Deutsche wie Französinnen und Franzosen wollen ein stärkeres Engagement der EU sowie des deutsch-französischen Tandems für eine sozial-ökologische Transformation - die als Chance in der Krise gesehen wird

Umfrage

Kurz vor dem fünften Jahrestag des Pariser Klimaabkommens und vor dem letzten Europäischen Rat unter deutscher Präsidentschaft, hat das Büro Paris der Heinrich-Böll-Stiftung mit dem Meinungsforschungsinstitut Kantar am Mittwoch den 9. Dezember die Ergebnisse einer Umfrage vorgestellt, die zeitgleich in Deutschland und Frankreich durchgeführt wurde.  

La passerelle Mimram du Jardin des deux rives, Strasbourg, France

Für eine Mehrheit der Französinnen und Franzosen (54 %) und der Deutschen (63 %) ist die Energiewende und der Kampf gegen die Klimaerwärmung vor allem eine Chance für ihr jeweiliges Land. Sie sehen darin einen Innovationsfaktor (für 70 % in Frankreich und 66 % in Deutschland) und eine Chance, damit Jobs zu schaffen (76 % in Frankreich und 69 % in Deutschland). Vor der Diskussion des Europäischen Rates zu einem ambitionierteren CO2-Reduktionsziel zeigt sich eine klare Unterstützung (67% in Frankreich und in Deutschland) für die Forderung des Europäischen Parlamentes auf eine CO2-Reduktion auf 60 % bis 2030.

Auswirkungen der Energiewende

„Offenkundig erkennen mehr als zwei Drittel diesseits und jenseits des Rheins das große ökonomische Interesse an einer ökologischen Transformation und dass der Wettlauf um eine klimaneutrale Wirtschaft längst begonnen hat. Die Vorreiter bei diesem Wettlauf werden entscheidende Wettbewerbsvorteile haben“, kommentierte Audrey Mathieu, Expertin für EU-Klimapolitik der Berliner NGO Germanwatch, die Ergebnisse der Studie.

Für 72 % der Französinnen und Franzosen und 75 % der Deutschen sollte sich vor allem die europäische Ebene dabei um eine Energiewende sowie den Kampf gegen die Klimaerwärmung kümmern. „Angesichts der globalen Dimension von Themen wie Naturschutz oder dem Kampf gegen die Klimaerwärmung, scheint die nationale Ebene heute mehr und mehr überholt. Für Französinnen und Franzosen wie Deutsche kann die notwendige Antwort darauf nur noch europäisch sein“, sagte Eddy Vautrin-Dumaine, Forschungsdirektor von Kantar Frankreich, bei der Vorstellung der Studie in Paris.  

Mehr als drei Viertel der Befragten (75 % in Frankreich und 77 % in Deutschland) sind allerdings der Meinung, dass ihre Regierungen stärker vorangehen sollten bei der Umsetzung der Energiewende. 60 % der Französinnen und Franzosen sind der Auffassung, dass ihre Regierung „nicht genug tut“ für eine Energiewende und den Kampf gegen die Klimaerwärmung, eine Meinung, die von 55 % der Deutschen mit Blick auf ihre Regierung geteilt wird.  

„Während viele Französinnen und Franzosen meinen, dass Frankreich im Rückstand ist im Vergleich mit anderen Ländern in Bezug auf eine Energiewende, sind sie in ihrer deutlichen Mehrheit davon überzeugt - wie übrigens auch ihre deutsche Nachbarn - dass mit einer solche Energiewende Jobs geschaffen werden können. Derzeit verstärken die Europäische Union wie auch viele Länder ihre Klimaschutzziele. Frankreich sollte deshalb jetzt auf die Forderungen seiner Bürgerinnen und Bürger hören und die ökologische Transformation beschleunigen, angefangen mit einer Umsetzung der Vorschläge der Bürgerkonvention für das Klima“, kommentierte Anne Bringault vom französischen Netzwerk Réseau Action Climat die Umfrageergebnisse bei der Vorstellung in Paris.

Ausstieg aus Kohle 2038

Derzeit ist die Energiepolitik Deutschlands und Frankreichs von großen Unterschieden geprägt: Während Deutschland bis 2022 komplett aus der Atomkraft aussteigen wird, stammt über 70 % des französischen Stroms unverändert aus Atomkraftwerken. In Frankreich wird dabei gerne auf die Bedeutung der Kohlekraft im deutschen Energiemix verwiesen, als vermeintlich abschreckendes Beispiel. Allerdings ist in Bezug auf diese fossile Energie eine Mehrheit von 51 % der Deutschen der Ansicht, dass der für 2038 vereinbare Kohlausstieg „zu spät“ sei, während es für nur 23 der „richtige“ Zeitpunkt ist.

In Bezug auf einen baldigen Atomausstieg in ihrem Land zeigen sich Französinnen und Franzosen gespalten: 41 % meinen, dass es möglich ist, innerhalb von 20 bis 30 Jahren aus der Atomkraft auszusteigen, 40 % glauben, dass das nicht möglich ist – und 19 % nehmen keine Stellung dazu.

Frankreich steht gegenwärtig vor der Frage, wie die Energiepolitik für die nächsten Jahrzehnte ausgerichtet werden soll. Während der französische Präsident Emmanuel Macron sich klar für die Atomkraft ausspricht und sogar den Neubau von Atomkraftwerken erwägt, sind 64 % der Menschen im Land eindeutig dafür, zukünftig vorrangig in Erneuerbare Energien zu investieren“, hob Jens Althoff, Leiter des Paris-Büros der Heinrich-Böll-Stiftung, bei der Studien-Vorstellung hervor. Nur 10 % der Menschen in Frankreich wollen noch, dass vorrangig in die Modernisierung und Verlängerung der Atomkraftwerke investiert wird.  

