Wir sind wer! - Wer sind wir? Die Suche nach einer verlorenen Kultur der Rechten

Analyse

Trotz ihrer langen Geschichte und ihrer faschistischen Vergangenheit profitierten die „Fratelli d’Italia“ von dem Eindruck des „Neuen“. Um sich langfristig zu konsolidieren, will Parteichefin und Ministerpräsidentin Giorgia Meloni dieses Neue bewahren und das Alte neuerfinden. Ob und wie ihr dies gelingt, erläutert unser Autor Christopher Hein.

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„Fratelli d‘Italia“ unter der Regierungschefin Giorgia Meloni ist eine relativ junge Partei, gleichwohl mit alter Geschichte. Ihr Erfolg, innerhalb weniger Jahre von 4% auf über 30% der Wählerstimmen zu wachsen, ist aber sicher nicht nur dem Rückgriff auf diese alte Geschichte zu verdanken. Sie gliedert sich ein in die italienische Tradition, seit des Zusammenbruchs der klassischen christdemokratischen, kommunistischen und sozialistischen Parteien zu Beginn der 90er Jahre, immer wieder auf „das Neue“ zu setzen. Auf die „Alternative“, von der geglaubt wird, sie könne die verkrusteten Strukturen der politischen und gesellschaftlichen Landschaft aufbrechen. Das erklärt, zumindest teilweise, die schnellen und radikalen Wechsel in der Wählergunst. Aber auch das Neue wird irgendwann wieder alt, wie es z.B. die 5-Sterne-Bewegung erfahren hat. Meloni und die „Fratelli d’Italia“ streben eine längerfristige Perspektive an und begnügen sich nicht mit kurzfristigen Triumphen, die mehr von Enttäuschung und Wut als von einer politischen Vision erzeugt werden. Sie wollen eine ideologische Legitimation erreichen, über den Aufbau einer „Kultur der Rechten“, die sich abhebt von der liberaldemokratischen Kultur des westlichen Establishments.

Der erste Fixpunkt dieser Ideologie ist der „Italianismus“, ein neuer, in gewisser Weise moderner Nationalismus, der gleichwohl versucht, sich nicht Widerspruch zu setzen zu der Zugehörigkeit zum transatlantischen Bündnis und zur Europäischen Union. Es beginnt mit der Sprache. Meloni sagt nicht mehr “unser Land“, sondern „unsere Nation. Ihre Partei hat einen Gesetzentwurf eingebracht, der den Gebrauch fremdländischer Wörter in der öffentlichen Verwaltung mit Bußgeld bestrafen will, um der „sprachlichen Überfremdung“ entgegenzutreten[1].  Nur dumm, dass die Regierung gleich zu Beginn das Ministerium für Wirtschaftliche Entwicklung in „Ministerium für Unternehmen und Made in Italy“ umgewandelt hat. Dafür hat das Landwirtschaftsministerium den Zusatz „für Ernährungssouveränität“ erhalten, und das Erziehungsministerium ist jetzt für „Erziehung und Verdienst“ zuständig. Dem Ministerium für Familie wurde der Zusatz gegeben „und für Natalität“, um deutlich zu machen, welchen Wert die Regierung auf die Erhöhung der Geburtenrate legt, um demographisch nicht vom Zufluss der Migranten abhängig zu sein.  Es ist anzunehmen, dass dies erst den Anfang einer linguistischen Revolution darstellt und dass der Prozess der „Italianisierung“ erst begonnen hat.

Aber die Ambitionen gehen weit über sprachliche Reformen hinaus. Im April haben rechtslastige Institute und Stiftungen im politischen Zentrum von Rom einen mehrtätigen „Generalstaat der Kultur“ organisiert, unter dem Motto: „Denken - Vorstellungswelt – italienisch“, u.a. mit Ansprachen des Kulturministers. Da ging es um „Identitätsgemeinschaft“, um „kulturelle Autarkie“, um Aus-und Abgrenzung. Der Vorsitzende des Kulturausschusses der Deputiertenkammer sagte: “Wir müssen den Konformismus der Macht zerbrechen, der über viele Jahre die Kultur in Italien umgemodelt und vernebelt hat.“ Das soll aber auch „im Zusammenhang mit der europäischen Zivilisation und mit den Millionen von Italienern im Ausland“ geschehen.

