Der Brexit stellt die verbleibende EU-27 vor enorme politische Herausforderungen. Nicht nur wegen dem bedeutsamen wirtschaftlichen und politischen Gewicht Großbritanniens, sondern auch aufgrund der bevorstehenden komplizierten Austrittsverhandlungen.
Die britischen Bürger/innen haben sich mit knapp 52 Prozent für den Austritt aus der Europäischen Union (EU) entschieden – und doch sind die ersten Tage nach dem EU-Referendum nicht von Aufbruch, sondern von politischen Chaos in Westminster und rechtlichen Fragen geprägt, wann und ob Großbritannien tatsächlich aus der Union austritt. Für die deutsche Europapolitik und die nunmehr EU-27 stellen sich nicht nur, aber auch wegen dem bedeutsamen wirtschaftlichen und politischen Gewichts Großbritanniens enorme politische Herausforderungen.
Ein langer Weg bis zu den Austrittsverhandlungen
Erstens ist das Austrittsverfahren trotz der bereits bestehenden Sonderstellung Großbritanniens außerhalb von Schengen und Eurozone eine politisch, rechtlich und wirtschaftlich enorm schwierige Operation. Rechtlich kann jeder EU-Mitgliedstaat nach Art. 50 EUV den Austritt aus der EU beantragen. Doch so einfach ist die Lage politisch nicht.
Zunächst hat Noch-Premier Cameron trotz des klaren Votums der Briten und Britinnen die Notifizierung nach Art. 50 noch nicht nach Brüssel geschickt. Das hat nur nachrangig mit dem politischen Chaos in Großbritannien zu tun. Vor allem stellt eine Aktivierung der Austrittsklausel Großbritannien in eine schlechtere strategische Position – einmal aktiviert, setzt der EU-Vertrag eine Frist von zwei Jahren, innerhalb der ein Austrittsvertrag zwischen Großbritannien und dem Rest der EU ausgehandelt werden muss. Erst nach Ablauf der Frist oder mit Inkrafttreten des Austrittsvertrags wird der Ausstieg aus der EU tatsächlich vollzogen.
Da das Vereinigte Königreich aber mehr als die anderen EU-Staaten auf eine Einigung über die zukünftigen Beziehungen mit der Union angewiesen ist, steht London ab Beginn der formellen Notifizierung sofort unter Zeitdruck. Hinzukommt, das namhafte britische Rechtsexpert/innen argumentieren, dass dieser Austrittsantrag nur mit einem Parlamentsbeschluss – vom Unter- und Oberhaus – gestellt werden kann. Auch der oder die Nachfolger/in von Cameron wird den formellen Antrag für den EU-Austritt frühestens im Herbst 2016, wahrscheinlich aber eher erst in 2017 oder sogar später stellen. Und die EU hat rechtlich keinerlei Handhabe, Großbritannien zum formellen Austrittsantrag zu zwingen. Um dies jedoch politisch einzufordern, haben die EU-Staats- und Regierungschef auf dem Europäischen Rat am 29. Juni 2016 beschlossen, vor Notifizierung durch Großbritannien keine informellen Verhandlungen zu beginnen. Es droht bereits jetzt eine lange Hängepartie.
Zwei Verträge, zwei sehr harte Verhandlungen
Doch selbst wenn ein solcher Austrittsantrag gestellt werden sollte, fangen die schwierigen Verhandlungen erst an. Nach herrschender Meinung sind zwei unterschiedliche Verträge notwendig – einmal der Austrittsvertrag im Sinne von Art. 50 EUV, welcher die Übergangsbestimmungen regelt, zum Beispiel den Umgang mit EU-Bürger/innen in Großbritannien. Dieser ist in den zwei Jahren durchaus verhandelbar. Gefordert ist aus beiderseitigem Interesse aber auch eine Einigung über die zukünftige wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit, die über ein Assoziierungsabkommen oder den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) geregelt werden könnte. Beides erfordert aber nicht nur die Ratifikation in den nationalen Parlamenten einschließlich dem Bundestag, sondern auch wesentlich längere und intensivere Verhandlungen entlang harter Interessensunterschiede.
Zwei strategische Entscheidungen stehen hier an: Zum einen, ob diese beiden Verträge parallel verhandelt werden sollen. Nicht nur Großbritannien wird darauf drängen, um die wirtschaftlichen Folgen begrenzt zu halten. Auch für wirtschaftlich eng mit dem Vereinigten Königreich verbundene Mitgliedstaaten wie die Niederlande, Irland oder auch Deutschland wäre das die präferierte Option. Allerdings sprechen sich die Brüsseler Spitzen bisher für eine getrennte Herangehensweise aus, um die Dauer der Austrittsverhandlungen zu begrenzen.
