Italien sicherte bereits 1978 mit der Legge 194 (Gesetz nr. 194) das Recht auf Schwangerschaftsabbruch, doch der Zugang bleibt bis heute schwierig. Strukturelle Hürden, eine hohe Gewissensverweigerungsrate unter Ärzt*innen und politische Maßnahmen schränken die Möglichkeiten stark ein. Der kürzlich eröffnete „Raums des Zuhörens“ in Turin durch Abtreibungsgegner*innen hat die Diskussion über den Schutz der Frauenrechte neu entfacht und zeigt, wie tief die Kontroversen um das Thema Schwangerschaftsabbruch verwurzelt sind. Trotz der rechtlichen Grundlagen haben viele schwangere Personen Schwierigkeiten, rechtzeitig und sicher auf Abtreibungsdienste zuzugreifen.
Am 9. September, nur wenige Wochen vor dem internationalen Tag für das Recht auf Abtreibung, hat das Sant’Anna-Krankenhaus in Turin die „stanza dell’ascolto“ eingeweiht. Dieser sogenannte „Raum des Zuhörens,“ von den regionalen Gesundheitsbehörden genehmigt und mit öffentlichen Mitteln finanziert, wird von der katholischen und konservativen Anti-Abtreibungsorganisation „Movimento Per La Vita“ betrieben.[1] Ziel ist es, Frauen, die eine Abtreibung in Erwägung ziehen, Alternativen und wirtschaftliche Unterstützung anzubieten – mit anderen Worten, sie von einer Abtreibung abzuhalten.[2] Die Eröffnung der Stanza dell’ascolto löste rasch eine öffentliche Debatte aus, bei der Befürworter*innen des Abtreibungsrechts argumentieren, dass dies das Recht auf Abtreibung gemäß Gesetz 194 verletzt.[3]
In Italien bleibt der Zugang zu Abtreibungsdiensten trotz der rechtlichen Absicherung durch die 1978 erlassene Legge 194 ein umstrittenes und herausforderndes Thema. Dieser Artikel untersucht daher, was das Gesetz genau beinhaltet, wie einfach (oder schwierig) der Zugang zu Abtreibungen in Italien ist und wie sich das aktuelle politische Szenario auf das Recht auf Abtreibung auswirkt.
Die Legalisierung durch das Gesetz 194 im Jahr 1978
Die 1970er Jahre waren in Italien von einem intensiven gesellschaftspolitischen Konflikt über die Frage der Abtreibung geprägt, wobei Feminist*innen und Befürwortende der Legalisierung auf der einen Seite und die katholische Kirche sowie traditionelle Organisationen auf der anderen Seite standen. Dieses polarisierte Klima führte im Mai 1978 schließlich zur Verabschiedung der Legge 194, mit dem die Abtreibung unter bestimmten Bedingungen, die Fristenlösung und die Beratungspflicht legalisiert wurde. Bis dahin war der Schwangerschaftsabbruch mit einer Freiheitsstrafe von zwei bis fünf Jahren bestraft.[4]
Das Gesetz stieß auf sofortigen Widerstand und wurde 1981 in Frage gestellt, als Italiener*innen im Rahmen eines Referendums über fünf kritische Fragen, darunter das Abtreibungsrecht, abstimmten. Mit einer Wahlbeteiligung von 79 % wurde das Referendum zu einem historischen Moment, der das Engagement der italienischen Gesellschaft zur Aufrechterhaltung des Gesetzes 194 bekräftigte.[5]
Heute ist das Abtreibungsrecht in Italien im Gesetz 194/1978 wie folgt verankert:[6]
- Eine Abtreibung ist innerhalb der ersten 90 Tage (genauer: 12 Wochen und 6 Tage seit der letzten Menstruation) auf Grundlage der persönlichen Entscheidung der schwangeren Person erlaubt, wenn sie der Meinung ist, dass die Fortsetzung der Schwangerschaft ihrer Gesundheit schaden könnte.
- Nach den ersten 90 Tagen ist eine Abtreibung nur zulässig, wenn die Schwangerschaft ein erhebliches Risiko für die physische oder psychische Gesundheit der Schwangeren darstellt oder fetale Anomalien vorliegen. Ist dies der Fall, muss der Eingriff medikamentös erfolgen, was den Geburtsvorgang simuliert und gebärende Körper zwingt, einen Geburtsprozess anstelle eines chirurgischen Abbruchs zu durchlaufen. Das italienische Recht verpflichtet Ärzte zudem, das Leben des Fötus zu schützen, sodass sie in manchen Situationen gezwungen sind, den Fötus zu reanimieren.[7]
- Ein ärztliches Zertifikat, von Ärzt*innen ausgestellt, das sowohl Wunsch der Schwangeren eine Abtreibung vorzunehmen, als auch die Schwangerschaft selbst bestätigt, ist erforderlich. Diese Zertifikat kann in Gesundheitseinrichtungen oder öffentlichen Beratungsstellen (consultori) erhalten werde.
