Zum zweiten Mal ist Marine Le Pen in der entscheidenden Stichwahl gegen Emmanuel Macron gescheitert. Mit 41,5% unterlag sie dem alten und neuen Amtsinhaber. Aber kann man wirklich von Scheitern sprechen?
Zum zweiten Mal ist Marine Le Pen in der entscheidenden Stichwahl gegen Emmanuel Macron gescheitert. Letzterer wurde am Ende mit 58,5% der abgegebenen Stimmen wiedergewählt. Der rechtsextreme Kandidat Éric Zemmour, der in der ersten Wahlrunde auf dem vierten Platz gelandet war, kommentierte das am 24. April 2022, kurz nach der Bekanntgabe der Ergebnisse folgendermaßen: „Zum achten Mal trägt das Scheitern den Namen Le Pen.“ In jedem Fall ist es das dritte Mal, dass ein Familienmitglied der Le Pens in der zweiten Wahlrunde um das Präsidentenamt scheitert. (2002: Jean-Marie Le Pen, 2017 und 2022: Marine Le Pen). Aber kann man wirklich von Scheitern sprechen?
Um die heutige Situation zu verstehen, ist ein Vergleich zwischen den Ergebnissen von 2022 mit denen aus dem Jahr 2002 aufschlussreich.
2002 erhielt Jean-Marie Le Pen im ersten Wahlgang 4.804.713 Stimmen, zu denen man die 667.026 hinzurechnen kann, die sein Konkurrent Bruno Mégret bekommen hat, der zuvor dem Front National den Rücken gekehrt hatte. Beide zusammen vereinten 13,3% der Wahlberechtigten und 19,2% der abgegebenen Stimmen. In der zweiten Wahlrunde erhielt Jean- Marie Le Pen 5.525.032 und damit 17,8% der Stimmen und unterlag damit haushoch seinem Konkurrenten, Jacques Chirac, der 25.537.956 Stimmen und damit 82,2% der abgegebenen Stimmen gewann. Zwischen der ersten und der zweiten Wahlrunde gab es damals unter den Wähler*innen eine große Mobilisierung, wodurch die Wahlenthaltung von 28,4% auf 20% gesunken ist.
Heute, zwanzig Jahre später, erhält Marine Le Pen in der ersten Wahlrunde 8.133.828 der Stimmen, zu denen man noch die Stimmen der anderen beiden radikal rechten Kandidaten, Eric Zemmour (2.485.226) und Nicolas Dupont-Aignan (725.176), hinzurechnen kann. Zusammen stehen diese drei Kandidaten somit für 23,3% aller Stimmberechtigten und 32,3% der abgegebenen Stimmen. In der zweiten Wahlrunde vereint Marine Le Pen 13.288.686 der Stimmen und damit 41,5%. Emmanuel Macron trennen nur etwas weniger als 5,5 Millionen Wähler*innenstimmen von seiner Konkurrentin (18.768.639 und somit 58,5% der Stimmen). Zwischen beiden Wahlrunden fand eine starke Demobilisierung statt, denn die Wahlenthaltung stieg von 26,3% auf 28%.
Die Gegenüberstellung dieser Ergebnisse spricht für sich. Innerhalb von 20 Jahren verdoppelte die Radikalrechte ihr Ergebnis der ersten Wahlrunde und erhielt 2022 zweieinhalbmal so viele Stimmen in der zweiten Runde. Zudem wird die rekordverdächtige Mobilisierung nach dem ersten Wahlgang im Jahr 2002, 2022 durch eine noch höhere Enthaltung im zweiten Wahlgang ersetzt. Ein seltenes Phänomen in Frankreich, dass es nur 1969 und 2017 schon mal gab. Während 2002 Jean-Marie Le Pen etwa 53.000 Stimmen vom ersten auf den zweiten Wahlgang gewann, gelingt es seiner Tochter 2022 fast zwei Millionen zusätzliche Stimmen zu gewinnen. Im Jahr 2002 formierte sich eine Anti-Le-Pen-Bewegung sowohl an den Wahlurnen, als auch auf der Straße. Am 01. Mai 2002 gingen zwischen beiden Wahlgängen 1,3 Millionen Menschen in ganz Frankreich auf die Straße. 2022 hingegen waren Slogans wie « Weder Le Pen, noch Macron » auf den wenigen Demonstrationen zu hören, auf denen beide Kandidaten de facto gleichgesetzt wurden.
