Europa im Wahlkampf – Trumpf oder Handicap?

Pro-Europäer könnten sich eigentlich über dieses Comeback der EU freuen, galten doch europäische Themen in vorangegangen Wahlkämpfen als Lustkiller und wurden eher stiefmütterlich behandelt. Bei der elften Wahl in der Fünften Republik ist vieles anders als bisher, und niemand kommt am Thema Europa vorbei. Durch die Ereignisse der letzten zwei Jahre, darunter besonders Flüchtlingskrise und Brexit, wird die Haltung der Kandidaten zu Europa plötzlich ein Bekenntnis des Glaubens oder der Abkehr. Und das Comeback der EU im Wahljahr 2017 geschieht nicht immer zu ihrem Besten. 

Schaut man an die extremen Ränder des Kandidatenspektrums, proklamiert auf der rechten Seite Marine Le Pen den Frexit. Seitdem sie 2011 den Parteivorsitz des Front National von ihrem Vater übernahm, versucht sie neue thematische Akzente zu setzen und hat sich dabei besonders auf Brüssel als Staatsfeind Nr. 1 eingeschossen. Brüssel schade Frankreich nicht nur ökonomisch, es habe mit seiner Politik der offenen Grenzen auch den unkontrollierten Zuzug von illegalen Einwanderern zugelassen. Sie sieht sich gemeinsam mit anderen Rechtspopulisten als Speerspitze der europaweiten rechten Bewegung, die sich als Fraktion “Europa der Nationen und der Freiheit” bereits im EU-Parlament zusammengeschlossen hat. Die “Anführer” wie Le Pen, Geert Wilders, Frauke Petry oder Harald Vilimsky suchten schon den Schulterschluss bei einem gemeinsamen Gipfel der Patrioten Ende Januar in Koblenz. 
Sie versuchen, mit neuem Nationalismus zu punkten und das europäische Projekt in seiner jetzigen Form zu beenden. Allerdings übt sich Marine Le Pen mit ihrer Anti-Europa-Kampagne derzeit in Zurückhaltung, denn seit dem Brexit-Votum der Briten und der Trump-Wahl hat die Zustimmung zur EU-Mitgliedschaft in Frankreich wieder zugenommen. Ihr Vorschlag lautet mittlerweile, dass auch Französinnen und Franzosen in einem Referendum über die EU-Mitgliedschaft abstimmen können. Offen ist allerdings, wie sie im Falle eines Wahlsiegs eine Entscheidung für die EU, von der sie sich ja abwenden will, akzeptieren und umsetzen würde.  

Vom Ausstieg bis zu ambitionierten Visionen 

Linksaußen in der französischen Kandidatenriege steht Jean-Luc Mélénchon, der mit seiner Bewegung La France insoumise zum großen Befreiungsschlag eben dieses widerspenstigen Frankreichs antreten will. Befreiung nicht nur von den Heuschrecken des Kapitalismus, sondern auch Freiheit von der ebenso heuschreckenartigen EU, die er mit Artikel Fünfzig des Lissabonner Vertrags erreichen will: ganz nach britischem Vorbild also! Seine Semantik unterscheidet sich naturgemäß von Le Pen, die ihre Haltung zu Europa mit dem Patriotentum rechtfertigt, während Mélénchon an der EU insbesondere die vermeintlich zu liberale Wirtschaftspolitik und die fehlende soziale Gerechtigkeit kritisiert, die in Frankreich Arbeitslosigkeit, Verschuldung und Armut nach sich gezogen hätten. Brüssel erscheint bei ihm als scharfes Schwert der Globalisierung, das zu Lasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, ihrer Jobs und sozialen Sicherheit eine Schneise der Verwüstung hinterlässt. Dabei ist ihm insbesondere Deutschland ein Dorn im Auge, diese “Oligarchie”, die Europa unter ihr Austeritäts-Joch zwingen würde. 