- Frauen wird eine Wartezeit von sieben Tagen nach der Erhaltung des Zertifikats empfohlen, bevor sie den Abbruch durchführen.
- Gesundheitspersonal (nicht nur ärztliches Personal, sondern auch Pflege- und Technikpersonal) kann sich als Gewissensverweigerer registrieren lassen und sich somit weigern, Abtreibungen durchzuführen. Dies ist ein zentraler Aspekt des Abtreibungsrechts in Italien, da es den Zugang zur Abtreibungsversorgung unmittelbar einschränkt.
Eine Besonderheit des italienischen Systems sind die Consultori, Familienberatungsstellen, die 1975 eingerichtet und durch Gesetz 405 reguliert wurden. Es handelt sich dabei um öffentliche Einrichtungen, die eine Vielzahl von Dienstleistungen im Bereich der reproduktiven Gesundheit, Familienplanung und Gesundheitsvorsorge anbieten. Sie bieten kostenlose oder kostengünstige Dienstleistungen wie die Beratung vor einem Schwangerschaftsabbruch, Verhütungsmittel, und die Ausstellung der erforderlichen Bescheinigungen. Sie spielen eine zentrale Rolle bei der Bereitstellung von Abtreibungsleistungen in Italien. Hier die Liste der Consultori auf der Website des Gesundheitsministeriums.
Abtreibung in Italien – Statistiken
Im Jahr 2021 wurden in Italien 63.653 Abtreibungen verzeichnet, was einem Rückgang von 4,2 % im Vergleich zum Vorjahr und einen deutlichen Rückgang gegenüber dem Höchststand von 234.801 Abtreibungen im Jahr 1983 entspricht. Für das Jahr 2022 meldet Eurostat 5,0 Abtreibungen pro 1000 Frauen im reproduktiven Alter in Italien, womit das Land eine der niedrigsten Abtreibungsraten weltweit aufweist. Zum Vergleich: Frankreich verzeichnete 14,1/1000 Frauen, Deutschland 5,6/1000 Frauen,[9] und die USA zählten 11,6/1000 Frauen (die Zahl stieg auf 15,9/1000 im Jahr 2024).[10] In Italien wird die Gesundheitsversorgung auf regionaler Ebene von den lokalen Behörden verwaltet, so dass es 21 verschiedene Systeme gibt. Es bestehen regionale Unterschiede: In Ligurien, Piemont, der Emilia Romagna und Apulien liegt die Rate bei über 6 pro 1.000 Frauen, während sie in der Basilikata, den Marken und Kalabrien unter 4 pro 1.000 Frauen liegt.[11]
Trotz des Anstiegs pharmakologischer Schwangerschaftsabbrüche von 12,9 % im Jahr 2014 auf 45,3 % im Jahr 2021 bleibt in Italien die chirurgische Methode weiterhin die häufigste. Dies steht zum Beispiel im Gegensatz zu Frankreich, wo pharmakologische Abtreibungen 1980 eingeführt wurden 75 % aller Abtreibungen ausmachen.[12] Dies lässt sich teils dadurch erklären, dass pharmakologische Abtreibungen nur in drei Regionen in der Beratungsstelle erhältlich sind. Zudem gibt es mehrere Desinformationskampagnen von Pro-Life-Organisationen, wie „Würden Sie jemals Gift nehmen?“ von ProVita & Famiglia in denen fälschlicherweise behauptet wird, dass die Abtreibungspille RU486 für Frauen tödlich sein könnte.[13]
Was sind die größten Herausforderungen beim Zugang zum Schwangerschaftsabbruch in Italien?