In der Tat hat die Linke traditionell die Kulturszene dominiert, bis hin zum dem populären jährlichen Liederfestival in San Remo. Dem Thema hat sich auch „Le Monde“ einen Artikel gewidmet[2], in dem es heißt: “In den verschiedenen Familien der radikalen italienischen, aber auch französischen Rechten wird die kulturelle Hegemonie als ein Imperativ angesehen, der nicht von der Erringung der Macht zu trennen ist“.

Die Rechte hat sich auch, bereits 2017, einen eigenen Think-Tank zugelegt, „Nazione Futura“, sowie eine neue Tageszeitung „La Voce del Patriota“ („Die Stimme des Patrioten“) herausgebracht und einer Reihe von sympathisierenden Uni-Professoren in der eigenen Presse Kolumnen zur Verfügung gestellt. Die vor Gewalttaten nicht zurückschreckende neofaschistische Vereinigung „Casa Pound“[3] hat kürzlich in einer Stadt bei Padua mit FdI-Bürgermeister eine eigene Buchmesse veranstaltet. Auf der größten italienischen Buchmesse in Turin im Mai hat die Rechte die Stimme erhoben und ist der Dominanz links-oder liberal gerichteter Philosophie und Literatur entgegengetreten[4]. Großen Zulauf hatte der französische Philosoph Alain de Benoist, der dort die italienische Ausgabe seines neuen Buchs über den Verlust der Identität– herausgegeben von demselben Verlag wie „La Voce del Patriota“[5] – vorgestellt hat.

Die Suche nach einer ideologisch fundierten Identität der Fratelli d‘Italia ist gleichzeitig der Versuch, den Wähler*innen und den „politikverdrossenen“ Nichtwähler*innen eine Orientierung, die Vision einer anderen Gesellschaft zu vermitteln und sie darüber an sich zu ziehen. Bis 1992 waren die Dinge klar: wer einmal die Kommunisten, oder die Christdemokraten, oder die Sozialisten wählte, der wählte sie immer, das hatten schon die Eltern so getan. Dann kam der große Bruch: mit dem Zerfall der Sowjetunion war es auch mit den Kommunisten vorbei. Und die Christdemokraten konnten nicht mehr das Bollwerk gegen den Kommunismus sein. Die Sozialisten unter Bettinio Craxi hatten sich über Korruption, wie auch die anderen traditionellen Parteien, selbst zerfleischt, und wurden unter verschiedenen Namensänderungen zu Sozialdemokraten. In die Bresche sprang 1994 Silvio Berlusconi, der „Neue“, und verbreitete eine „Kultur“ des von keinen Regeln, keiner Moral, keiner Ideologie gehemmten Radikal-Individualismus. Die Show, das Spektakel, der „Menefreghismo“ – übersetzbar vielleicht mit „ist mir alles egal, Hauptsache es nützt mir“ – wurde das von ihm selbst vorgelebte Programm seiner Partei. Mit seinem Tod im Juni ist eine Ära zu Ende gegangen, wie auch Elly Schlein, die Vorsitzende der Partito Democratico gesagt hat, obschon dieses Staatsereignis erstmal die Zustimmung zu seiner Partei „Forza Italia“ in Umfragen um ein Drittel auf fast 12% in die Höhe schießen ließ. Es wird sicherlich ein Berlusconi-Mythos entstehen. Aber da seine Partei und ihre „Ideologie“ von ihm, als Person, gegründet, geprägt und symbolisiert worden war, gehen in der gegenwärtigen „Berlusconi-Debatte“ viele davon aus, dass sich dieses dreißigjährige fatale Abenteuer nun, wo die Leitfigur nicht mehr da ist, ausgelebt habe. Die, in gewisser Weise moderate, Rechte Berlusconis ist nicht mehr en vogue. Die radikale, von Meloni repräsentierte Rechte, ist von anderem Stoff. Diese Rechte will das „Neue“ ganz anders darstellen, will den Menschen – nicht nur den Wähler*innen, sondern gerade auch den 40-60% der Nichtwähler*innen – eine Alternative bieten, in der sie sich wiederfinden, mit der sie sich identifizieren können, als in eine Gemeinschaft eingebundene Individuen. Sie will der „Politikverdrossenheit“ nicht in erster Linie mit tagespolitischen Erfolgen in wirtschaftlichen, sozialen, umweltbezogenen oder migrationsrelevanten Bereichen begegnen, sondern will, emphatisch gesprochen, das Herz der Menschen berühren, ihren vermeintlichen „Identitätsverlust“ ansprechen.