Diese einschneidenden Veränderungen lassen sich durch die Stellung der radikalen Rechten erklären, die in den letzten Jahren immer bedeutender geworden ist. Selbst wenn Marine Le Pen 2022 erneut verloren hat, so hat sie landesweit in nahezu allen Departements im Vergleich zu 2017 an Stimmen gewonnen. Aufgeholt hat sie auch in den traditionell linken Regionen, wie dem (Süd-)Westen oder an Orten, die ihr bislang feindlich gesinnt waren (wie in den Ballungszentren, z.B. Paris). In ihren Hochburgen im Norden und Osten legte sie ebenfalls zu und baute ihren Vorsprung in den ländlichen Gebieten zusätzlich aus. Betrachtet man aus soziologischer Sicht die Zusammensetzung ihrer Wähler*innenschaft, so verteilt sich diese nunmehr auf das gesamte Land und ist zudem breiter gefächert: Ihre Basis ist nun generationenübergreifend (eine Ausnahme sind lediglich die über 65-Jährigen) und mit Blick auf die Berufsgruppen deutlich gemischter. Auch wenn weiterhin den größten Anteil ihrer Wähler*innenschaft Arbeiter*innen ausmachen (ein Drittel), so nimmt doch die Zahl der Freiberufler*innen und hochqualifizierten Fachkräfte zu. Marine Le Pens Einfluss im „Frankreich von unten“ verlagert sich also mehr und mehr in die Mittelschichten. Einzig der Berufsabschluss bleibt ein starkes Unterscheidungskriterium, da Marine Le Pen auch bei der Wahl 2022 überwiegend Personen angezogen hat, die über einen geringen Berufsabschluss verfügen.
In der zweiten Wahlrunde konnte Marine Le Pen schließlich Stimmen aus allen politischen Lagern gewinnen. Wenig überraschend stimmten 80% der Zemmour-Anhänger*innen in der zweiten Runde für sie, aber auch 22% der Pécresse- (Les Républicains) und 18% der Mélenchon-Wähler*innen und schließlich sogar 8% jener Wähler*innen, die zunächst für den Grünen Yannick Jadot gestimmt hatten (Jadot hatte sich am Abend den ersten Wahlgang klar gegen Marien Le Pen ausgesprochen). Und dies trotz der Tatsache, dass diese Kandidaten mehr oder weniger energisch gegen die Wahl Le Pens aufgerufen haben. So sagte Jean-Luc Mélenchon am Abend der ersten Wahlrunde « Keine Stimme soll an Marine Le Pen gehen!“
Es gibt mehrere Elemente, die sowohl die guten Wahlergebnisse Marine le Pens im ersten als auch die Stärkung ihrer Position im zweite Wahlgang erklären können. Dabei lassen sich drei besonders hervorheben: Banalisierung, Rechtsruck und Abstrafung.
Banalisierung
Im Laufe der Jahre ist die Le Pen-Partei „Rassemblement National“, vormals „Front National“, in den Augen der öffentlichen Meinung in Frankreich immer „banaler“ geworden. Dies verdankt sie vor allem der « Entteufelung » innerhalb der Partei und die zum Ziel hatte, jene Personen auszuschließen, die dem Ruf der Partei schaden könnten. Außerdem rühmte sich der Rassemblement National damit professioneller geworden zu sein. Marine Le Pen selbst hatte viel daran gesetzt ihr Image zu verbessern und zu glätten. Sie zeigte sich während des Wahlkampfs ruhiger und besonnener, besonders bei Medienauftritten. Die rechtsextremen Züge des Parteiprogramms wurden unter dem sozialen Anstrich des Wahlkampfs versteckt, der sich vor allem auf das Thema Kaufkraft konzentrierte. Am Thema Europa lässt sich der Punkt der „Banalisierung“ besonders gut illustrieren: Auch, wenn 2022 Marine Le Pen die Idee des FREXIT, also dem Austritt Frankreichs aus dem Euro, vordergründig aufgegeben hat, so schlägt sie in ihrem Programm weiterhin Maßnahmen vor, die auf eine Stärkung der nationalen Souveränität und der französischen Eigeninteressen, abzielen. De facto ist also weiterhin das gleiche gemeint, auch wenn die Vorschläge im Vergleich zu 2017 subtiler geworden sind - sie sind immer noch genauso radikal. Was hingegen eindeutig hervorgehoben wird, ist das Versprechen eines Staates, der mehr eingreift, um die nationale Souveränität zu stärken, also die französischen Eigeninteressen, die besonders den Menschen einfacher Herkunft am Herzen liegen.
Rechtsruck
Ihre Rolle einer Volkstribunin, also einer „Verteidigerin der Interessen des Volkes, der kleinen Leute“, ist umso mehr hervorgehoben worden, als dass mit dem stark medienpräsenten Polemiker Éric Zemmour überraschenderweise ein anderer, noch extremistischerer Akteur auf die Wahlkampfbühne getreten ist. Es wird sich in späteren, profunderen Analysen zeigen, inwiefern die Kandidatur Zemmours, Marine Le Pen tatsächlich genutzt oder geschadet hat. Auch das schlechte Abschneiden der klassischen Rechten mit Valérie Pécresse muss in Bezug auf den Erfolg Le Pens noch weitergehend untersucht werden. Man konnte jedoch beobachten, dass die Kandidatin Marine Le Pen fast schon normal erschien und dass sie sich als die vorrangige Verteidigerin der nationalen Souveränität präsentieren konnte, weil sie im Kontrast zu dem nunmehr als ungleich radikaler erscheinenden Kandidaten Eric Zemmour stand, der die rechtsextreme Theorie des „großen Bevölkerungsaustausches“ in den Vordergrund stellte.