Gewissensverweigerung
Obwohl der Schwangerschaftsabbruch in Italien im Prinzip legal ist, ist der Zugang aufgrund systemischer Hindernisse eine Herausforderung. Ein drängendes Problem ist die hohe Rate an Gewissensverweigerern unter medizinischem Personal. Landesweit lehnen über 70 % der Ärzt*innen die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen ab, in manchen Regionen liegt die Rate sogar bei 90–100 %.[14] Dieser Mangel an willigen Ärzt*innen führt dazu, dass die Arbeitsbelastung für nicht-verweigernde Gynäkolog*innen sehr hoch ist, was es schwierig macht, das Recht auf eine termingerechte und sichere Abtreibung zu gewährleisten. In Krankenhäusern, in denen keine ortsansässigen Ärzt*innen zur Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen zur Verfügung stehen, sind die Frauen oft auf Gastärzt*innen angewiesen, die möglicherweise nur an wenigen Tagen in der Woche anwesend sind.
Regionale Diskrepanzen beim Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen
Eine weitere Herausforderung ist die regionale Ungleichheit beim Zugang zum Schwangerschaftsabbruch, da die Gesundheitsversorgung in Italien eine regionale Kompetenz ist. Am beschränktesten ist der Zugang in der Basilikata und im Molise, wo nur ein Arzt in einem einzigen Krankenhaus Abtreibungen durchführt, und in Kalabrien und den Marken, wo zwischen 90 % und 100 % der Ärzte den Eingriff ablehnen.[15] Zudem fehlt es landesweit an consultori da es etwa 60 % weniger Familienplanungszentren gibt als den gesetzlich empfohlenen Mindeststandard von einem consultorio pro 20,000 Einwohner.[16][17]
Pharmakologische Abtreibungen
Das Thema des pharmakologischen Schwangerschaftsabbruchs ist in Italien nach wie vor heikel, trotz der in 2020 eingeführten Änderungen, die den Zugang zur Abtreibungspille RU486 erleichtern sollten. Es besteht weiterhin eine weit verbreitete Skepsis gegenüber der Sicherheit dieser Methode, was zum Teil auf die oben erwähnten Desinformationskampagnen und die Tatsache zurückzuführen ist, dass sie später als in anderen Ländern legalisiert wurde. Zudem haben sich die überwiegende Mehrheit der Regionen nicht an die Leitlinien des Gesundheitsministeriums gehalten und die Verfügbarkeit von RU486 nicht sichergestellt. Nur drei Regionen (Latium, Emilia-Romagna und Toskana) erlauben derzeit den pharmakologischen Schwangerschaftsabbruch in der Beratungsstelle, während in Piemont die Mitte-rechts-Regionalregierung die Nutzung von RU486 in den Consultori untersagt hat. Dies schafft eine zusätzliche Hürde, da Frauen oft gezwungen sind, in eine andere Provinz oder Region zu reisen, um Zugang zu einem medikamentösen Schwangerschaftsabbruch zu erhalten.[18] Dies steht in deutlichem Gegensatz zu den meisten europäischen Ländern, wo die pharmakologische Methode bevorzugt wird.
Bildungsdefizite
Auch die Aufklärung über Abtreibung und Verhütungsmittel bleibt ein Schwachpunkt. Italien ist eines der einzigen EU Länder wo Sexualkunde nicht verpflichtend ist, obwohl seit 1977 sechzehn parlamentarische Vorschläge zur Einführung von Sexualkunde in den Schulen gemacht wurden.[19] Derzeit gibt es eine Verordnung, die 30 Stunden Sexualkundeunterricht vorsieht, doch diese Kurse sind freiwillig und finden außerhalb der regulären Schulzeit statt. Infolgedessen ist die Aufklärung über reproduktive Gesundheit uneinheitlich und hängt in hohem Maße von den Entscheidungen der einzelnen Schulleiter und regionalen Behörden ab. Mangelnde Bildung und irreführende Informationen führen de facto zu einer sozialen Diskriminierung beim Zugang zu Abtreibungsrechten, da dieser an den Besitz eines soliden relationalen und kulturellen Kapitals gebunden ist.
Zusammengenommen schaffen diese Faktoren erhebliche Hindernisse für den Zugang zum Schwangerschaftsabbruch in Italien, sodass viele Frauen keine angemessene Unterstützung, Aufklärung und rechtzeitige medizinische Versorgung erhalten. Dies zwingt sie dazu, außerhalb der Provinz, der Region oder in manchen Fällen sogar außerhalb des Landes zu reisen.
Steht die Legge 194 in der aktuellen politischen Landschaft auf dem Spiel?