Der philosophische Bezugsrahmen  

In diesem Artikel ist es nicht möglich, die Komplexität des philosophischen Bezugsrahmens der „neuen Rechten“ umfassend zu behandeln.  Herausgreifen kann man jedoch eine „ideologischen Vaterfigur“, die emblematisch erscheint: den französischen Philosophen Alain de Benoist, insbesondere sein kürzlich erschienenes Buch über das Konzept der Identität.

Bemerkenswert ist schon der italienische Titel des Bandes: „Das Verschwinden der Identität“, („La scomparsa dell‘identità“), der den französischen Originaltitel (L’identité sans fantasmes - Nous et les autres)[6]  nicht korrekt widerspiegelt.

De Benoist bekämpft den Universalismus, einschließlich der universellen Geltung der Menschenrechte, sowie die Globalisierung, die „unterschiedslose“ Weltgemeinschaft. „Das identitäre Bewußtsein schließt im Prinzip eine natürliche Präferenz für die ein, die unsere natürliche Zugehörigkeit teilen“[7]. Er räumt ein, dass Zugehörigkeit nicht dasselbe ist wie Identität. Ich kann verschiedenen, in sich auch widersprüchlichen Gemeinschaften angehören, und wähle die aus, die meine Identität ausmachen. Die individuelle Identität ist bestimmt durch die kollektive. „Die konstituierenden Gemeinschaften vermitteln ein Modell des Denkens, eine Weise, in der Welt zu sein“. De Benoist fundiert auf der aristotelischen Maxime, dass der Mensch von Natur ein politisches Wesen ist. „Politisch“ heißt bei de Benoist, dass die individuelle Identität des Menschen nur denkbar ist in Bezug auf sein soziales Umfeld. Dieses Umfeld ist nicht einfach nur angeboren, sondern wirkt determinierend, insoweit die Person es für sich anerkennt, sich bewusst mit ihr identifiziert.  „Die kollektive Identität ist bestimmt durch die Sprache; die Kultur, im weiteren Sinne: als Wertesystem, als Lebensstil, als Formen des Denkens; häufig – aber nicht immer, z.B. in der Geschichte nicht bei den Juden – durch ein geographisches Gebiet, durch das Bewusstsein der Zugehörigkeit, durch den Wunsch des Zusammenlebens in der Gemeinschaft.“

De Benoist polemisiert gegen das seit der Aufklärung in der westlichen Kultur vorherrschende Konzept der persönlichen Freiheit und der Selbstverwirklichung des Individuums; gegen den Liberalismus; auch gegen die Warenkultur des Kapitalismus.  Die Marktgesellschaft vermittelt nur eine Schein-Identität über das „Neue“ in der Art, sich die neuesten Marken des Marktes anzueignen und zur Schau zu stellen. Treu ihrer eigenen Logik, bietet „die Marktgesellschaft einen Tausch an: auf die eigene Identität verzichten im Tausch für mehr Konsum, auf alle symbolischen Werte verzichten, um sich nur auf das Interesse des Marktes zu konzentrieren“ Und dann: „Die Gemeinschaften, die auf Werten basieren, ist solider als diejenige, die auf Interessen fundieren.“ Ja, aber was sind diese Werte?

Die Gemeinschaft, ist für de Benoist nicht notwendigerweise die nationale, die „Volksgemeinschaft“, der Nationalstaat. Es könnte auch eine regionale Gemeinschaft sein, oder eine europäische, obwohl er auf das Thema Europa nicht näher eingeht. „Bin ich eher Bretone, oder Franzose, oder Europäer“?

De Benoist spannt einen weiten Bezugsrahmen seiner Thesen. Zygmunt Bauman, Martin Heidegger, Karl Marx und der kanadische Philosoph Charles Taylor sind die im Buch am häufigsten zitierten Autoren.   

