Zum 30. Jahrestag der Wiedervereinigung wirkt das Jubiläum wie eine Pflichtveranstaltung. Drei Jahrzehnte hindurch Staatsakt und Bürgerfest zum „Tag der Deutschen Einheit“ in einer Landeshauptstadt, die üblichen Wasserstandsmeldungen zum Pegelstand der inneren Einigkeit der Deutschen. Die Erwartungen an diesen 3. Oktober 2020 sind denkbar gering.
Die brandenburgische Landeshauptstadt Potsdam hat sich etwas einfallen lassen, um das Bürgerfest Corona-kompatibel zu gestalten. Die Pandemie wirkt dämpfend auf alle kulturellen Ereignisse. Aber nicht nur das. Die gesamtdeutschen, europäischen, ja globalen Erfahrungen mit den kritischen Phasen der Pandemie - ihren Freiheitseinschränkungen und ihren Mobilitätsbegrenzungen werden den Charakter des 3. Oktober als Feiertag nicht in seiner Bedeutung stärken, sondern schwächen. Die ritualisierten Themen der Wiedervereinigung werden weiter in den Hintergrund gedrängt und irgendwann wird die Frage aufkommen - wozu haben wir diesen 3. Oktober? Warum haben wir nicht den 25. September, den Tag des globalen Klimaprotestes? Warum haben wir nicht den 9. Mai als Europatag oder - wenn es um Deutschland geht - warum haben wir nicht den 9. Oktober, den „Tag der Entscheidung“, wie Ilko-Sascha Kowalczuk ihn in seiner monumentalen Studie „Endspiel“ nennt, als sich Zehntausende in Leipzig auf die Straße wagten, als in der wankenden Diktatur „die Angst sichtbar die Seiten wechselte“? (Siegbert Scheffke)
Bei dieser nüchternen Bewertung geht es nicht um linke Affekte, denen ein vereintes Deutschland ohnehin suspekt und potenziell diktaturgefährdet ist. Nein, im Gegenteil: Die Wiedervereinigung hat im Großen und Ganzen ein funktionierendes Land geschaffen. Wohlstand und Wirtschaft sind gewachsen, Vielfalt und Weltoffenheit auch. Die politische Landschaft ist robust demokratisch. Berlin hat als Hauptstadt einen nicht vorhergesehenen Aufstieg zu einer der attraktivsten europäischen Metropolen genommen. 30 Jahre nach der Wiedervereinigung zeigt sich das Land bestens gerüstet für die Lösung multinationaler Aufgaben, vor allem der Umsetzung des europäischen Green New Deal, des Erhalts internationaler Vertragsstrukturen, der Migration oder der Digitalisierung. Diese deutsche „Readiness“ für globale Krisenlösung wäre ohne den 3. Oktober nicht möglich. Selbstverständlich. So selbstverständlich, dass das Datum des 3. Oktober nur diffuse Erinnerung auslöst, dass es keine Emotion berührt. Es ist, was es von Anfang an war: Ein aus politisch technischen Gründen festgelegter Termin. Technisch, weil der 3. der erste Tag nach dem 2. Oktober war. Dieses Datum musste abgewartet werden, weil die Staaten der KSZE über die Ergebnisse der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen zu informieren waren.
Erinnerungspolitisch scheint der 3. Oktober nach 30 Jahren ausdiskutiert. Vom Umgang mit den Stasiakten über die Treuhand-Debatte bis zur Anerkennung der Leistungen der Ostdeutschen und die bleibenden Unterschiede zwischen beiden Landesteilen ist alles besprochen worden. Ja, es gibt Unterschiede, lang anhaltende sogar. Manche ließen sich verkleinern, wie die Repräsentationslücke zum Beispiel. Noch immer sind ostdeutsche Biografien erschreckend selten in den bundesdeutschen Führungsebenen von Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Kultur und Medien vertreten. Noch immer sind Vermögensunterschiede signifikant, noch immer ist die Produktivität im Osten Deutschlands geringer, die Industriestruktur kleinteiliger (IWH -Studie „Vereintes Land - drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall“, 4/2019).
Andere Unterschiede wie die persönlichen Prägungen lassen sich nicht überbrücken. Sie lassen sich bestenfalls integrieren in eine gesamtdeutsche Erzählung des 20. Jahrhunderts und ihre politischen und privaten Disrupturen.
„Ein System ist auf der Ebene der Instanzen und Institutionen schnell abgewickelt. Seine Kultur aber, jener tiefe innere Text, der die Gewohnheiten und Codes einer kollektiven Verständigung prägte, wirkt fort, solange die Menschen, die sie verinnerlicht haben, noch leben.“
schreibt Kurt Drawert mit Blick auf seine Dresdener Herkunft und spricht für die Jahrgänge bis 1965.
Jedoch - in 30 Jahren deutsche Einheit ist jener tiefe innere Text wie ein Palimpsest mehrfach überschrieben worden. Er ist nicht mehr derselbe wie 1990.
