Gewaltenvereinigung - Wie die Meloni-Regierung die Kontrolle über die Justiz anstrebt

Minister*innen, gegen die die Staatsanwaltschaft ermittelt, Abgeordnete, die der Justiz Politisierung vorwerfen, Richter*innen, die in den sozialen Medien von politischen Persönlichkeiten öffentlich diskreditiert werden. Vor diesem Hintergrund bereitet sich Giorgia Meloni darauf vor, eine wichtige Verfassungsreform des Justizwesens durchzusetzen. Doch die Hindernisse, die sich ihr in den Weg stellen, sind nicht gering.

Il Sottosegretario alla Presidenza del Consiglio, Alfredo Mantovano, è intervenuto alla inaugurazione dell’Anno Giudiziario 2025 della Corte d’Appello di Roma.

Mögliche Vorbilder

Autoritäre Regierungen fühlen sich normalerweise von der Justiz eingeschränkt und versuchen, deren Unabhängigkeit zurückzudrängen. Dafür sind zwei Strategien ausmachbar, die auch gleichzeitig verfolgt werden können. Eine Strategie ist, die Justiz zu entmachten und an den Rand staatlichen Lebens zu drängen. Die andere besteht darin, sich einen eigenen, maßgeschneiderten Justizapparat zu schaffen, unter der Kontrolle der Exekutive. Für beide Fälle stellt das Völkerrecht, und, hinsichtlich der EU-Staaten, das Europarecht einen Hemmschuh dar. Das erklärt die Bestrebungen, nationalem Recht den Vorrang zuzusprechen, was aber auf europarechtliche und, z.B.in Italien, auch auf verfassungsrechtliche Grenzen trifft[1].

In jüngerer Zeit kann man die Bestrebungen seitens einiger Regierungen, die Unabhängigkeit der Justiz und ihren Einfluss zu beschränken, an den Beispielen Ungarn, Polen und Israel beobachten, die möglicherweise auch Vorbilder für das gegenwärtige Italien sind. 

Im seit 2010 von Victor Orban regierten Ungarn werden die Verfassungsrichter allein von der Mehrheitsfraktion des Parlaments vorgeschlagen. Die Zahl der Verfassungsrichter wurde von 11 auf 15 aufgestockt, um regierungstreue Neuernennungen zu ermöglichen. Wenn das Verfassungsgericht ein Gesetz für unrechtmäßig erklärt, kann das Gesetz von einer Zweidrittelmehrheit des Parlaments in Verfassungsrang erhoben und damit unanfechtbar gemacht werden. Im Budapester Parlament hat die von Orbans Fidesz-Partei beherrschte Koalition der Regierungsparteien eine Zweidrittelmehrheit. Die richterliche Kontrolle von Maßnahmen der Exekutive ist daher äußerst eingeschränkt. Es gibt auch Fälle, in denen die Regierung eine gerichtliche Anordnung schlicht nicht ausführt, z.B. die Entschädigungszahlung für eine Gruppe von Roma-Familien zur Wiedergutmachung andauernder Diskriminierung[2]. Als Disziplinarkammer wurde ein “Landesamt für Gerichte” eingesetzt, das unliebsame Richter bestraft. Einige Reformen, wie die Erklärung des übergeordneten Ranges von ungarischem gegenüber Unionsrecht oder das Verbot der Richter, sich an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) zur Rechtsklärung zu wenden, wurden 2023 zurückgenommen, um den von der Europäischen Kommission verfügten finanziellen Sanktionen zu entgehen.

 Unter der Kaczynski-Regierung hat Polen erklärt, Teile des Europarechts seien mit der Verfassung nicht im Einklang und daher nicht anwendbar. Im Zuge einer Justizreform wurde für Urteile des Verfassungsgerichts eine Zweidrittelmehrheit der Richter vorgeschrieben und am Obersten Gericht eine Disziplinarinstanz geschaffen. Außerdem wurde die Staatsanwaltschaft über die Personalunion zwischen Justizminister und Generalstaatsanwalt direkt an die Regierung gebunden. Einige dieser Reformen wurden dann von der im Oktober 2023 gewählten Regierung von Donald Tusk, auch auf Druck der EU, zurückgenommen.

