
In der Reihe „Das politische Buch“, die in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut zum zweiten Mal stattfand, lud die Heinrich-Böll-Stiftung Frankreich am 29. Oktober 2018 zur Veranstaltung „Was ist Populismus?“ (Qu’est-ce que le populisme ?) ein. Ein Diskussionsabend anlässlich der französischen Publikation des gleichnamigen Buches des Princeton-Professors Jan-Werner Müller. Wie Populisten agieren – und was sich dagegen tun lässt ?

Von „einem Volk“ und anderen Mythen
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Es war ein denkwürdiger Wahlsonntag. In Deutschland eroberte die AfD mit dem Einzug in den hessischen Landtag das letzte Länderparlament und in Brasilien war Jair Bolsonaro zum neuen Präsidenten gewählt worden. Der 28. Oktober 2018 schien ein weiterer Beweis für die Erfolgsgeschichte populistischer Politik. Ganz davon zu schweigen, dass der amerikanische Präsident Donald Trump im Vorfeld der Midterms, der Zwischenwahlen zum US-Kongress, nur wenige Tage später, eine vermeintliche Invasion von illegalen Migranten beschwor, um das Klima unter den Wählern zu seinen Gunsten zu beeinflussen.
Umso aktueller also die Debatte am Abend danach, zu der die Heinrich-Böll-Stiftung ins Pariser Goethe-Institut eingeladen hatte. Auf dem Podium trafen sich der Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung Frankreich, Jens Althoff, und die Wissenschaftler Jan-Werner Müller, Marc Lazar und Christèle Lagier, die aus ihrer jeweiligen Forschungsperspektive zum Thema Populismus Stellung beziehen sollten. Zu Beginn ging es um die Frage, wie nützlich die Verwendung der Bezeichnung „Populismus“ überhaupt ist, und was sie umfasst.
Diese Frage muss vor dem Hintergrund gestellt werden, dass sich bei einem Blick auf die Erfolgsgeschichte des Begriffes der Eindruck aufdrängt, dieses Wort werde geradezu inflationär verwendet, für immer mehr politische Formationen und Akteure.
Angefangen beim ungarischen Präsidenten Viktor Orbán, über die Alternative für Deutschland und die Partei Rassemblement National von Marine Le Pen, bis hin zum neuen italienischen Innenminister und stellv. Ministerpräsidenten Matteo Salvini oder Donald Trump auf der anderen Seite des Atlantiks.
Eingangs kommentierte Jan-Werner Müller, Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der amerikanischen Universität Princeton, ironisch, dass selbst Emmanuel Macron vorgeworfen worden sei, er sei ein „Populist der extremen Mitte“. Man müsse sich daher die Frage stellen, wie aussagekräftig der Begriff noch ist, wenn immer mehr Bewegungen, Parteien und Personen unter die Kategorie „Populismus“ gefasst werden. Jan-Werner Müller gab daher einleitend zu bedenken, dass wir es „mit einer Situation zu tun haben, in der wir alle möglichen Phänomene, für die wir eigentlich viel präzisere Begriffe haben, Protektionismus, Rassismus und verschiedene andere, mit diesem Label Populismus versehen.“
Dies habe gefährliche Konsequenzen, weil es zum einen alle anderen Mitbewerber um die Macht als illegitim diskreditiert. Zum anderen, weil es um die Etablierung einer Vorstellung des einen, des wahren Volkes gehe, zu denen nur jene Bürger gehören, die die Auffassungen der Populisten teilen. Andernfalls seien sie, so die populistische Haltung, nicht Teil des Volkes. Jan-Werner Müller verwies hierbei auf eine Rede Donald Trumps während des Wahlkampfes, deren Botschaft lautete „The only important thing is the unification of the people – because the other people don’t mean anything.“ Letztlich reduzierten Populisten somit alle Konflikte auf Fragen des Kulturkampfes. Ihre grundsätzlich anti-pluralistische Haltung präge ihre Vision der Welt.
