Artikel 49.3 – Unruhe in der französischen Assemblée nationale

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Seit den Parlamentswahlen im Juni 2022 muss Frankreichs Präsident Emmanuel Macron politisch ohne Regierungsmehrheit in der Nationalversammlung, der Assemblée nationale, vorankommen. In diesem Kontext relativer Mehrheiten wären Kompromisse unerlässlich – doch die französische Regierung unter Premierministerin Élisabeth Borne nutzt die Möglichkeit, unter Berufung auf Artikel 49.3 der Verfassung, Gesetze ohne Abstimmung im Parlament zu verabschieden.

Französische Nationalversammlung

Fehlende Regierungsmehrheit: Uneinigkeiten bezüglich des Haushaltsplans für 2023

Nach den Parlamentswahlen im Juni 2022 hatte der französische Präsident Emmanuel Macron die Parteichefinnen und -chefs der Opposition nacheinander mit dem Ziel empfangen, seine Mehrheit im Parlament zu erweitern – und ist damit gescheitert. Nun sieht sich Frankreich damit konfrontiert, eine Regierung ohne klare Mehrheit zu haben. Bei der Abstimmung einiger Gesetzestexte (bezüglich der französischen Kaufkraft im Juli oder zur Reform der Arbeitslosenversicherung Anfang Oktober) hat sich die Koalition Ensemble pour la majorité présidentielle von Emmanuel Macron noch auf die Stimmen der Rechten stützen können, doch allgemein scheint das politische Treiben in Frankreich derzeit vor allem von Stillstand geprägt zu sein.[1]

Neuer Diskussionspunkt in der Assemblée nationale ist der von der französischen Regierung vorgelegte Entwurf des projet de loi de finances für das Jahr 2023. Jedes Jahr bietet der Entwurf des Haushaltsgesetzes einen Vorschlag aller Einnahmen und Ausgaben Frankreichs für das kommende Jahr. Das Gesetz legt somit den französischen Haushalt fest; die Art, die Höhe und die Zuweisung der Einnahmen und Ausgaben gemäß einem bestimmten wirtschaftlichen und finanziellen Gleichgewicht. Der diesjährige Entwurf soll eine Ausgewogenheit zwischen der Kontrolle der öffentlichen Finanzen einerseits und einem Schutz der Französinnen und Franzosen in der Krise andererseits erzielen, indem das öffentliche Defizit in Frankreich auf 5 Prozent des französischen Bruttoinlandsprodukts begrenzt und gleichzeitig eine Ausgabenobergrenze in Höhe von 45 Milliarden Euro eingeführt wird, um den derzeitigen Anstieg der Strom- und Gaspreise einzudämmen.[2] Unstimmigkeiten unter den Parteien bestehen insbesondere mit Blick auf den vorgelegten Entwurf zur Finanzierung der Sozialversicherung.

Bereits zu dem umstrittenen ersten Teil des Haushaltsgesetzentwurfs, der Ende September eingereicht wurde, waren mehr als 3000 Änderungsanträge aus allen politischen Lagern eingereicht worden; die Regierung hat diese jedoch ausnahmslos zurückgewiesen.[3] Im Namen der Steuerstabilität hat sie beispielsweise einen Vorschlag der mehrheitsfähigen Partei MoDem zur Erhöhung der Besteuerung von „Superdividenden“ großer Unternehmen abgelehnt. Diese Maßnahme, gegen die sich explizit der Wirtschaftsminister Frankreichs, Bruno Le Maire, stellte, hatte unter anderem die Unterstützung der französischen Linken erhalten.[4]

Die Kompromissfindung und darüber hinaus die Verabschiedung eines entsprechenden Gesetzentwurfs durch das französische Parlament stagnierten. In dieser Hinsicht äußerte sich die Premierministerin Frankreichs, Élisabeth Borne, kritisch zu den Fraktionsvorsitzenden der Opposition, die sehr schnell bekannt gegeben hatten, nicht für den Haushaltsentwurf zu stimmen und, so Élisabeth Borne, eine Blockade des Entwurfs provozierten.[5]

Was besagt Artikel 49.3 der französischen Verfassung?

Die Premierministerin aktivierte schließlich am Mittwoch, den 19. Oktober 2022 im Namen der französischen Regierung Artikel 49.3 der französischen Verfassung, um den ersten Teil des Entwurfs des Haushaltsgesetzes für 2023 ohne Abstimmung im Parlament zu verabschieden. Mit Bezug auf den Text zur Finanzierung der Sozialversicherung folgten eine zweite und dritte Aktivierung des 49.3 in der darauffolgenden Woche.[6]

Artikel 49.3 der französischen Verfassung besagt, dass der Premierminister oder die Premierministerin vor der Nationalversammlung die Verantwortung der Regierung für die Abstimmung über einen Entwurf des Finanzgesetzes oder des Gesetzes zur Finanzierung der Sozialversicherung übernehmen kann. In diesem Fall gilt dieser Entwurf als angenommen, es sei denn, ein innerhalb von vierundzwanzig Stunden danach eingereichter Misstrauensantrag gegen die Regierung wird angenommen. Der Premierminister oder die Premierministerin kann dieses Verfahren dann für einen weiteren Gesetzesentwurf pro Sitzungsperiode anwenden.