Die im Januar 2023 von der israelischen Regierung vorgestellte Justizreform sah unter anderem die Möglichkeit vor, dass das Parlament mit einfacher Mehrheit Gerichtsentscheidungen annullieren könnte. Außerdem sollte dem Obersten Gerichtshof[3]die Befugnis entzogen werden, Kabinettsentscheidungen, z. B. die Ernennung eines Ministers, als “nicht angemessen” zu verwerfen. Überdies wollte das Justizministerium unter Yarif Levin die Mehrheit in dem Komitee für Richterernennung haben und die Befugnisse der Anwaltskammer einschränken. Das Reformpaket hat Massenproteste in nie vorher in Israel gesehenem Ausmaß hervorgerufen und ist nach den Ereignissen vom 7. Oktober 2023 zunächst einmal eingefroren. 

Staatsanwälte – kümmert euch um Mafia, nicht um Minister 

Die Staatsanwaltschaft in Palermo hat es im September 2024 “gewagt”, für den Stellvertretenden Ministerpräsidenten und Verkehrsminister Matteo Salvini eine Verurteilung zu 6 Jahren Gefängnis zu beantragen. Ihm wurde vorgeworfen, während seiner Zeit als Innenminister durch die Verweigerung der Ausschiffungserlaubnis für 147 Flüchtlinge und Migranten, darunter 29 Minderjährige, Freiheitsberaubung und Amtsmissbrauch begangen zu haben. Die Flüchtlinge waren im August 2019 von dem Schiff der spanischen Seenotrettungsorganisation Open Arms vor dem Ertrinken gerettet und an Bord genommen worden. Sie mussten aber wegen der Anweisung Salvinis 15 Tage auf die Ausschiffung in Lampedusa warten, die schließlich von der Staatsanwaltschaft Agrigent angeordnet wurde. 

Die Regierungschefin Giorgia Meloni hat daraufhin gesagt, die Pflicht des Schutzes italienischer Grenzen vor illegaler Immigration in eine Anklage zu verwandeln sei “surreal” und ein äußerst schwerwiegender Präzedenzfall[4]. Der Präsident des Senats, der Zweiten Parlamentskammer, Ignazio La Russa hat den Staatsanwälten vorgeworfen, sie würden die Gesetze nicht nur, wie es ihre Pflicht ist, auslegen, sondern “korrigieren”[5]. Nachdem auch weitere rechtsgerichtete Spitzenpolitiker die Staatsanwälte scharf angegriffen hatten, erklärte der Nationale Richtervereinigung Associazione Nazionale Magistrati ANM, der fast alle italienischen Richter und Staatsanwälte[6] angehören, die Anfeindungen seitens der Regierung sei eine schwerwiegende Verletzung des Prinzips der Gewaltenteilung. Der fortwährende Druck bedeute eine Delegitimierung der Justiz und damit eine Schwächung einer der Säulen des Rechtsstaats[7]. Angesichts von in den Social Media erschienenen massenhaften Morddrohungen und sexistischen Anfeindungen gegen die drei für die Anklage verantwortlichen Staatsanwälte, darunter zwei Frauen, die gleichzeitig Mitglieder der Anti-Mafia-Kommission sind, musste für sie und einige ihrer Anverwandten Personenschutz verfügt werden. Salvini wurde schließlich am 20. Dezember 2024 freigesprochen, “weil die Tat nicht existiert”. Ob hinter diesem Spruch eine massive Einschüchterung der Richter steht, wird sich nie aufklären lassen und soll hier auch nicht behauptet werden. 