Priorität der Investitionen im Energiesektor in Frankreich

Wenn einmal Transparenz über die wirklichen Kosten einer Verlängerung der Laufzeiten der veralteten Atomkraftwerke in Frankreich sowie einem möglichen Neubau von Atomkraftwerken hergestellt wird, wird das Land vor einer wegweisenden politischen Entscheidung stehen“, sagte Jens Althoff. „Umso mehr, da sich insbesondere Französinnen und Franzosen besorgt zeigen in Bezug auf die Frage des Atommülls: Für 73 % der Menschen in Frankreich (gegenüber 60 % in Deutschland), gibt es einen Mangel an Transparenz in der Frage des Umgangs mit Atommüll.“

Dabei wäre eine gemeinsame deutsch-französische Vision nach den Ergebnissen dieser Studie sehr gut vorstellbar, unterstrich Jens Althoff: „Eine Entscheidung der französischen Regierung, langfristig an der Atomkraft festzuhalten oder sogar neue zu bauen, würde den Graben zwischen Deutschland und Frankreich in der Energiepolitik erheblich vertiefen. Demgegenüber wäre eine gemeinsame, deutsch-französische Zielsetzung und in gemeinsames Vorgehen in diese Richtung möglich, da sich in erstaunlicher Übereinstimmung 69 % der Menschen auf beiden Seiten des Rheins für 100 % Erneuerbare in Europa bis 2050 aussprechen.“  

Die Ergebnisse dieser Umfrage zeigen auch, dass der European Green Deal „wichtig“ für Deutsche (79 %) und Französinnen und Franzosen (78 %) und sogar „wichtig und vorrangig“ für 45 % von beiden Seiten ist  - und dass dieser insbesondere auch vom deutsch-französischen Tandem vorangebracht werden sollte: 80 % in Frankreich und 76 % in Deutschland meinen, dass Deutschland und Frankreich dafür zusammenarbeiten sollten und dass beide Länder auch jeweils selbst dafür „vorbildlich“ sein müssten (so 79 % in Frankreich und 75 % in Deutschland).

Für Oliver Sartorius, Leiter der Abteilung Politikforschung bei Kantar Deutschland, „ist die große Übereinstimmung in den Bevölkerungen von Deutschland und Frankreich zum Thema Energiewende und zum Europäischen Green Deal bemerkenswert, der auch in beiden Ländern übereinstimmend vor allem als Chance gesehen wird.“ 

„Was diese Zahlen verdeutlichen ist, dass mit dem Europäischen Green Deal das deutsch-französische Tandem eine unverhoffte Gelegenheit hat, seine Handlungsfähigkeit angesichts einer gemeinsamen Herausforderung zu zeigen: Dem Kampf gegen die Klimaerwärmung und dem Voranbringen einer Energiewende“, unterstrich seinerseits Eddy Vautrin-Dumaine vom Meinungsforschungsinstitut Kantar.

„Die Menschen aus beiden Ländern senden eine klare Botschaft an die Staats- und Regierungschefs, die sich für den Europäischen Rat am 10. und 11. Dezember in Brüssel treffen: Frankreich und Deutschland sollten in noch nicht dagewesener Art und Weise geschlossen auftreten, damit der Europäische Rat ein Klimaschutzziel für 2030 vereinbart, dass dem Klimaabkommen von Paris gerecht wird“, macht Audrey Mathieu von Germanwatch deutlich.  

Im Übrigen sind Französinnen und Franzosen wie Deutsche in einer breiten Mehrheit dafür (mit 85 % bzw. 75 %), dass die EU eine Kreislaufwirtschaft voranbringt und gegen Plastik vorgeht. Zu 84 % beziehungsweise 77 % sprechen sich die französische wie die deutsche Seite für eine Form der Landwirtschaft aus, die mit Klimaschutz vereinbar ist, die Biodiversität schützt und der Gesundheit sowie den Landwirtinnen und Landwirten einen höheren Stellenwert einräumt.  

Maßnahmen in Europa

In Bezug auf den Umgang mit der Pandemie zeigen die Ergebnisse der Umfrage, dass vergleichsweise viele Menschen in Frankreich (63 %) und Deutschland (61 %) meinen, das Krisenmanagement würde besser auf europäischer als nur auf nationaler Ebene funktionieren. Dabei zeigt sich ein deutlicher Unterschied, in welchem Umfang die Menschen in Deutschland und Frankreich ihren Regierungen in dieser Frage vertrauen: Nur 38 % der Menschen in Frankreich vertrauen darauf, dass ihr Regierung die richtigen Entscheidungen im Umgang mit der Krise trifft - gegenüber 66 % der Deutschen, die ihrer Regierung in dieser Frage Vertrauen schenken.  

Schließlich verweisen die Ergebnisse noch darauf, dass jeweils rund zwei Drittel beidseits des Rheins eine stärkere Rolle der Europäischen Union auf der internationalen Bühne wünschen: Für 70 % der Französinnen und Franzosen und 69 % der Deutschen ist vor allem Europa gefragt in Beziehungen mit mächtigen Staaten wie etwa Russland und China.