"Das ist der richtige Moment, um sich auf die Visionen, die Ideen und Argumente zu besinnen, die Europa möglich gemacht und seine Grundlagen geschaffen haben."

Préface

Zu einer Zeit, in der die europäische Idee von vielen Seiten attackiert wird, zeigt diese Textsammlung – von Victor Hugo, über Stefan Zweig bis Simone Veil und Joschka  Fischer – die Aktualität der Inspirationen und Ideen, die das gemeinsame Europa ermöglicht und vorangebracht haben. Gerade jetzt lohnt es sich, diese Gründertexte wieder zu  entdecken.

Lesedauer: 7 Minuten

Am Anfang standen Idealisten, Utopisten, Träumer. So wurden viele jener Zeitgenossen gesehen, die sich bereits Mitte des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts für ein geeintes Europa einsetz­ten. Wie der große Schriftsteller Victor Hugo, der schon 1849 die Idee eines Europa skizzierte, in der die Nationalstaaten „eine europäische Brüderlichkeit bilden“ werden „genauso wie die Normandie, die Bretagne, das Burgund, Lothringen, das Elsass, alle unsere Landesteile sich in Frankreich verschmol­zen haben.“ (S. 29) Ende der 20er Jahre meinte der französische Außenminister Aristide Briand sogar, es brauche einen „Hauch […] Wahnsinn oder Kühnheit“ (S. 43), um von der europäischen Idee zu sprechen.

 

Diese Avantgardisten stellten sich gegen den Mainstream des Nationalismus, der aufgeheizt und angefacht zur Katastrophe des Ersten Weltkrieges führte und von Deutschland ausgehend zur noch größeren Katastrophe des Zweiten Weltkrieges. Auf den Trümmern des Europas von 1945 und nach dem Menschheitsverbrechen des Holocaust waren es erneut einige Visionäre, die daran glaubten und dafür eintra­ten, dass ein vereintes Europa das Mittel sein könnte, um Frieden, Demokratie, Grund- und Menschenrechte sowie auch soziale Sicherheit zu garantieren. Aus diesen Visionen wurden konkrete Konzepte und poli­tische Schritte. So entstand die Europäische Union von heute – ein System der engen Verflechtungen und Kooperation zwischen Nationalstaaten, das weltweit einmalig ist. Nach dem Fall der Mauer in Berlin gab es am Ende des 20. Jahrhunderts viele hoffnungsvolle Träume von einem gemeinsamen, geeinten demokra­tischen Europa, das in Frieden und enger Partnerschaft mit seinen Nachbarn lebt. 1991 forderte der tschechos­lowakische Schriftsteller, Dissident und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs Präsident Václav Havel zuversichtlich dazu auf, die einmalige Gelegenheit zu ergreifen: „Nämlich die Chance und die Hoffnung, dass Europa zum Ende dieses Jahrtausends zum ersten Mal in seiner dramatischen Geschichte zu einer festen Gemeinschaft demokratischer Staaten und freier Bürger werden kann, dass es bald ein Kontinent werden kann, von dem dauerhaft der Geist der Verständigung, der Toleranz und der gleichberechtigten Zusammenarbeit in die Welt ausstrahlen wird.“(S. 221)

 

Heute beginnt die um Mittel- und Osteuropa erweiterte Europäische Union zu bröckeln. Eines sei­ner wichtigsten Mitglieder, Großbritannien, möchte die EU verlassen. Die Gräben zwischen Russland und der Europäischen Union werden tiefer, seit der rus­sischen Besetzung der Krim und dem andauernden Konflikt in der Ostukraine. Auch innerhalb der EU wachsen Zweifel und Enttäuschungen. Die Ungleichheit nimmt zu und mit ihr die Frage der sozialen Sicherheit und den unterschiedlichen Teilhabechancen an den Gesellschaften von heute, zwischen boomenden städ­tischen Zentren und manchen abgehängten Regionen. Es droht die Wahrnehmung eines Europas, das vor allem wirtschaftlich Erfolgreichen, Gebildeten und Mobilen nutzt. Schon 1979 warnte die erste Präsidentin des erst­mals direkt gewählten Europäischen Parlamentes, die französische Politikerin und Auschwitz-Überlebende Simone Veil, in ihrer Antrittsrede: „In einer Zeit jedoch, in der zweifellos von allen Bürgern verlangt werden wird, einen Stillstand oder geringeren Anstieg des Lebensstandards und eine Kontrolle der wachsenden Sozialausgaben zu akzeptieren, werden die erforderli­chen Opfer nur dann auf sich genommen, wenn ein ech­ter Abbau der sozialen Ungleichheiten erfolgt.“ (S. 129 u. 131) Ein Satz, der nichts an Aktualität eingebüßt hat. In seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag rief der französische Präsident François Mitterrand 1983 den Abgeordneten zu: „Europa, meine Damen und Herren, hat keine Zukunft, wenn seine Jugend keine Hoffnung hat“. (S. 147) Der legendäre Präsident der Europäischen Kommission, Jacques Delors, mahnte im Oktober 1989 eindringlich: „Welche Gesellschaft schaffen wir? Eine Gesellschaft der Ausgrenzung?“ (S. 175)

Auch auf dem Nährboden wachsender Enttäuschungen und Ausgrenzungserfahrungen ver­suchen rechtsautoritäre Kräfte, einen längst überwun­den geglaubten Nationalismus erneut anzuheizen und das europäische Projekt zu beerdigen. Unter anderem mit Fake News werden zwischen bestimmten Gruppen von Menschen und zwischen Nationen Stimmungen geschürt. Der Schriftsteller Stefan Zweig warnte 1932 klarsichtig: „Erfahrungsgemäß entsteht der Hass zwischen Nationen, zwischen Rassen und Klassen, zwischen einzelnen Menschengruppen selten von innen her, sondern meist durch Infektion oder durch Incitation, und das gefährlichste Mittel ihn anzufa­chen ist die öffentliche, die durch Druckschriften ver­breitete Unwahrhaftigkeit.“ (S. 61) Ein Satz von nahezu erschreckender Aktualität, setzt man an die Stelle der „Druckschriften“ heute „soziale Medien“.