In der Äußerung La Russas, nach dem Staatspräsidenten der zweithöchste Repräsentant des Staates, dass die Justiz die Gesetze nicht “korrigieren” dürften, kommt eine weitergehende, in vielen anderen Stellungnahmen ausgedrückte, sehr problematische Position zum Vorschein. Natürlich gehört zu der richterlichen Tätigkeit auch eine korrigierende Anwendung von Gesetzen, im Hinblick auf ihre Übereinstimmung mit übergeordneten, verfassungs-, völker- und europarechtlichen Normen. Genau darum ging es auch in dem Salvini-Prozess, nämlich um die Reichweite internationalen Rechts des Meeres und des Seenotrettungsrechts sowie menschenrechtlicher Prinzipien. Den Vorrang von Völkerrecht in Frage stellen zu wollen beleuchtet die Tendenz zur Rückkehr in allein nationalrechtliches Denken, was auch in der Debatte um die Bestimmung der “sicheren Herkunftsländer” von Asylbewerbern zum Ausdruck gekommen ist. 

Bitte nur regierungstreue Urteile! 

Es ist sicher normal und legitim, Gerichtsurteile, mit denen man nicht einverstanden ist, zu „schelten“. Hier aber soll von handfester Anfeindung, sogar persönlicher Bedrohung von Richter/innen seitens Regierungsmitgliedern und anderer namhafter Politikern die Rede sein.

Im September 2023 hat eine Richterin in Catania, Iolanda Apostolico, die Freilassung von 3 tunesischen Asylbewerbern aus einem Abschiebelager angeordnet, da die Rechtsgrundlage der Inhaftierung nicht mit dem Europarecht vereinbar sei. Sie wurde daraufhin von Meloni, von einer Exponentin ihrer Partei Fratelli Italia, Sara Kelany, von Salvini und anderen Politikern angegriffen und verleumdet. Die Gerichtsentscheidung sei rein politisch und ideologisch. Salvini verbreitete im Netz ein Video, in dem Apostolico bei einer, Jahre zurückliegenden, Demonstration gegen die Behinderung nichtstaatliche Seennotrettung zu sehen war. Salvini erklärte, man werde die Richterin zur Rechenschaft ziehen. Ein Disziplinarverfahren wurde eingeleitet. Der “Fall Apostolico” erregte große Medienaufmerksamkeit. Im Dezember 2024 trat sie aus dem Justizdienst aus. Salvini kommentierte:” besser spät als nie”[8].

Ende 2023 und 2024 haben die Gerichte in Florenz, Bologna und Rom und noch einmal Catania ebenfalls die Inhaftierung von aus sicheren Herkunftsländern stammenden und damit dem “Verfahren an der Grenze” unterworfenen Asylbewerbern aufgehoben und erneut den Protest der Regierung hervorgerufen. Eine Richterin in Florenz hat die vom Außenministerium 2019 aufgestellte Liste sicherer Herkunftsländer in Bezug auf Tunesien nicht anwenden wollen, weil dort heute nicht mehr von einem demokratischen System und von Sicherheit für Ausländer gesprochen werden könne. Der Richterin wurde vorgeworfen, sie würde ihrerseits gegen das Prinzip der Gewaltenteilung verstoßen, da sie sich Befugnisse der Exekutive als allein zuständige Instanz für die Qualifizierung eines Landes als “sicher” anmaße. 

Mit der im Oktober 2024 eingeleiteten Durchsetzung des Abkommens Italiens mit Albanien über die Ausverlagerung von Asylverfahren und die Errichtung von geschlossenen Zentren[9] hat sich sich der Konflikt zwischen Regierung und Justiz verschärft. Gerichte in Rom und Bologna haben die Regierung verpflichtet, schon nach Albanien verbrachte Asylbewerber nach Italien zurückzubringen, da das Grenzverfahren, also die Voraussetzung für die Ausschiffung im albanischen Hafen Gjadër nicht anwendbar sei. Unter Bezug des Urteils des EuGH vom 4. Oktober 2024[10] dürften, so die Richter/innen, die hier betroffenen Herkunftsländer Ägypten und Bangladesch, nicht als sicher eingestuft werden, da das Außenministerium selbst festgestellt hatte, dass dort hinsichtlich bestimmter Bevölkerungsgruppen der Schutz von Grundrechten nicht garantiert sei. Die Regierung hat daraufhin die Liste der sicheren Herkunftsländer in Gesetzesrang erhoben, in der Hoffnung, sie dadurch unanfechtbar zu machen. Dennoch haben die Gerichte die Liste als nicht mit EU-Recht vereinbar erklärt, woraufhin die Regierung die Richter anklagten, in die Befugnisse des Gesetzgebers einzugreifen. Die Richter haben sowohl den italienischen Kassationsgerichtshof als auch der EuGH um eine Klärung der Frage ersucht. Das Kassationsgericht hat seinerseits das Verfahren bis zum Urteil des im Frühjahr 2025 erwarteten Urteils des EuGH ausgesetzt und hat damit, erneut, den Vorrang der EU-Rechtsprechung bestätigt. In der Zwischenzeit stehen die beiden mit italienischem Geld errichteten und verwalteten Zentren in Albanien leer[11]