Artikel 49.3 ist demnach ein der Regierung in Frankreich zur Verfügung stehendes Instrument, das ein „Durchregieren“ ermöglicht, wenn ihre Mehrheit in der Nationalversammlung knapp oder nur relativ ist. Umgekehrt muss die Regierung bei einer absoluten und komfortablen Mehrheit in den meisten Fällen daher nicht auf den 49.3 zurückgreifen.

Zu Beginn der zweiten Amtszeit von François Mitterrand (1988-1995) setzte der damalige Premierminister Michel Rocard, der nur über eine relative Mehrheit im Parlament verfügte, zwischen 1988 und 1991 28 Mal den 49.3 ein, um seine Gesetzestexte durchzubringen. Dies ist bei weitem der absolute Rekord in der gesamten Fünften Republik. Während der ersten fünfjährigen Amtszeit von Emmanuel Macron (2017-2022) wurde der 49.3 lediglich einmal verwendet, und zwar im Jahr 2020 von Édouard Philippe bei der französischen Rentenreform. Élisabeth Borne hingegen wird den Artikel 49.3 vermutlich regelmäßig nutzen müssen, da die letzten Parlamentswahlen in Frankreich ihr nur eine relative Mehrheit beschert haben – es scheint daher allerdings unwahrscheinlich, dass die Premierministerin alle ihre Gesetzentwürfe durchbringen kann. Denn im Gegensatz zu Michel Rocard wird sie eine Wahl treffen müssen: Die Verfassungsreform von 2008 beschränkt den Gebrauch des 49.3 in Frankreich auf einen einzigen Text während einer Parlamentssitzung – die ordentlichen Sitzungen laufen von Anfang Oktober bis Ende Juni. Ausgenommen von dieser Beschränkung sind jedoch die Entwürfe für das Finanzgesetz oder das Gesetz zur Finanzierung der Sozialversicherung.[7]

Über die Anwendung des 49.3 im Rahmen des Haushaltsgesetzentwurfs wurde seit dem Spätsommer in Frankreich viel spekuliert. Dabei ist diese Vorgehensweise vonseiten der Regierung die Folge seit Wochen andauernder Uneinigkeiten in der französischen Parteienlandschaft. Im Zuge der Debatten um die vorgelegten Änderungsanträge und die Ankündigung der Regierung, sich bei mangelnder Kompromissfindung auf Artikel 49.3 zu berufen, hatten die Abgeordneten des links-grünen Bündnisses Nouvelle Union populaire écologique et solidaire (Nupes) die „Maskerade“ der Diskussionen anprangerten. Die Nupes hatte darüber hinaus mehrmals erfolglos Verlängerungen und zusätzliche Sitzungen gefordert, um die zahlreichen Anträge zu prüfen – eine Forderung, die auch von Les Republicains, die der Regierung relativ nahestehen, gestellt worden war. Die linken und grünen Abgeordneten hatten bei den Ankündigungen der Aktivierung des 49.3 der Premierministerin wiederholt den Plenarsaal verlassen. Auch die Abgeordneten des rechten Rassemblement National (RN) waren zuletzt bei der Erklärung der Premierministerin nicht im Plenarsaal anwesend.[8]

Die Regierung von Élisabeth Borne hat ihren Entwurf für das Haushaltsgesetz demnach trotz aller Uneinigkeiten verabschiedet. Die französische Opposition hatte jedoch die Möglichkeit, dem durch einen Misstrauensantrag, der einen Sturz der Regierung zur Folge gehabt hätte, entgegenzuwirken.

Misstrauensanträge von rechts und links-grün

Wenn der französische Premierminister oder die Premierministerin vom 49.3 Gebrauch macht, hat die Opposition 24 Stunden Zeit, um einen Misstrauensantrag einzureichen. Dieser muss von mindestens einem Zehntel der Abgeordneten (das heißt 58 Abgeordneten) unterzeichnet werden, damit er zur Abstimmung gestellt werden kann. Der Antrag muss anschließend mit einer Mehrheit der 577 Mitglieder der Nationalversammlung, das heißt mit mindestens 289 Stimmen, angenommen werden. Ist dies der Fall, ist der angefochtene Gesetzestext erfolgreich abgelehnt und die Regierung gestürzt.[9]

Bei bisher 87 Verwendungen des 49.3 durch die französische Regierung seit der Einführung der Fünften Republik im Jahr 1958 wurde noch kein Misstrauensantrag von den Abgeordneten angenommen. Überhaupt wurde in der Fünften Republik nur ein einziger solcher Antrag bewilligt, und zwar 1962, der die Regierung von Georges Pompidou zu Fall brachte. Dieser war motiviert durch die Unzufriedenheit der Parlamentsmehrheit mit dem Präsidenten der französischen Republik, Charles de Gaulle, und seiner Reform zur allgemeinen Direktwahl des Präsidenten der Republik. Die Regierung Pompidou musste daraufhin zwar zurücktreten, doch de Gaulle reagierte mit der Auflösung der Assemblée nationale. Es wurden neue Parlamentswahlen angesetzt, die mit einem Sieg der Gaullisten endeten – die Auswirkungen des ersten Misstrauensantrags wurden damit hinfällig.[10]