Abstrafung
Schließlich ist 2017 nicht einfach eine Wiederholung von 2022. Emmanuel Macron ist nicht mehr der kaum bekannte Kandidat, nicht mehr « das Wunderkind », der Reformer und überzeugte Europäer. Hinter ihm liegt die Vergangenheit - « das Durchlebte » wie François Mitterrand sagen würde - das, was eine Amtszeit mit sich bringt, die von zahlreichen Krisen geprägt war: das Aufbegehren der Studenten, die Gelbwestenproteste, die Corona-Pandemie, der Krieg in der Ukraine... Während 2017 noch Wähler*innen aus dem linken und rechten Spektrum für ihn stimmten, da er ja versprochen hatte, weder « links noch rechts » zu sein, warfen ihm viele am Ende seiner ersten Amtszeit vor, « rechts und rechts » zu regieren. Die Unzufriedenheit und der Frust haben sich im Laufe der Jahre angestaut. Ein Schlüsselfaktor der Wahlen von 2022 bestand also in dem Wunsch vieler Menschen Macron loszuwerden, in einem „Hau-Ab-Gefühl“. Die Stimmen der Leute, die Le Pen gewählt haben, um Macron „abzustrafen“, halten sich nahezu die Wage mit jenen, die aus Misstrauen gegen Le Pen für Macron gestimmt haben. Die Logik von Zustimmung und Abstrafung spielten bei der Stimmabgabe für die beiden Finalisten eine Rolle. Ein weiteres Phänomen, das ebenso wichtig ist, wie diese Umfrageergebnisse, ist die Zahl der ungültigen Stimmen und leeren Wahlzettel, die sich auf 800.000 in der ersten, aber auf drei Millionen in der zweiten Wahlrunde beläuft (was 8,6% der Wähler*innen bedeutet). Nicht zu vergleichen mit der Anti-Le-Pen-Bewegung, die 2002 aufbegehrt hatten.
Wir sehen also, wie die extreme Rechte sich zwischen 2002 und 2022 immer mehr in der französischen Gesellschaft verankert hat. Für diese Erweiterung der Wähler*innenbasis sind verschiedene Elemente verantwortlich: die zunehmende soziale Unsicherheit, der Antiliberalismus, der noch immer von einer historischen Bindung an den Colbertismus herrührt, die Tendenz, sich als Nation auf sich selbst zurückzuziehen, die Ängste vor der europäischen Integration, sowie souveränistische und ausländerfeindliche Ansichten. Außerdem das „Hau-ab-Gefühl“ in der öffentlichen Meinung gegenüber dem Amtsinhaber und ein latenter französischer Pessimismus. Schließlich auch ein internationaler Kontext, der den Aufstieg der Rechten befördert hat (Terrorismus, Migrationsbewegungen, Konflikte und das weltweite Erstarken von Populisten). Was bislang den Rechten den Zugang zu politischer Verantwortung und zum höchsten Staatsamt verwehrt hat, ist das Mehrheitswahlrecht mit den zwei Wahlrunden. Ebenso gab es bislang keine Allianzen unter den Rechten, abgesehen von einigen Beispielen auf lokaler Ebene. Zudem fehlt es noch an einer kompletten Ausbreitung der Partei über das ganze Land. Entscheidend ist auch das herrschende Bild von Marine Le Pen und die Frage, ob man ihr das Präsidentenamt zutraut.
Jacques Chirac hat aus seinem überragenden Sieg 2002 nichts gemacht, obwohl er ihn zum großen Teil der Linken zu verdanken hatte. Emmanuel Macron wurde 2017 gewählt, weil er versprochen hatte, die politische Landschaft Frankreichs zu erneuern, die durch große soziale, wirtschaftliche und geopolitische Krisen zerfallen war. Seine Wiederwahl 2022 und die damit beginnende zweite Amtszeit werden Frankreich nur befrieden und die Dynamik der radikalen Rechten aufhalten können, wenn er jene ins Blickfeld nimmt, die gegen ihre politische Überzeugung für ihn gestimmte haben und jene, die von Anfang an gegen ihn waren oder gar nicht erst gewählt haben. Vor allem aber muss es ihm gelingen, diesen Franzosen und Französinnen Gehör zu schenken und Lösungen auf ihre Fragen zu finden, um die gespaltene Republik wieder zusammenzubringen.