Der erneute Angriff auf die Richter hat nicht auf sich warten lassen[12]. Die Reaktionen reichten von den vorsichtigeren Worten Melonis, die Richter seien “voreingenommen”, “politisiert”, “spielen die Rolle der Opposition”, bis zu harscheren Ausdrücken Salvinis wie “kommunistische Richter”, die “die Migrationspolitik der Regierung untergraben wollen” und “unsere Gesetze verletzen”. Die römische Richterin und anerkannte Asylrechtsexpertin Silvia Albano musste Personenschutz in Anspruch nehmen, nachdem sie im Netz bedroht und angepöbelt worden war. 

Eine erste Maßnahme, genannt “Abänderung Musk”[13], ist bereits im Dezember 2024 ergriffen worden: ab sofort sollen auf die in Asyl- und Ausländerrecht spezialisierten und dafür besonders ausgebildeten Abteilungen der Zivilgerichte erster Instanz nicht mehr wie bisher über den Freiheitsentzug im Zusammenhang von Asylverfahren an den Grenzen entscheiden. Den Richter/innen, die die unliebsamen Entscheidungen getroffen haben, ist die Zuständigkeit für diese Fragen genommen worden. Hingegen sind die ohnehin schon überarbeiteten und für diese neue Aufgabe nicht vorbereiteten Berufungskammern, als erste Instanzdamit beauftragt worden. Der Oberste Richterrat CSM (Consiglio Superiore della Magistratura) hat die Reform in einer offiziellen, aber nicht bindenden Stellungnahme rundum verworfen[14].

Nicht zufällig hat sich der Zwietracht zwischen Regierung und Justiz sowie die Einschüchterung von Richtern und Staatsanwälten in erster Linie über Fragen der Asyl- und Migrationspolitik entzündet. Dies ist für das Programm der Meloni-Regierung und in den Wahlkämpfen ein zentraler Politikbereich, an dem der Erfolg oder Misserfolg der Rechts-Koalition gemessen werden wird. Nachdem sich Programmentwürfe wie die der “geschlossenen Häfen” oder der “Massenabschiebung” für undurchführbar erwiesen haben, setzt die Regierung vor allem auf “neue Modelle” wie das Albanien-Abkommen sowie die Zusammenarbeit mit Drittstaaten wie Tunesien, Libyen oder Ägypten. Die im Jahr 2024 stark gesunkene Zahl von Bootsankünften an italienischen Küsten werden der letztgenannten Politik zugeschrieben. Wie weit das stimmt, wird die Zukunft erweisen. Aber die von Italien bis jetzt im Alleingang beschrittene, von einigen anderen EU-Staaten gefeierte Auslagerung von Asylverfahren in einen Drittstaat ist, zumindest vorerst, von der Rechtsprechung verhindert worden. Und daran sind die “politisierten Richter” Schuld. 