Zum anderen müssen sich die EU-27 einigen, welchen wirtschaftlichen Zugang sie Großbritannien zum Binnenmarkt zugestehen wollen. Auch hier deuten sich schon die Konfliktlinien an: Nach der vor allem um Migration geführten Kampagne versprechen die führenden Kandidat/innen für die Nachfolge von David Cameron wie Theresa May, Michael Gove oder Andrea Leadsom den Briten und Britinnen, Zugang zum Binnenmarkt ohne Freizügigkeit zu erreichen. Die EU-27 haben jedoch bereits klar gemacht – eine volle Aufrechterhaltung des gemeinsamen Marktes sei nur möglich, wenn alle vier Freiheiten bestehen bleiben und sich Großbritannien an die EU-Regeln halten würde. Rückt die EU hiervon ab, würde sie einen der größten Vorteile der Mitgliedschaft leichtfertig abgeben und damit ihren inneren Zusammenhalt gefährden.
Schwieriger Umgang mit Großbritannien im Interregnum
Während dieser gesamten Verhandlungen – auch nach Aktivierung von Art. 50 EUV – bleibt Großbritannien formell Mitglied der EU mit allen seinen Pflichten, aber auch Rechten. Dies bedeutet Teilnahme an allen formellen Sitzungen, Vetorechte wie in der Außen- und Sicherheitspolitik oder die Stimmrechte der britischen Abgeordneten im Europäischen Parlament.
Dies erschwert die zukünftige Zusammenarbeit in der EU in zweierlei Hinsicht. Auf der einen Seite könnte die britische Regierung versucht sein, ihre Interessen in den Verhandlungen mit einer Blockadepolitik in der EU durchzusetzen. Rechtlich können die EU-27 Großbritannien dieser Stimmrechte nicht berauben. Im Zweifelsfall bliebe den anderen EU-Staaten bei längeren Blockaden nur die Möglichkeit, das Mittel der verstärkten Zusammenarbeit zu nutzen, in der schon heute Gruppen von EU-Staaten voranschreiten können. Jede verstärkte Zusammenarbeit aber würde die Konstruktion der EU weiter verkomplizieren, falls sich dann doch nicht alle 27 beteiligen.
Zudem besteht die Gefahr, dass die britische Regierung und auch britische Unternehmen, EU-Regelungen schon vor dem vollzogenen Austritt nicht mehr umsetzen oder sogar aktiv entgegenwirken. Dies betrifft insbesondere die Felder, in denen die Austrittskampagne Versprechungen gemacht hat, die angesichts des absehbar über Jahre noch nicht vollzogenen Austritts EU-Gesetzgebung widersprechen.
Zusammenhalt der EU sichern
Zuletzt stellt das Brexit-Votum auch die Frage nach der Zukunft der EU neu. Die Briten und Britinnen haben ein Misstrauensvotum gegen die Union ausgestellt und sind dabei Argumenten gefolgt, die mittlerweile in vielen EU-Staaten Resonanz finden – Begrenzung von Migration, Misstrauen in die politischen Eliten, der Schutz nationaler Souveränität und Identität. Bereits kurz nach dem Votum haben Marine Le Pen, Geert Wilders und Norbert Hofer eigene Austrittsreferenden für ihre Länder gefordert. In Frankreich und den Niederlanden wird 2017 gewählt, der Präsidentschaftswahlkampf in Österreich muss voraussichtlich noch 2016 wiederholt werden. In diesen Wahlkämpfen werden sich die politischen Eliten der Frage stellen müssen, was die EU für ihre Länder bedeutet und welche EU sie sich in Zukunft vorstellen.
Auf der anderen Seite kommt die Frage einer weiteren Reform der EU mit Nachdruck auf die Tagesordnung. Nach mehr als sechs Krisenjahren bleiben Eurozone und Schengenraum instabile Systeme, in denen die Defizite der EU-Konstruktion aufgezeigt wurden. Die ersten Antworten aus Brüssel und weiteren nationalen Hauptstädten auf das Brexit-Votum waren bisher aber davon geprägt, bereits vorher bestehende Sichtweisen zu unterstreichen – eine Forderung nach stärkerer Durchsetzung der Haushaltsregeln seitens des deutschen Finanzministers, ein Ruf nach Ende der Austerität vom griechischen Premier, um nur zwei Beispiele zu nennen. Ebenso unvereinbar stehen sich Rufe nach mehr Europa aus Brüssel und Rückkehr zum Nationalstaat etwa aus mittel- und osteuropäischen Hauptstädten gegenüber. Die EU steht hier vor der Quadratur des Kreises: Auf der einen Seite muss sie Handlungs- und Reformfähigkeit zeigen, und spürbare Fortschritte in ihren Krisenbereichen erreichen, auf der anderen Seite lassen die harten Interessensunterschiede und die wachsende Ablehnung gegen weitere EU-Integration kaum schnelle Fortschritte erwarten.