Die Erklärung von Rom - Der Europäische Migrations- und Asylpaket auf dem Prüfstand

Pressemitteilung
Auf das Europäische Migrations- und Asylpaket, das von der neuen Kommission am 23. September angesichts der festgefahrenen Situation in Europa vorgeschlagen wurde, reagieren die Akteurinnen wie Akteure der Zivilgesellschaft sowie Städte, die zu einer stärkeren Aufnahme von Flüchtlingen bereit sind, nun mit dieser Erklärung
Signataires de la déclaration de Rome

Die 43 Unterzeichnerinnen und Unterzeichner dieser Erklärung sind NGOs, Vereine, Netzwerke und Städte der Mitgliedsländer der Europäischen Union, die sich zu einer gemeinsamen Stellungnahme entschlossen haben. In der „Pariser Erklärung“ vom Frühjahr 2019 äußerten diese sich zur Verschärfung des Kurses in der Aufnahmepolitik von Flüchtlingen und Migrantinnen wie Migranten. Bei einem erneuten Treffen in Berlin im Herbst 2019 wurde ein „Aktionsplan für eine neue Asylpolitik“ erarbeitet.

Auf das Europäische Migrations- und Asylpaket, das von der neuen Kommission am 23. September angesichts der festgefahrenen Situation in Europa vorgeschlagen wurde, reagieren die Akteurinnen wie Akteure der Zivilgesellschaft sowie Städte, die zu einer stärkeren Aufnahme von Flüchtlingen bereit sind, nun mit dieser Erklärung. Sie ging zwar aus einer Online-Konferenz hervor, kann aber als „Erklärung von Rom“ gesehen werden, da Italien in besonderer Weise als Beispiel für alle drängenden Fragen im Zusammenhang mit Migration in Europa steht.  

Wir rufen die europäischen Institutionen und Regierungen dazu auf, nicht bei diesem vorgeschlagenen Pakt zu bleiben, der den Schwerpunkt auf Rückführungen, der Vermeidung vom Ankommen in Europa und eine Verteidigung der europäischen Grenzen legt.

1. Wir sind der Überzeugung, dass die Europäische Einigung und ihre Grundlagen auf Werten wie der Wahrung des Rechts auf Asyl und generell den Grundrechten basieren, die für alle Menschen gelten müssen, die nach Europa kommen, wie auch für alle EU-Bürgerinnen und –Bürger. Die Mitgliedstaaten haben diese Werte und Rechte zu achten und sollten im Falle einer Unterlassung sanktioniert werden, ebenso wie die Union, die auf Grundlage solcher Vergehen keinen Konsens unter ihren Mitgliedstaaten anstreben darf.

2. Ein europäischer Migrations- und Asylpakt darf nicht die Augen vor den Ursachen und Auswirkungen der weltweit zunehmenden und von der aktuellen Pandemie noch weiter verstärkten Migrationsbewegungen verschließen. Daher sollte der Fokus des neuen Pakts auf den Einreisebedingungen, der Aufnahme von Neuankömmlingen und dem Schutz ihrer Rechte liegen, anstatt vordergründig ihre Einreise zu verhindern und vor allem auf ihre Rückführung oder sogar Abschiebung zu setzen.

Hinsichtlich der Beziehungen zu Herkunfts- oder Transitdrittstaaten sollte man auf Maßnahmen setzen, die der Verbesserung der Bedingungen für Flüchtlinge und Migranten dienen, anstatt Asylverpflichtungen zusehends in diese Länder auszulagern zu wollen.

3. Das neue Paket legt einen besonderen Schwerpunkt auf Verfahren an den europäischen Außengrenzen für Flüchtlingen und Migrantinnen und Migranten, wobei vor allem eine vorzeitige Bearbeitung von Asyl- und Einwanderungsanträgen an der Grenze der Einwanderung vorgenommen werden soll.