Anbindung der Staatsanwaltschaft durch Verfassungsänderung

Die von der Regierung und allen Parteien der Koalition vorangetriebene Trennung der Karrieren von Richtern und Staatsanwälten war schon für Silvio Berlusconi der Eckpunkt einerumfassenden Justizreform, die nicht zuletzt eine Bremse für die vielen gegen ihn persönlich erhobenen Anklagen und Strafverfahren darstellen sollte. Laut Verfassung sind nicht nur Richter, sondern auch Staatsanwälte in Italien unabhängig und keinerlei Anweisungen unterbunden[15]. Einstellungen, Zuweisungen, Versetzungen, Beförderungen und Disziplinarmaßnahmen[16] können ausschließlich vom CSM der für beide Berufsgruppen zuständig ist, vorgenommen werden. Der Wechsel vom Richter-zum Staatsanwaltsamt und umgekehrt ist möglich, aber in der Praxis machen weniger als 1% aller Richter/Staatsanwälte vor davon Gebrauch. Was also steht hinter dem im Regierungsprogramm festgeschrienen, im Januar 2025 schon von der Abgeordnetenkammer beschlossenen Reformvorschlag, der auch die Einrichtung eines weiteren Höchsten Rats, nämlich für Staatsanwälte, sowie einen neu geschaffenen Hohen Disziplinargerichtshof vorsieht?

Für die Regierungsparteien, die geschlossen der Reform zustimmen, wird die Unabhängigkeit der Justiz nicht nur nicht angegriffen, sondern verstärkt, indem eine subjektive Vermischung der anklagenden und der urteilenden Rollen in derselben Person vermieden und eine klare Trennung beider Funktionen unterstrichen wird. Der Außenminister Antonio Tajani sieht in dem Gesetzentwurf einen Schritt zur “Entpolitisierung der Magistraten”. Der CSM, die meisten – nicht alle – Anwältevereinigungen und, überwiegend, die Opposition sind entgegengesetzter Überzeugung. ANM befürchtet eine “Verschiebung des Verhältnisses zwischen den Staatsgewalten zugunsten der Exekutive” und sagt, “in 50 Jahren sei die Verfassung nie so einschneidend verändert worden”[17]. Für den CSM ist die Reform schlicht unnötig und bedrohe die von der Verfassung garantierte Selbstverwaltung des Magistrats. Angelo Bonelli, Sprecher der Allianz Grüne-Linke AVS, sieht ein “autoritäres Abdriften”, das vom Modell Ungarn inspiriert sei[18]. Die kleinen Oppositionsparteien der “Mitte” hingegen haben der Reform entweder zugestimmt oder sich enthalten. Die ANM hat für den 27. Februar zu einem Streik der Richter und Staatsanwälte aufgerufen, was für Maurizio Gasparri, Fraktionsvorsitzender der noch heute Berlusconis Ideen folgenden Forza Italia, subversiv und ausreichend ist, um die Wortführer der Aktion aus dem Dienst zu entlassen.

In jedem Fall benötigt die Verfassungsänderung eine Zweidrittelmehrheit beider Kammern des Parlaments, die angesichts der Opposition, zuvorderst der Demokratischen Partei PD, nicht vorhanden sein wird. Also wird es zu einer Volksabstimmung kommen, deren Ausgang, auch wegen des notwendigen Quorums von 50% aller Wahlberechtigten, zweifelhaft ist. Meloni wird gut daran getan haben, ihr politisches Überleben nicht an den Ausgang der Volksbefragung zu binden. 

Der Fall Almasri 

Ende Januar 2025 hat sich der Konflikt zwischen Regierung und Justiz erneut über den Fall Almasri verschärft. Der Generalstaatsanwalt von Rom, Francesco Lo Voi, hat ein Verfahren gegen Meloni und mehrere Mitglieder ihrer Regierung wegen Begünstigung und Unterschlagung eingeleitet. Der libysche Polizeigeneral Osama Almasri ist vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag angeklagt, in Libyen und insbesondere in den Auffangzentren von Flüchtlingen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen begangen zu haben und wurde daher weltweit zur Verhaftung ausgeschrieben. Er wurde am 19. Januar in Turin in Auslieferungshaft genommen, nachdem er sich vorher unbehelligt in Frankreich und Deutschland aufgehalten hatte, wurde dann aber nach 2 Tagen freigelassen, da der in diesen Verfahren allein zuständige Justizminister Carlo Nordio auf eine Anfrage der Richter zur Haftverlängerung nicht geantwortet hatte. Almasri wurde sofort in einem Staatsflugzeug der italienischen Geheimdienste nach Tripoli ausgeflogen, wo er bei Ankunft wie ein Held gefeiert wurde. Die Regierung versuchte, die Verantwortung für die Freilassung auf die Turiner Richter abzuschieben und begründete den Rückflug nach Libyen mit Gründen nationaler Sicherheit. In der Einleitung eines Verfahrens gegen sie und einige ihrer Minister sieht Meloni eine Verleumdung Italiens und den Wunsch der Justiz, das Regierungsgeschäft zu übernehmen. Der Generalstaatsanwalt wurde persönlich angefeindet, eine Versetzung und die Einleitung eines Disziplinar- oder sogar Strafverfahrens angedroht. Die Opposition hat zu der ganzen Affäre eine Parlamentsdebatte gefordert, der sich Meloni bis jetzt entzogen hat. Zu befürchten ist, dass der erneute Zwist die eigentliche Frage überschattet, nämlich die Missachtung einer Anordnung des Haager Gerichtshofs und damit die Unterminierung der Autorität dieser, wie anderer, internationaler Gerichte.   