„Die da oben“
Auch Marc Lazar, Historiker und Soziologe an der renommierten Pariser Universität Sciences Po, bescheinigte Populisten einen starken Anti-Pluralismus. Darüber hinaus führte Lazar ein weiteres populistisches Denkmuster hinzu: Die Dichotomie, die Zweiteilung in Gut und Böse, in Freund-Feind, in Ja-Nein, mit der sich auch die von Populisten häufig vorgebrachte Forderung nach mehr Volksbefragungen erklären lasse. Populisten argumentierten häufig mit dem Begriff „Kaste“, um die Eliten aus Politik, Wirtschaft, Medien und Wissenschaft zu beschreiben oder gar zu diffamieren. Besonders treffend beschreibt diese extrem überbetonte Zweitteilung die Zuschreibung „die da oben, wir da unten!“
Aber noch einen Faktor erläuterte Marc Lazar dem Publikum: Das Digitale Zeitalter spiele eine entscheidende Rolle, habe es doch zu einer „démocratie immédiate“ geführt, einer Demokratie, in der auf Grund der Schnelligkeit von Informationen kaum mehr Zeit bleibe, um Probleme in all ihrer Komplexität zu erörtern. Vielmehr ginge es um einfache Antworten auf komplexe Fragen (zur Erinnerung: eine Botschaft bei Twitter umfasst heute maximal 280 Zeichen!).
Kritischer betrachtete die Soziologin Christèle Lagier von der Université d’Avignon den Begriff Populismus. Sie forscht über die Wählerschaft des Rassemblement National (ehemals Front National). In ihren Untersuchungen versucht sie aufzuzeigen, dass die allgemein verbreitete Ansicht, Wähler von extrem rechten Parteien gehörten per se zu benachteiligten Bevölkerungsschichten mit geringerem Bildungsgrad, so einfach nicht zutreffend sei. Vielmehr seien unter den Wählern Personen in geregelten Berufsverhältnissen, die Steuern zahlten und geringfügiges Interesse an Politik haben.
Die Macht des Framing
Die Bedeutung der unterschiedlichen Begriffsverwendung unterstrich auch Jens Althoff, Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung Frankreich. In jüngster Zeit habe sich gerade in Deutschland eine Rhetorik durchgesetzt, die das Vokabular von Populisten aufgreift. Er verwies auf das Konzept des Framing als Strategie der politischen Kommunikation, die darin bestehe, die eigenen Werte in wirksame Worte zu fassen, und damit das kollektive Sprechen mit Bildern aufzuladen. So nannte er die Beispiele „Asyl-Tourismus“, einen Begriff, den die CSU im bayerischen Wahlkampf verwendet hat, oder den breit verwendeten Begriff einer vermeintlichen „Flüchtlingskrise“ Die Debatte zum Thema Einwanderung sei besonders aufgeladen mit Bildern, bis hin zur Normalisierung von populistischen Diskurselementen.
Allerdings, so gab Jan-Werner Müller anschließend zu bedenken, sei auch die Deutungshoheit anderer Begriffe wie Freiheit oder Demokratie umkämpft, ohne dass man ihre Verwendung in Frage stellt. „Einige in Europa versuchten in der Tat, sich den Begriff anzueignen. Viktor Orbán hat gesagt, „ja ich arbeite fürs Volk und deswegen bin ich Populist“. Genauso Marine Le Pen. Mein Eindruck ist, dass das nicht funktioniert hat. Dass grosso modo dieses Wort immer noch negative Konnotationen hat“.