  • Einreise- und Asylverfahren werden in dieser Art und Weise zeitlich und örtlich zusammengeführt und vermischt, und können zu einer Inhaftierung in Aufnahmelager von bis zu zwölf Wochen oder mehr führen. Inhaftiert zu werden ist somit das Erste, was Migrantinnen und Migranten und Asylsuchende von Europa sehen. Wir sind der Ansicht, dass die Erstaufnahme an den EU-Außengrenzen ohne Inhaftierung erfolgen sollte und dass die Menschen dort in vorausschauender Weise informiert und begleitet werden sollten.
  • Außerdem achten die geplanten Einreise- und Asylverfahren bei weitem nicht die Menschenrechte und Menschenwürde: Für Asylsuchende das Recht auf individuelle Prüfung ihres Antrags (statt einer Vorauswahl anhand definierter Kriterien wie etwa der Staatsangehörigkeit); das Recht auf Besuch, das Recht auf angemessene Informationen und Beratung von unabhängigen Expertinnen und Experten vor und während der Bearbeitung ihres Antrages; das geltende Recht auf Beistand und Rechtsbehelfe; die Möglichkeit, nach Ablehnung eines Antrag auf anderer Grundlage eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten; für nicht aufgenommene Migrantinnen und Migranten eine Rückführung in Würde.
  • Eine Überwachung der Einhaltung der Grundrechte ist zwingend erforderlich, wobei dies unseres Erachtens durch unabhängige, dafür qualifizierte Vertreterinnen und Vertreter von Menschenrechtsorganisationen erfolgen muss.

4. Die Schwäche des Pakts wird beim Thema der solidarischen Verteilung von Asylsuchenden zwischen Mitgliedstaaten klar deutlich. Zum einen bleibt die Dublin-III-Regel, der zufolge jenem Staat die größte Verantwortung zufällt, in dem die Ersteinreise stattfindet, bestehen. Zum anderen wurde auch der Plan eines verpflichtenden und vorhersehbaren Verteilungsmechanismus aufgegeben. Der Pakt basiert auf freiwilligen und optionalen Formen der Solidarität ohne reale Aussichten auf Umverteilung.

  • Unserer Ansicht nach sollte der Pakt transparente und vorhersehbare Relocation-Mechanismen zwischen freiwillig agierenden Mitgliedstaaten beinhalten, die bestehende familiäre und andere Beziehungen der Menschen berücksichtigen. Insbesondere ist dies notwendig bei Asylsuchenden, die nach einer Seenotrettung in einem Hafen angelandet sind und identifiziert (oder sogar registriert) wurden (ansonsten könnte dies, wie vom UNHCR oftmals betont, die Seenotrettung schwer belasten), aber auch generell nach Verfahren an den Außengrenzen der Europäischen Union. Für uns ist dies eine Bedingung für die Legitimität dieser Verfahren.
  • Der Pakt anerkennt die Bedeutung der möglichen Verbindungen eines Asylsuchenden mit einem EU-Mitgliedsland. Er kann somit eine Präferenz äußern, auch wenn dies keiner völligen Wahlfreiheit gleichkommt. Familienbezogene Transferverfahren für Asylsuchende sollten wirksamer sein und häufiger angewandt werden.
  • International Schutzberechtigten sollte es möglich sein, sich unter bestimmten Bedingungen auch aus beruflichen und nicht nur familiären Gründen in einem Mitgliedsstaat außerhalb des Asyllands niederzulassen, ohne dafür auf den Erhalt eines Aufenthaltstitels zu warten.
  • Dem Pakt, der für sich beansprucht eine globale Vision der europäischen Asyl- und Einwanderungspolitik zu verfolgen, mangelt es an konkreten Elementen wie:
  • Mechanismen für die legale und gesicherte Einreise von Flüchtlingen und Asylsuchenden, wie etwa “humanitäre Korridore”, die in Europa bereits für Menschen auf der Flucht vor Konflikten und Krisen in ihren Herkunftsländern erprobt wurden.
  • Arbeitsmigration, für die nur wenige Wege der legalen Migration offenstehen, obwohl Mitgliedstaaten ihre Notwendigkeit anerkennen, was wiederum seit Jahren die Anzahl der Asylanträge erhöht.
  • In Bezug auf das Thema Asyl selbst: die zwischen den Mitgliedstaaten unzureichende Harmonisierung der Aufnahmebedingungen und allen voran der Anerkennungsraten, was chaotische Zustände und sich stetig verlagernde Asylströme in Europe zur Folge hat.
  • Das Schweigen zur Integrationspolitik in den Mitgliedstaaten, auch in Bezug auf anerkannte Flüchtlinge, obwohl Integrationsmöglichkeiten für alle Phasen der Aufnahme ausschlaggebend sind. Aufgrund seines Fokus auf Rückführungen findet dieses Thema kaum Erwähnung.
  • Der Pakt wendet sich an die Mitgliedstaaten, den Rat und das Europäische Parlament und übergeht die wachsende Rolle, die den Städten bei der Aufnahme und Integration von Flüchtlingen und Migrantinnen und Migranten zukommt.

