Minuten Redezeit für sich in Anspruch nehmen konnte. So wurden die fünf Favoriten, von denen vier wesentliche Teile ihrer Kampagne darauf aufbauen, in unterschiedlicher Form gegen das System zu sein, plötzlich in der Auseinandersetzung mit den radikalen Außenseitern links und rechts selbst zu Vertretern des Systems. Diese Anti-System-Aufstellung ist ein zentrales Merkmal und eine Besonderheit dieses Wahlkampfes in Frankreich: Obwohl alle Kandidaten, die eine relevante Rolle spielen, in der ein oder anderen Weise Produkte der Pariser Eliten-Zirkel sind, machen sie in unterschiedlicher Form Wahlkampf gegen dieses System: Marine Le Pen in klassisch rechtspopulistischer Manier gegen das „Pariser Establishment“ insgesamt, Emmanuel Macron als parteiunabhängiger Kandidat gegen das Parteiensystems und die in Frankreich traditionnelle parteipolitische Konfliktlinie zwischen Rechts und Links, Jean-Luc Mélenchon von der Linkspartei gegen das „Europa der Banken, Finanzjongleure und Großkonzerne“ und überhaupt gegen Kapitalismus und Globalisierung. François Fillon, Kandidat der Konservativen, mobilisiert seit seinen Affären und die Ermittlungen gegen ihn wegen einer möglichen Scheinbeschäftigung seiner Frau und Kinder als hochbezahlten parlamentarischen Mitarbeiter jetzt à la Trump gegen Justiz und Medien. Nur der Kandidat der Sozialisten, Benoît Hamon, ist zwar gegen die bisherige Regierung und ihre politische Linie, führt aber sonst keinen Feldzug gegen welches System auch immer. Allerdings gerät er damit zunehmend ins Hintertreffen – angesichts der tiefen Vertrauenskrise in Frankreich hilft ihm diese Linie wenig.
Rechtspopulistin Marine Le Pen im Visier
Die selbsternannte neue Anwältin der Arbeiterklasse, Marine Le Pen, die in diesem Wählermilieu in besonderer Weise punktet, wurde an diesem Abend von rechts wie links scharf angegriffen. Außenseiter Philippe Poutou von der Neuen Antikapitalistischen Rechten, der sich demonstrativ im Schlabber-Pulli-Look von den sonstigen Anzug- und Krawattenträgern abhob, griff die FN-Chefin scharf dafür an, dass sie mit ihrer Immunität als Abgeordnete der Vorladung der Richter wegen der Ermittlungen gegen sie zur Scheinbeschäftigung von Mitarbeitern des Europäischen Parlaments einfach fernbleiben könne. Demgegenüber hätten Arbeiter keine „Arbeiter-Immunität“ und zum Beispiel er keine Möglichkeit, sich einer solchen Vorladung zu entziehen. Dann wurde Marine Le Pen auch noch von rechts überholt und attackiert: Der Außenseiter-Kandidat François Asselineau, ein entschiedener Verfechter des „Frexit“, warf ihr vor, viel zu lax zu sein in Bezug auf einen Ausstieg aus Europa, da Le Pen erst in Brüssel verhandeln und dann die Franzosen über einen Ausstieg aus Europa abstimmen lassen wolle. Kein guter Abend für Marine Le Pen, sollte man meinen. Allerdings erlaubte der FN-Chefin diese Konstellation, sich als mehr moderat denn extrem zu zeigen – und im Vergleich zu manch anderen Kandidaten in der Runde als vermeintlich seriöse politische Kraft. Hinzu kam, dass der Außenseiter Asselineau permanent Artikel aus den Europäischen Verträgen zitierte und mit diesen in die Kamera wedelte – und damit nicht wirklich punkten konnte. Dagegen versuchte sich der scharfrechte und nationalkonservative Nicolas Dupont-Aignan als seriösere Alternative gegenüber Le Pen und integre Alternative gegenüber dem Affären geschüttelten Fillon zu profilieren und diese seltene Bühne optimal für sich zu nutzen. Dafür attackiert er insbesondere den früheren Premier. Dieser hätte zu denen gehört, die Frankreich belogen und ruiniert hätten in den vergangenen Jahren, er habe trotz des Referendums der Franzosen gegen den Maastricht-Vertrag diesen ratifiziert. Der ehemalige Premier Fillon versuchte demgegenüber möglichst ruhig, souverän und staatsmännisch aufzutreten, konnte insgesamt aber wenig überzeugen, umso mehr, da seine Affären bei der Frage, wie ein beispielhafter Präsident aussehen sollten, ausführlicher als bei der ersten Debatte zur Sprache kam.