Die gesamtdeutschen Pandemie-Erfahrungen überschreiben den tiefen inneren Text wieder und verdichten das gesamtdeutsche Textgewebe, nicht das geteilte. Das macht sich paradoxerweise gerade an denen deutlich, die gegen die staatlichen Maßnahmen opponieren. Studien zeigen, dass der Glaube an Verschwörungstheorien und der Zweifel an gut belegten Erkenntnissen in Ost und West in etwa gleich groß sind (z.B. Jochen Rose, "Sie sind überall", KAS 2020).
Was also bleibt vom 3. Oktober 1990 als Tag der Einheit, wenn er mehr sein soll als ein Tag der Unterschiede? Die Unterschiede werden nicht dadurch geringer, dass sie weiter gefeiert werden, sondern dadurch, dass sie in einen größeren Rahmen gestellt werden. Der Rahmen, der sich in den vergangenen 30 Jahren ständig erweitert hat, ist der europäische. Der 3. Oktober 1990 war der Tag der Deutschen Einheit, vor allem aber war er das Ende der Teilung Europas.
Der 3. Oktober wird seine Aussagekraft für die Zukunft und seinen Sinngehalt für die Generationen nach 1965 nur erhalten können, wenn dieser vernachlässigte Aspekt endlich mehr Bedeutung bekommt: Das Jahr 1990 freilegen, heißt, das Momentum europäischer Freiheit zu feiern.
Es war die Charta 77, die polnische Solidarność, es waren Dissidenten wie Milan Horace diesseits und jenseits des Eisernen Vorhanges, die den europäischen Raum über die hermetischen Grenzen hinweg offenhielten. Sie ermöglichten die Einheit der Deutschen, und letztendlich die Zustimmung auch derjenigen, denen unendliches Leid durch Deutsche zugefügt worden ist.
Als am 3. Oktober 1990, ein ungemütlicher, naßkalter Tag, in Berlin die Einheit mit viel Alkohol, etwas Beklemmung und reichlich Gedrängel am Brandenburger Tor, mit einem Konzert von Wolf Biermann in der Humboldt-Uni und einer Freßmeile Unter den Linden begangen wurde, notierte Wolfgang Ullmann, Intellektueller und Gründer der Bürgerbewegung Demokratie Jetzt:
„Der weitere Abend hat für mich dann so ausgesehen, dass ich an einem Treffen im Haus der Demokratie teilgenommen habe, wo zu meiner Freude Vertreter osteuropäischer Botschaften anwesend waren - Tschechoslowakei, Polen, der Sowjetunion … Der Sinn dieses Treffens war es, öffentlich zu demonstrieren, dass unsere Fraktion und die Bürgerbewegungen der DDR insgesamt diesen Tag nicht der Selbstbetrachtung und egoistischen Nationalinteressen widmen wollen, sondern vor Augen haben, dass sich hier etwas sehr Erfreuliches vollzieht, nämlich das Ende der Teilung Europas“
(Bernhard Malek, Wolfgang Ullmann „Ich werde nicht schweigen, S. 83ff., in: Jan Wenzel, Alexander Kluge, "Das Jahr 1990 freilegen", S. 527)
1990 freilegen - heißt, sich zurückzuversetzen in die von Grenzen und Freiheitsbeschränkung geprägte Stimmung Europas und Konsequenzen zu ziehen:
- Die heutigen Selbstverständlichkeiten wie offene Grenzen für die Bürgerinnen und Bürger Europas sind es nicht. Schengen zu erhalten und gleichzeitig klare Regeln für den Zuzug von Menschen aus anderen Teilen der Erde zu ermöglichen, bleibt ein politischer Auftrag.
- Die Annahme, dass Demokratie, einmal errungen, ihre Liberalität von selbst erhält, ist offenkundig falsch. Sie muss gegen autoritäre und populistische Tendenzen einer widersinnigen Iliberalität von Demokratie verteidigt werden.
- Der Gedanke, dass Europa wirtschaftlich so weitermachen kann wie bisher, um Wohlstand und Wertschöpfung zu erhalten, ist ein Trugschluss. Nur mit entschlossenem Klimaschutz und massiven Investitionen in eine ökologische Transformation wird der Wirtschaftsraum der Union auf Dauer attraktiv bleiben.
Nicht nur, aber deutlich genug erkennbar, zieht sich entlang der alten Mauer ein Riß zwischen Ost- und Westeuropa aus ökonomischen Ungleichgewichten, demographischen Verschiebungen, politisch-kulturellen Selbstverortungen und national-populistischen Mobilisierungeffekten. Die Deutschen in ihrer heutigen Vielfalt und Pluralität, mit mannigfachen Beziehungen in alle europäischen Richtungen sind wie kein anderes Land in Europa in der Verantwortung, diesen Riß zu verkleinern. Der 3. Oktober ist ein guter Tag, über die Verantwortung für Europa nachzudenken - für beide: die „Ebene der Instanzen und Institutionen“ und die Gesellschaft, die den inneren tiefen Text als europäische Codes kollektiver Verständigung gesamtdeutsch und europäisch fortschreibt.