Das Ergebnis der “Konferenz von Rom” ist ein Aufruf zur gemeinsamen Mobilisierung, mit dem Ziel, auf die europäischen Verhandlungen, die sich vermutlich langwierig gestalten werden, Einfluss auszuüben. Dafür soll auf drei Ebenen mobilisiert werden:

  • Über ein Vorgehen auf Ebene der Institutionen der Europäischen Union, insbesondere des Europäischen Parlaments, aber auch der Mitgliedstaaten, um die problematischsten Punkte des Pakts zu verändern, Alternativen vorzuschlagen, Garantien zu erhalten und eine Überwachung der Verfahren durch qualifizierte Vertreterinnen und Vertreter zu erreichen;
  • Über eine breite Koalition aus europäischen Partnerinnen und Partner, die für die Förderung einer humanen und menschenwürdigen Aufnahmepolitik für Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten eintreten: neben NGOs und Vereinen und deren Netzwerke, Städte, die sich stärker engagieren wollen, Mitgliedsstaaten, die vorangehen möchten, sowie Expertinnen und Experten.
  • Über das Einbringen in die gesellschaftspolitischen Debatten und das Einwirken auf die öffentliche Meinung in den Aufnahmestaaten, die die Pluralität der Sichtweisen auf diese Frage berücksichtigt - sich aber klar von fremdenfeindlichen Ideologien abgrenzt - und mit dem Ziel, einen konstruktiven Ansatz zu Migrationsthemen voranzubringen.

 

Unterzeichnerinnen und Unterzeichner: Arbeiterwohlfahrt Bundesverband e.V. ; A.M.I.S Onlus ; Africa e Mediterraneo ; Africa Express ; Agorà degli abitanti della Terra ; AOI Associazione delle organizzazioni non governative  italiani ; ASGI (Associazione Studi Giuridici Immigrazione) ; CIR Consiglio Italiano per i rifugiati ; CRED (Research and development center for democracy) ; Centro Astalli Palermo ; Diakonie Deutschland ; Differenza lesbica ; Forum Réfugiés Cosi ; Forum per cambiare l’ordine delle cose ; Heinrich Böll Stiftung ; Fondazione Orestiadi ; France terre d’asile ; FIEI (Federazione Italiana Emigrati Immigrati) ; Filef (Federazione Italiana lavoratori emigrati e famiglie) ; Grei250 ; GRIS  (Gruppo Immigrazione e Salute) Sicilia ; Istituto Pedro Arrupe ; ICS Italian Solidarity Consortium ; Italian-Tunisian Forum ; GIGI International legal intervention group ; Link 2017 ; Ligue des droits de l’homme ; La Cimade ; Movimento europeo ; Matilde ; Nigrizia ; Promidea ; Programma Integra ; ProAsyl ; Republican Lawyer Association Germany ; Sant’ Egidio ; Secours Catholique – Caritas ; Società Italiana di Medicina delle Migrazioni (S.I.M.M.) ; Swiss Refugee Council ; Tempi moderni ; Ufficio regionale per le migrazioni della CESI ; UNIOPSS ; Ville de Marseille.