Die Identitätsgemeinschaft

In der politischen Rezeption dieser Philosophie, wie sie sich zum Beispiel in der Einführung zum Wahlprogramm von Fratelli d’Italia vom September 2022 findet, ist die Antwort klar: die Partei, die sich selbst als „Bewegung“ definiert, verspricht die „patriotische Überzeugung“, die Entwicklung der „kulturellen Identität“, die „nationale Kohäsion“. Die kollektive Identität muss verteidigt werden gegen Bedrohungen, die von außerhalb der Identitätsgemeinschaft ausgehen. „Wir verteidigen Italien!“, heißt es da, und die Essenz der Bewegung ist beschrieben mit den Worten: “Das Vaterland („patria“) verteidigen und lieben.“                       

Wiederholt hat Giorgia Meloni in Veranstaltungen schreiend ihre Identität verraten: “Ich bin Giorgia – ich bin eine Frau – ich bin eine Mutter – ich bin eine Italienerin – ich bin Christin, und das werdet ihr mir nicht nehmen“. Ihre individuelle Identität, Name und Geschlecht, vermischt sich mit der kollektiven: Italienerin und Christin. Ihr Muttersein steht dazwischen: damit ist nicht allein ihre persönliche Rolle beschrieben, sondern auch eine normative Aussage: macht mehr Kinder! In der Tat ist die Anhebung der Geburtenrate das erste Kapitel des Parteiprogramms gewidmet. Sie ist gleichzeitig eine patriotische Mutter und will trotz ihrer jungen Jahre eine Mutterfigur der Bewegung sein.

Junge Mutter, junge Partei, junge Bewegung – aber mit alten, nostalgischen Ingredienzien, von denen fälschlich angenommen wurde, sie wären auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet: die Volksgemeinschaft, der Patriotismus, die für das Wohl der Nation gebärende Mutter, die im Notfall gewaltsame Abwehr von störenden Einflüssen, von Überfremdung, von Ent-Italianisierung. „Europa“ taucht nicht als Wert auf, geschweige denn als Identitätsgemeinschaft. Die Union ist gut, solange sie zahlt, aber bitte nicht zu viel Einmischung. Es wird der Tag kommen, an dem, wie in Polen geschehen, der Vorrang von EU-Recht über nationales Recht in Frage gestellt wird.

„Brüder Italiens“, so heißt die Bewegung, die große Familie. Schillers und Beethovens „alle Menschen werden Brüder“ ist ersetzt durch „alle Italiener werden Brüder“. Der Universalismus wird ersetzt durch den nationalen Partikularismus. Der schließt, auf ökonomischem Gebiet, die Tendenz zur Autarkie ein, die natürlich in Widerspruch zu dem globalisierenden Kapitalismus gerät und zur Verarmung führt. Die verschiedenen nationalen Partikularismen werden sich gewiss untereinander Koalitionen bilden, um gemeinsam, z.B. bei den Europawahlen 2024, in geschlossener Front aufzutreten, für das „Europa der Vaterländer“, unter Verzicht auf jedwede Suche nach einer „europäischen Identität“.

 

[1] “Basta parole straniere nella pubblica amministrazione. La proposta di legge di FdI”, Presseagentur agi.it, 31/3/2023

[2] Le Monde, 21. Juni 2023, Allan Kaval, „En Italie, la droite de Giorgia Meloni investit le monde culturel”.

[3] Statt vieler: „La violenza di Casad a Pound a Ostia”, Zeitschrift Internazionale, 16/11/2017, www.internazionale.it/reportage/2017/11/16; “Occupazione Casa Pound a Roma: violenze e razzismos”, in Repubblica, 20/6/2020, https://roma.repubblica.it>cronaca2020/06/20

[4] „La Russa e la Destra per la prima volta al Salone del Libro”, in der Tageszeitung La Stampa, 18/5/2023, https://www.lastampa.it>torino>2023/05/18>news

[5] Giubilei Regnani Editori, Mai 2023. Eine deutsche Übersetzung ist offenbar noch nicht erschienen.

[6] Editions du Rocher, 2023

[7]Hier, wie im Folgenden, eine freie Übersetzung des Autors dieses Artikels