Die italienische Premierministerin Giorgia Meloni, der rechtsextremen Partei Fratelli d’Italia, hat wiederholt erklärt, dass ihre Regierung nicht beabsichtigt, die Legge 194 zu ändern.[20] Doch was sagen ihre politischen Maßnahmen zwei Jahre nach Beginn ihres Mandats aus? Im April 2024 verabschiedete der Senat eine Änderung, die Gruppen mit „qualifizierter Erfahrung in der Unterstützung der Mutterschaft“ Zugang zu Krankenhäusern und Einrichtungen erlaubt, in denen Abtreibungen durchgeführt werden.[21] Damit haben Abtreibungsgegner*innen praktisch uneingeschränkten Zugang zu Gesundheitseinrichtungen und die Möglichkeit, Frauen zu beeinflussen, die auf eine Abtreibung warten.
Darüber hinaus unterhält Meloni enge Beziehungen zu Pro-Life-Bewegungen wie Pro Vita & Famiglia und hat in der Vergangenheit betont, Alternativen schaffen zu wollen, damit „Frauen nicht aus finanziellen Gründen abtreiben müssen.“[22] Auch Melonis Entscheidung, das Thema Abtreibung aus dem G7-Dokument zu entfernen, sorgte für internationalen Aufruhr, wurde jedoch von Abtreibungsgegner*innen begrüßt.[23] Zudem hat sie die Herausforderungen im Zugang zu Abtreibungen in Italien hat sie in der Vergangenheit jedoch bestritten. Es besteht die Gefahr, dass Ihre Regierung den Zugang zur Abtreibung weiter einschränken könnte, indem sie Abtreibungsgegner*innen den Zugang zu Abtreibungseinrichtungen zunehmend erleichtert, die Mittel weiterhin kürzt, Anti-Abtreibungsbotschaften verbreitet und ganz allgemein den Status quo beibehält.
Innerhalb des breiteren politischen Spektrums Italiens nehmen die Mitte-Rechts-Parteien eine ähnliche Haltung ein, da Sie offiziell die Beibehaltung des Gesetzes 194 unterstützen, jedoch Änderungen vorschlagen, die den Zugang zum Schwangerschaftsabbruch beschränken. Forza Italia vertritt einen gemäßigten, aber konservativen Standpunkt, der darauf abzielt, Abtreibung als Wahlmöglichkeit zu entmutigen und die Unterstützung von Mutterschaft und Familienwerten zu betonen. Die Lega fordert zwar nicht ausdrücklich die Aufhebung des Gesetzes 194, vertritt aber dennoch die Werte der Abtreibungsbefürworter und hat Maßnahmen vorgeschlagen, wie z. B. die Verpflichtung für Frauen, den Herzschlag des Fötus abzuhören, bevor sie eine Abtreibung vornehmen.
Im Gegensatz dazu unterstützen linke und grüne Parteien wie der Partito Democratico und Alleanza Verdi-Sinistra das Abtreibungsrecht nachdrücklich und wollen den Zugang zu Abtreibungsdiensten ausweiten. Dabei befassen sie sich insbesondere mit den Hindernissen, die durch die hohe Zahl von Verweigerern aus Gewissensgründen entstehen. Andere Parteien der Mitte und des linken Spektrums wie Movimento 5 Stelle und Italia Viva befürworten ebenfalls die Aufrechterhaltung und Stärkung des Gesetzes 194 und betonen die Bedeutung einer sicheren und zugänglichen Abtreibungsversorgung.
Bleibt das Abtreibungsrecht also auf dem Papier stärker als in der Praxis?
Obwohl das italienische Gesetz 194 das Recht auf Abtreibung technisch garantiert, schränken systembedingte Hindernisse und politische Einflüsse den praktischen Zugang zu Abtreibungsdiensten ein. Die hohe Zahl der Verweiger*innen aus Gewissensgründen, die regionalen Unterschiede beim Zugang zur Gesundheitsversorgung und die jüngsten politischen Maßnahmen zugunsten von Abtreibungsgegner*innen stellen allesamt eine große Herausforderung dar. Die italienische politische Landschaft offenbart ein komplexes Gleichgewicht zwischen der Aufrechterhaltung des Rechts auf Abtreibung und der Umsetzung von Maßnahmen, die den Zugang zu ihr ermöglichen, was die prekäre Lage der reproduktiven Rechte in Italien unterstreicht.
[14] Basierend auf den neuesten verfügbaren Informationen aus dem Jahr 2021 https://laiga194.it/sai-qual-e-la-percentuale-di-obiettori-e-obiettrici…
[15] Eine Karte der Gesundheitseinrichtungen, die Schwangerschaftsabbrüche anbieten: https://laiga194.it/mappa-ospedali-italiani-ivg-itg/
[16] Basierend auf den letzten Statistiken von 2019 https://www.repubblica.it/cronaca/2024/01/08/news/consultori_chiusura_d…