Nachdem sich Élisabeth Borne auf Artikel 49.3 berufen hat, haben der links-grüne Zusammenschluss Nupes und der RN insgesamt drei Misstrauensanträge eingebracht. Die Nupes prangerte in ihren beiden Texten insbesondere die „Missachtung“ der Regierung gegenüber dem französischen Parlament an und kritisierte einen „in Bezug auf das Klima unverantwortlichen“ Haushalt. Der RN warf der Regierung eine „Verweigerung der Demokratie“ vor, da sie rund 50 Änderungsanträge abgelehnt habe, obwohl diese in der Nationalversammlung vor dem Einsatz des 49.3 verabschiedet wurden.[11]

Die Misstrauensanträge wurden anschließend von den französischen Abgeordneten debattiert, hatten jedoch nicht zuletzt aufgrund der Position der Abgeordneten von Les Républicains, die es ablehnten, „dem Chaos noch mehr Chaos hinzuzufügen“[12], von Beginn an wenig Aussicht auf Erfolg. Zudem wollte sich die große Mehrheit der Abgeordneten der Nupes-Parteien La France Insoumise, Parti Socialistes, Europe Écologie Les Verts und Parti Communiste nicht auf die Seite der extremen Rechten stellen und für deren Misstrauensantrag stimmen. Auch der RN hatte zunächst angekündigt, wiederum nicht für den Text der Grünen und Linken votieren zu wollen. Marine Le Pen verkündete mit Blick auf dieses Verhalten jedoch kurzfristig einen Richtungswechsel und rief ihre Partei dazu auf, dem Misstrauensantrag der Nupes zuzustimmen.

Dennoch wurde die Regierung von Elisabeth Borne letztendlich nicht gestürzt; weder die beiden von der Nupes eingereichten Misstrauensanträge noch der vom RN verteidigte Antrag erreichten am Montag, den 24. Oktober 2022 eine absolute Mehrheit. Der erste Teil des Haushalts und des Entwurfs zur Finanzierung der Sozialversicherung wurden daher de facto in erster Lesung über das Verfahren des 49.3 verabschiedet.

Was sagt die Situation über die derzeitige politische Lage Frankreichs?

Grundsätzlich zeigt das Anwenden des Artikels 49.3 die tiefgreifenden Schwierigkeiten aller französischen Parteien in der Nationalversammlung, die eigene Vorgehensweise zu ändern und Kompromisse zu finden, die vor allem in einem Kontext relativer Mehrheiten unumgänglich sind. Angeheizt wird diese Anspannung zusätzlich durch die Ankündigung Emmanuel Macrons, im Kontext der Debatte zur von der Regierung anvisierten Rentenreform die Nationalversammlung aufzulösen, falls seine Mehrheit überstimmt werden sollte. Darüber hinaus sind in Frankreich seit Beginn der aktuellen 16. Legislaturperiode die Parlamentsdebatten scheinbar zu einem Spiegel der Konfliktanfälligkeit und politischen Spaltung geworden, die sich allgemein durch die französische Gesellschaft ziehen und bereits bei der vergangenen Parlamentswahl deutlich wurden.[13] Der französischen Regierung wurde im Juni die parlamentarische Mehrheit aberkannt. Seitdem befindet sich jede Partei ohne Zweckbündnisse oder Koalitionsverträge in einer Sackgasse und ist konfrontiert mit der Unmöglichkeit, eine Mehrheit zu erlangen.[14]

Präsident Macron, der sich selbst zwar in der politischen Mitte verortet, hat in den letzten Monaten keine wechselnden Mehrheiten organisiert, sondern sich vorwiegend auf die Stimmen der konservativen Les Républicains verlassen. Auch einer Koalition mit ihnen steht Macron aufgeschlossen gegenüber, wie er zuletzt in einem Interview auf France 2 betonte. Damit wird Frankreich de facto von einer Mehrheit rechts der Mitte regiert. Diese Entwicklung scheint an den Französinnen und Franzosen nicht vorbei zu gehen; eine Umfrage des Fernsehsenders BFMTV zeigt, dass derzeit 48 Prozent der französischen Bevölkerung die Politik von Emmanuel Macron als rechts einstufen. Im Juli 2022 waren es noch zehn Prozent weniger. Wohin dies den französischen Präsidenten führt, wird sich zeigen. Die BFMTV-Umfrage verweist nämlich außerdem darauf, dass aktuell 57 Prozent der Französinnen und Franzosen von der Arbeit Emmanuel Macrons enttäuscht sind.

 


[7] Siehe Fußnote 4

[8] Siehe Fußnote 5

[9] Siehe Fußnote 4

[10] Siehe Fußnote 3

[11] Siehe Fußnote 3