Kampf um Europa
Wenn auch nur einmal ausdrücklich thematisiert, tauchte auch bei den anderen Themenbereichen immer wieder der zentrale Streitpunkt dieses Wahlkampfes, das Thema Europa auf. Eigentlich gab es drei Themenblöcke „Wie können Jobs geschaffen werden?“, „Wie können die Franzosen geschützt werden?“, „Wie wollen sie ihr soziales Modell umsetzen?“, aber das Verhältnis zu Europa war dauerpräsent. Erneut gab es in dieser Frage einen heftigen Schlagabtausch zwischen den Favoriten Le Pen und Macron, wobei Macron vor allem auf die Botschaft setzte, dass Europa die Menschen beschützt, während die Politik von Le Pen die Sparer bedroht, Jobs vernichtet und neuen Nationalismus hervorrufen würde – der letztlich wieder zu Krieg führen würde. Plastisch verwies er auf seine von Gräbern aus dem 1. Weltkrieg gepflasterte Heimatregion Somme. Der Kandidat der Sozialisten, Hamon, hatte einen starken Auftritt, indem er Mélenchons Position zu Europa attackierte: Dieser würde mit seiner Forderung nach einem Austritt und einer kompletten Neuverhandlung der Verträge letztlich die Latte für Neuverhandlungen sehr hoch legen, stattdessen sollte er die Latte für Lösungen hoch setzen: „Das wird beim Plan B enden, dem Ausstieg aus dem Euro“ schleuderte er Mélenchon entgegen. Damit markierte der Kandidat der Sozialisten und Grünen auch einen klaren Unterschied mit seiner deutlich proeuropäischen Haltung gegenüber dem antieuropäischen Populismus eines Jean-Luc Mélenchon. Überraschend wurde diese Haltung auch von ganz anderer Seite attackiert: Die Trotzkistin Nathalie Arthaud vom „Kampf der Arbeiter“ spießte auf, nicht Europa sei schuld an dem Profistreben und Geschäftsgebaren von Großkonzernen, schlecht bezahlt sei schlecht bezahlt, ob in Euro oder Franc. Dafür vor allem Europa verantwortlich zu machen, sei Augenwischerei, hielt sie vor allem auch Le Pen entgegen.
Klare Alternativen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik
Nur gestreift wurde diesmal die Außen- und Sicherheitspolitik, vor allem im Themenblock zum Umgang mit dem Terrorismus. Scharfkantig geführt wurde die Debatte zur Stellung des Islam und zu Immigration, hier erwies sich wie schon in der ersten Debatte vor allem Mélenchon als leidenschaftlicher Gegenpart zu Le Pen: Als diese Weihnachtskrippen in öffentlichen Gebäuden forderte, rief er ihr entgegen, sie solle die Franzosen mit der Religion in Ruhe lassen, über 60 Prozent von ihnen seien nicht gläubig. Das könnte Le Pen allerdings eher genutzt als geschadet haben, ihre überraschende Intervention zu Gunsten der Weihnachtskrippen war offenkundig vor allem an die von Fillon enttäuschten katholischen Wähler gedacht. Am überzeugendsten ging auf dieses Thema der Sozialist Hamon in seinem Abschlussstatement ein, wo er die gelebte Vielfalt der französischen Gesellschaft als eine der entscheidenden Stärken des Landes beschwor.
Sehr klar wurden die Alternativen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik: Während die einen, Mélenchon und Hamon vor allem auf eine Stärkung der Kaufkraft und umfangreiche Investitionen des Staates setzen, durchaus auch um eine Energie- und Agrarwende voran zu bringen, und dafür auch die Defizit-Regeln außer Kraft setzen wollen, setzen Fillon in radikalerer und Macron in moderaterer Form darauf, die Rahmenbedingungen für Unternehmen zu verbessern, ihre Belastungen zu verringern und den Arbeitsmarkt zu reformieren. Beide Ansätze werden von Le Pen als Rezepte der vergangenen Jahrzehnte gebrandmarkt, die keine Erfolge gezeigt hätten. Sie propagiert stattdessen einen „intelligenten Protektionismus“ und die Renationalisierung der Agrarpolitik – und führte als vermeintliche Erfolgsbeispiele dafür die Schweiz und Nordkorea an. Zwar brachten Hamon wie auch Mélenchon immer wieder die Notwendigkeit einer Energie- und auch Agrarwende auf das Tapet. Allerdings wurde diesmal im Unterschied zur ersten Debatte das Thema Atom nicht zum Gegenstand einer hitzigen Auseinandersetzung.
Macron und Le Pen bleiben Favoriten, Hamon weit abgeschlagen
Allerdings dürfte der Kampf um die Vorreiterrolle im linken Lager zwischen dem Linkspartei-Politiker Mélenchon und dem Sozialist Hamon nun entschieden sein: Aus zwei Debatten ging der Linkspartei-Politiker als Sieger hervor. Das hatte ihn nach der ersten Debatte am 20. März erstmals in den Umfragen vor den Kandidaten der Sozialisten gebracht, in einer aktuellen Umfrage liegt er bei 15 Prozent gegenüber 10 Prozent für den linksgrünen Kandidaten. Es dürfte Hamon kaum gelingen, diesen Vorsprung noch einzuholen. Mit einem schlechten Abschneiden wird auch dessen Führungsrolle innerhalb der ohnehin gespaltenen Sozialisten in Frage gestellt werden – und damit möglicherweise auch das Abkommen mit den französischen Grünen, das diesen bislang die Chance gibt, wieder mit Abgeordneten in der Assemblée Nationale vertreten zu sein.
Noch sind über 40 Prozent der Wählerinnen und Wähler unentschieden, bei den Sympathisanten von Macron sind es sogar etwas über 40 Prozent, die unsicher sind. Dieser hat mit der TV-Debatte seine Favoritenrolle nicht gefährdet, bei der Frage nach der Eignung als Präsident (27 Prozent) und bei der Frage nach dem besten politischen Konzept für Frankreich (22 Prozent) ging er als Sieger vom Platz. Über 80 Prozent der Anhängerschaft von Le Pen sind dagegen jetzt schon überzeugt, für diese stimmen zu wollen. In einer aktuellen Umfrage liegen nun beide Kopf an Kopf bei 23,5 Prozent im ersten Wahldurchgang. Bei der anschließenden Stichwahl würde der frühere Wirtschaftsminister Macron aber deutlich mit über 60 Prozent gewinnen, so die Umfragen. Eine weitere TV-Debatte wird es nun nicht mehr geben, eine Einladung von France 2 für den 20. April um damit drei Tage vor der Wahl wurde von mehreren Umfrage-Favoriten abgelehnt: Sie haben wenig Interesse daran, sich noch einmal auf großer TV-Bühne von den Außenseitern zerpflücken zu lassen.