Das Spiel der Populisten, so seine Analyse, werde begünstigt, wenn politische Parteien und professionelle Medien bereits geschwächt sind und ein latenter Kulturkampf schwelt. Parallelen zeigten sich zudem in der populistischen Art des Regierens, in Ländern, wo sie bereits an der Macht sind. Die Techniken, die Macht zu erlangen und zu sichern, seien sehr ähnlich. Außerdem lernten die Akteure voneinander. Folglich dürfe man nicht annehmen, dass autoritäre Regierungen stupide sind und unfähig, etwas zu lernen. „Es ist eindeutig, dass Jaroslaw Kaczynskis von Viktor Orbán gelernt hat. Es gibt dort sehr viel an Lernpotenzial. Und obwohl wir ständig über Populismus reden, neigen wir dazu, die Akteure immer noch zu unterschätzen.“
Desillusionierung und Vertrauenskrise
Gerade in Italien, mit einer Regierungskoalition aus der Fünf-Sterne-Bewegung und der rechtsextremen Lega, zeige sich in welchem Maße Populisten, wenn sie einmal an der Macht sind, populistische Politik umgehend und allumfassend anwenden, erläuterte anschließend Marc Lazar. „Sie versuchen eine Allianz der populistischen Formationen zu bilden. Sie sehen sich durch das Volk legitimiert, bis zum Äußersten zu gehen. [...]. Sei es durch das harte Vorgehen gegen Einwanderer, durch die Verschärfung des Asylrechtes, die Einschnitte beim öffentlichen Rundfunk oder durch die Angriffe auf die unabhängige Presse.“
Was Frankreich angeht, so Christèle Lagier, seien die RN-Wähler selten mit der konkreten Programmatik der Partei vertraut. Statt des Glaubens an ein politisches Projekt, herrsche hier vor allem die Auffassung, dass weder die Linke noch die Rechte in den vergangenen Jahrzehnten wirklich positive Veränderungen für das Land hervorgebracht hätten. Ihre Desillusionierung sei der eigentliche Antrieb, um für den RN zu stimmen. „Es herrscht eine Meinungsdemokratie, das sieht man deutlich in Brasilien. Man braucht nicht mal ein strukturiertes Programm. Entscheidend sind einige politische Slogans, die gut verbreitet werden. Eine effiziente Nutzung von sozialen Netzwerken, für Leute, die wenig politisch interessiert, aber sich dann von den Populisten angesprochen fühlen“, resümierte sie.
Als einen weiteren Grund für die Anziehungskraft von Populisten nannte Jens Althoff zudem das mangelnde Vertrauen der Bürger in die politischen Akteure. Deren Glaubwürdigkeit stellten die Populisten in Frage. „Man muss sich mehr mit der Tatsache auseinandersetzen, dass Populisten den Eindruck vermitteln, glaubwürdiger zu sein, dass sie Anwälte des Volkes sind.“
Ein positives Signal aus der Zivilbevölkerung war in den Augen von Jens Althoff die „Unteilbar-Demonstration“, zu der am 13. Oktober in Berlin 242.000 Menschen gekommen waren. Die Bewegung hat zum Ziel, sich dem Rechtsruck des gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskurses entgegenzustellen und die offene Gesellschaft und liberale Demokratie zu verteidigen. Er fügte an: „Auf politischer Ebene beziehen gerade die Grünen klar in ihren Positionen zu Europa, zur Einwanderung. Während die anderen nicht mehr klar Stellung beziehen, sondern nur hier und da Positionen – auch von rechter Seite – aufgreifen. Das scheint ein Teil des gegenwärtigen Erfolgs der Grünen in Deutschland zu sein.“
Klare Positionen sind zweifelsohne die Voraussetzung, um im demokratischen Spiel, im Zusammenwirken von Institutionen, von Parteien und der Zivilgesellschaft Kompromisse aushandeln zu können. Weder die Imitation, das Aneignen von populistischen Diskursen oder Positionen, noch die Verteufelung und der Ausschluss von Populisten haben sich bisher als wirksame Strategie erwiesen. In beiden Fällen fühlen sich die Populisten nur noch mehr bestätigt. Jan-Werner Müller fand dafür die richtigen Schlussworte für die Debatte, indem er anmahnte: „Die Populisten können eigentlich nie verlieren, aber in der Demokratie muss man ab und zu auch verlieren können.“
von Romy Strassenburg
Bibliographie:
Jan-Werner Müller
- Das demokratische Zeitalter. Eine politische Ideengeschichte im 20. Jahrhundert, suhrkamp 2013
- Was ist Populismus? Ein Essay, suhrkamp 2016
Marc Lazar - La Gauche en Europe depuis 1945. Invariants et mutations du socialisme européen (direction), avec la collab. de Francine Simon-Ekovich, Presses universitaires de France, coll. « Politique d'aujourd’hui », Paris, 1996
- Politique à l’italienne8 (direction avec Ilvo Diamanti), Presses universitaires de France, coll. « Politique d'aujourd’hui » Paris, 1997
Christèle Marchand Lagier - Le populisme en question. Élections et abstention vues d'Avignon, Midi Sciences-Éditions universitaires d'Avignon, Avignon 2018