Reform ohne Augenmaß

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Sie fahren wieder, die Züge in Frankreich und die Pariser Metros. Es scheint, als ginge den Streikenden, von denen einige über anderthalb Monate die Arbeit niedergelegt hatten, nach und nach der Atem aus. Dabei vergeht kein Tag, an dem nicht weitere Protestaktionen stattfinden und noch immer steht eine Mehrheit der Franzosen den Reformplänen der Regierung skeptisch gegenüber. Nun also wurde das Gesetz zur Einführung eines vereinheitlichten Punktesystems für die Rente in den Ministerrat eingebracht, das französische Kabinett. Noch einmal ist damit zu rechnen, dass zehntausende Menschen an den landesweiten Großdemonstrationen teilnehmen.

Demonstration vom 28. Dezember 2019 in Paris

Wie Frankreich nach Ende dieses Mammut-Streiks wieder zur Ruhe kommen soll, ist unklar. Schließlich waren die Protestierenden mit der Forderung angetreten, die Reform gänzlich zu kippen. Deswegen haben sie auch nicht die Ankündigung der Regierung bejubelt, die Anhebung des Renteneintrittsalter auf einen Richtwert von 64 Jahren, vorerst nicht in den Gesetzesentwurf aufzunehmen. Viele glauben, diese Maßnahme habe von Anfang an nur als Joker der Regierung gedient, den man zücken kann, um die Streikenden zu beschwichtigen, um guten Willen zum Kompromiss zu  signalisieren. Es verwundert, dass die Sozialpartner zwei Jahre über den Inhalt des Gesetzes verhandelt haben und der Widerstand am Ende so vehement war.

Was die Gewerkschaften umtreibt, ist die Tatsache, dass mit der Reform eine völlige Neustrukturierung der Rentenregime verbunden ist. Eine Vereinheitlichung, sicher, aber in einem Umfang, der selbst in Deutschland für Unmut sorgen würde, wenn beispielsweise Beamte oder Freischaffende plötzlich genau wie Angestellte aus der Privatwirtschaft behandelt würden. Die Abschaffung von Sonderregelungen für bestimmte Berufsgruppen ist in den Augen der Regierung ein Schritt zu mehr Gerechtigkeit. Doch die Tragweite der Reform ist immens. Sie betrifft alle Franzosen, schafft Verunsicherung und Angst. Denn viele glauben, im Alter schlechter gestellt zu sein als bisher und die Befürchtungen sind begründet:

Das liegt zunächst einmal an der Neuberechnung im zukünftigen System. Grundlage werden nicht mehr die 25 bestbezahltesten Berufsjahre (für den privaten Sektor) und die 6 letzten Monate (im öffentlichen Dienst) sein, sondern die gesammelten Punkte im Laufe des Berufslebens. Das trifft vor allem, prekär oder in Teilzeit Beschäftigte, sowie Frauen, deren Renten bereits jetzt um die 20% geringer sind die von Männern.

Mit dem Punktesystem wird es also zunehmend schwieriger, bei weniger kontinuierlichen Arbeitsbiographien eine Rente zu beziehen, die im Alter den gleichen Lebensstandard sichert. Beitragslose Zeiten werden künftig nicht so einfach wie heute ausgeglichen werden können. Außerdem sollen Sonderregelungen für bestimmte Berufsgruppen abgeschafft werden, die nach dem heutigen System für ihre Schichtarbeit oder das höhere Risiko an Arbeitsunfällen mit der Möglichkeit eines vorgezogenen Renteneintritts entschädigt werden. Das hängt auch damit zusammen, dass ihre Lebenserwartung im Durchschnitt sechs Jahre geringer ist, sie also bei gleichem Renteneintrittsalter nur kürzere Zeit von der Rente profitieren. Die Betroffenen glauben nicht an versprochene Ausgleichszahlungen zum Beispiel durch Erhöhung von Löhnen.

Versprechen der Republik

Befürworter der Reform verweisen darauf, dass Frankreich mit 14 Prozent des Bruttoinlandsproduktes mehr für seine Rentner ausgebe, als andere Länder wie Deutschland. Allerdings ist bei einer steigenden Zahl von Rentnern (6 Millionen bis 2030) sowieso davon auszugehen, dass der Anteil des BIP zur Finanzierung der Rente steigen muss. Um dies zu finanzieren, wäre es vorstellbar mit höherem Beiträgen zu kalkulieren, doch Macron fürchtet nichts mehr, als das Versprechen zu brechen, Unternehmen zu entlasten.  Stattdessen wird nun die Rente von der Sozialversicherung entkoppelt, was letztlich für einen Paradigmenwechsel steht und ähnlich wie in Deutschland soll in Zukunft mehr und mehr die private Vorsorge angeregt werden. Dass vor allem jene privat vorsorgen können, die bereits im aktiven Berufsleben bessergestellt sind, versteht sich dabei von selbst. Dass ausgerechnet der Manager des amerikanischen Rentenfonds BlackRock, Jean-Francois Cirelli, mit dem Orden der Ehrenlegion ausgezeichnet wurde, der für den Rückbau des französischen Staates steht, hatte für die Streikenden Symbolwert.

Klar ist: wenn der Staat weniger für seine älteren Bürger ausgibt, trotz einer versprochenen Mindestrente von 1000 Euro, steigt das Risiko von Altersarmut, die in Deutschland doppelt so hoch ist. Das liegt auch an den höheren Lebenshaltungskosten, besonders in der Hauptstadt.

Aber was sich bei der Rente abzeichnet, betrifft viel grundsätzlichere Fragen: Welchen Sozialstaat von morgen kann sich ein Land in Zeiten der Globalisierung noch leisten und welche Leistungen muss eine Gesellschaft von einem Sozialstaat weiterhin einfordern? Macrons steht für einen schleichenden Rückzug des Staates, was man gut oder schlecht finden mag. Viele Franzosen aber wünschen sich mehr statt weniger Investitionen im öffentlichen Sektor und eher eine stärkere Rolle des Staates. Sie fordern eine bessere gesundheitliche Versorgung, bessere Bildungseinrichtungen und eben auch eine Rente, mit der sie ihren Lebensstandard halten können. Das mag von außen betrachtet als nicht mehr zeitgemäß erscheinen, nicht finanzierbar, nicht kompatibel mit einer auf Wachstum und Austerität ausgerichteten Wirtschaftsordnung. Dennoch, den Wunsch nach Gleichheit und Brüderlichkeit, anders gesagt nach einem starken Sozialstaat als Versprechen der französischen Republik, wollen viele nicht so einfach aufgeben.