 

Vieles spricht dafür, dass Europa an einem entschei­denden Scheideweg steht. Die Auseinandersetzung um seine Zukunft wird auch als Deutungskampf um die europäische Idee geführt. Das ist der richtige Moment, um sich auf die Visionen, die Ideen und Argumente zu besinnen, die Europa möglich gemacht und seine Grundlagen geschaffen haben. Diese sind von oft überraschender Aktualität. So erkannte Simone Veil schon 1979: „Um die Herausforderungen zu bewäl­tigen, die sich Europa stellen, müssen wir ihm drei Zielrichtungen geben: Das Europa der Solidarität, das Europa der Unabhängigkeit und das Europa der Zusammenarbeit.“ (S. 127)

Von Beginn an waren insbesondere Deutschland und Frankreich gefordert, die europäische Integration als zugkräftige Lokomotive voranzubringen. In seiner berühmten Züricher Rede unterstrich Winston Churchill 1946: „Der erste Schritt zu einer Neuschöpfung der europäischen Völkerfamilie muss eine Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland sein“. (S. 89) Aus den einstigen „Erbfeinden“ wurden dank und mit dem europäischen Projekt enge Partner. Allerdings scheint dem Tandem heute der nötige Elan zu feh­len, der gerade jetzt bitter nötig wäre, wobei vor allem Deutschland zaudert und zögert. Visionen wie die des damaligen deutschen Außenministers Joschka Fischer im Jahr 2000 für eine echte „Europäischen Föderation“ (S. 241), erscheinen gegenwärtig weder realistisch noch machbar.

Das galt allerdings für viele der hier versammel­ten Reden und Texte zu ihrer Zeit – und doch hat sich Europa anschließend trotzt mancher Rückschläge und Zeiten des Stillstands stetig gemeinsam nach vorne bewegt. Gerade heute erscheint das europäische Projekt dringlicher und aktueller denn je: Sowohl in Bezug auf die Fragen der Neuvermessung der globa­len Ordnung und Sicherheit wie auch der weltweiten Wirtschaftsentwicklung stellt sich die Frage, ob ein starkes und geeintes Europa mitgestalten wird oder die Nationalstaaten allein zum Spielball einer Welt wer­den, in der das Recht des Stärkeren über die Stärke des Rechts die Überhand gewinnt. Anfang der 50er Jahre warnte der europäische Vordenker Jean Monnet: „Wenn wir bereits Antworten auf all unsere Fragen erwarten, werden wir nie handeln, nie die nötige Gewissheit erlan­gen. Wir werden immer von den Ereignissen getrieben sein, auf deren Verlauf wir keinen Einfluss nehmen kön­nen“. (S. 107)

Dieser Band richtet sich vorrangig an ein deutsch-und französischsprachiges Publikum. Von daher wurde auch ein stärkerer Fokus auf Reden und Texte aus die­sen Sprachräumen gelegt. Zur Einführung in die Texte wird auch der jeweiligen Kontext aufgezeigt, in dem sie geschrieben, gesagt und veröffentlicht wurden – und wie die Autorinnen und Autoren es jeweils verstanden, ihre Äußerungen zu Europa wirkungsvoll zu verbrei­ten, innerhalb der besonderen Rahmenbedingungen ihrer Epoche. Dieses Denken über Europa und für Europa würde nicht existieren ohne seine vielfache Verbreitung (durch Medien, Gastbeiträge, Bücher und Konferenzen), die für eine breite Resonanz gesorgt hat. Diese Voraussetzungen gilt es auch heute nicht außer Acht zu lassen, wenn es darum geht, die europäische Idee weiter voranzubringen.

Bei bester Absicht konnte es nicht gelingen, hier eine vergleichbare Zahl von Texten von Autorinnen und Autoren zu versammeln. Zu lange waren und sind immer noch Politik und öffentlicher Diskurs in Europa von Männern dominiert. Hier hat sich schon einiges zum Besseren verändert, es bleibt aber noch viel zu tun.

Deutlich wird bei den hier versammelten Texten, dass es von Beginn an nicht die eine Vorstellung davon gibt, wie ein gemeinsames Europa aussehen und ges­taltet werden sollte. Genau diese Debatte um das zukünftige Europa macht pluralistische und offene Demokratien aus. Zivilisiert, in fairer Form und mit offe­nem Visier ausgetragener Streit, der die Sichtweisen und Argumente der jeweils anderen Seite ernst nimmt und gelten lässt, ist ein Kernelement der europäischen Demokratie. Zu einer Debatte in dieser Form über die Zukunft Europas möchte dieser Band einen kleinen Beitrag leisten.

 

Dieser Text ist das Vorwort des Buches "Les grands textes qui ont inspiré l'Europe / Die bedeutendsten Texte, die Europa inspiriert haben".