Es bleibt festzustellen, dass die Bewahrung der Unabhängigkeit der Justiz zu einem Zentralthema in Italien geworden ist, an dem sich entscheidet, wie weit der Rechtspopulismus die politische Landschaft und den Rechtsstaat grundlegend verändern wird.   


 

[1] Art. 117 der Verfassung: “Die gesetzgeberische Gewalt wird vom Staat und den Regionen ausgeübt, im Einklang mit der Verfassung sowie den Beschränkungen, die sich aus dem Gemeinschaftsrecht und aus internationalen Verpflichtungen ergeben“.

[2]   Der Spiegel, 12.Mai 2020, https://www.google.com/search?q=Spigel+Ungarn+Entsch%C3%A4digung+f%C3%B…

[3] Der Oberste Gerichtshof ist gleichzeitig eine Art Verfassungsgericht, auch wenn es förmlich keine Verfassung Israels gibt. Der Gerichtshof, auch wegen Abwesenheit einer zweiten Parlamentskammer und sehr eingeschränkter Befugnisse des Staatspräsidenten, ist traditionellerweise das wesentliche Kontrollorgan für Maßnahmen der Regierung.  

[4]Tageszeitung Il Fatto Quotidiano, 14. September 2024, https://tg24.sky.it/cronaca/2024/09/14/open-arms-processo-salvini-paler…;

[5] Tageszeitung La Stampa,15. September 2024, https://www.lastampa.it/politica/2024/09/15/news/open_arms_pm_salvini_m…

[6] In Italien umfasst der Begriff „Magistrati“ sowohl Richter wie Staatsanwälte. 

[7] La Stampa, 15.September 2024 https://www.lastampa.it/politica/2024/09/15/news/salvini_open_arms_asso…

[8]  Tageszeitung Domani, 5. Dezember 2024, https://www.editorialedomani.it/fatti/giudice-apostolico-dimissioni-mot…

[9] S. dazu C. Hein, Asyl - Umweg über Albanien, …. 

[10] EuGH (GK) C-406/22 v. 4.Oktober 2024

[11] Ende Januar macht die Regierung offenbar einen erneuten Versuch, eine größere Zahl von in der Nähe von Lampedusa geretteten Asylbewerbern in Albanien auszuschiffen – der Konflikt zwischen Regierung und Justiz wird in eine neue Runde eintreten.   

[12] S. den Überblick der Reaktionen in der Tageszeitung Avvenire, 18. Oktober 2024, https://www.avvenire.it/attualita/pagine/l-ira-di-meloni-istituzioni-co…

[13] Elon Musk hatte sich lautstark an der Polemik gegen italienische Richter in Migrationsfragen beteiligt

[14] Parere CSM 4. Dezember 2024, in https://www.questionegiustizia.it/data/doc/4014/parere-dl_compressed.pdf

[15] Art. 101 u. 108. Der Begriff „Magistratura“ umfasst sowohl Richter wie Staatsanwälte.

[16] Der Justizminister kann Disziplinarmaßnahmen einleiten, aber nicht darüber entscheiden (Verfassung, Art. 107)

[17] https://www.associazionemagistrati.it/doc/4529/separazione-carriere-anm…

[18] https://europaverde.it/2025/01/16/giustizia-6/