Der schwer angeschlagene Kandidat der Konservativen François Fillon kommt mit seinen Skandalen eher in die Schlagzeilen als mit seinen politischen Positionen. Er steht dem linken Jean-Luc Mélenchon in Bezug auf das Verhältnis zu Russland erschreckend nahe: Mélenchon lehnt die Sanktionen gegenüber Russland – als gemeinsame Antwort auf die Krim-Annexion-  ab, und fordert eine Friedenskonferenz, um über die „Grenzen innerhalb Europas zu sprechen“. Auch François Fillon hat als Abgeordneter gegen die Sanktionen gestimmt und betont in Bezug auf die Krim das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ – das gilt allerdings in seinem Verständnis wiederum nicht für Regionen wie etwa Korsika. Fillon will ein starkes, ein souveränes Frankreich, das vor einem stärker geeinten Europa Vorrang hat. Die Bedeutung des deutsch-französischen Verhältnisses unterstreicht er trotzdem und traf hierzu Ende Januar Kanzlerin Merkel in Berlin. Nicht ohne ihre Flüchtlingspolitik zu kritisieren und Frankreichs Führungsrolle in Europa zu unterstreichen. 

Schaut man auf den Kandidaten der Sozialisten, Benoît Hamon, so zählt er klar zu den Befürwortern Europas. Allerdings müsse sich die EU in ihrer jetzigen Form weiterentwickeln. Für seine europapolitischen Vorstellungen holte er sich Hilfe vom bekannten Ökonomen Thomas Piketty, Autor des Bestsellers „Das Kapital im 21. Jahrhundert“. Zu Hamons Standpunkten gehört eine klare Abkehr von der Sparpolitik in Europa, was die für Frankreich besonders wichtigen Defizitregeln betreffen würde. Dem Defizit an Demokratie in der Eurozone wiederum will er mit einem eigens dafür einzurichtenden Parlament entgegenwirken, in dem Europaabgeordnete mit nationalen Abgeordneten zusammenkommen. Ähnlich wie auf der Agenda für sein Land, räumt er auch auf EU-Ebene dem Thema Energiepolitik viel Platz ein. Massive Investitionen in diesen Bereich sollen Jobs schaffen und die Konjunktur ankurbeln. Er folgt damit der Linie des sogenannten Green New Deal, der seit langem von den Europäischen Grünen gefordert wird.  

Bleibt noch der gegenwärtige Favorit, der gerne auch „Streber“ oder „Shooting-Star” karikierte, parteilose Kandidat Emmanuel Macron, dem aber nach Marine Le Pen derzeit die besten Chancen für den Einzug in die zweite Runde der Wahlen vorausgesagt werden. Er tritt als klarer Pro-Europäer auf und gibt das glühendste Bekenntnis zum gemeinsamen europäischen Projekt ab. Nicht zuletzt strickt er schon im Vorfeld  gute Beziehungen zum Nachbarn östlich des Rheins. Bereits vor einem Jahr plädierte er für die „Wiedergründung Europas“. Dazu müssten die Franzosen ihre Souveränitätsrechte aufgeben, die Deutschen ihre Haltung zum Schuldenschnitt für Staaten wie Griechenland. Glaubt man seinen Ankündigungen, will er als Präsident dem deutsch-französischen Motor mehr Dynamik verleihen. Vor zwei Wochen gab er mehreren europäischen Zeitungen ein Interview, in dem er dafür plädierte, Bürger mehr in Entscheidungen einzubinden, wirtschaftliche Reformen gemeinsam zu koordinieren, die Steuer- und Sozialsysteme zu harmonisieren und Grenzen besser abzusichern. Digitalisierung, Energiewende und Umweltschutz nennt er, wenn auch ein detaillierter Maßnahmenkatalog bislang fehlt, als Steckenpferde der europäischen Zusammenarbeit, selbst für eine kleinere Gruppe von willigen Staaten. „Man kann kein schüchterner Europäer sein“, sagte er, in Zeiten, in denen Rechtspopulisten auf dem Vormarsch seien. Mit einem Präsidenten Macron sollte die EU folglich aufatmen, selbst wenn nicht sicher ist, dass der Newcomer wirklich alle ambitionierten Pläne durchsetzen und eine wirkliche Welle des Enthusiasmus in Gesamteuropa auslösen kann. 

Wenn wir also auf den französischen Wahlkampf schauen, vergessen wir nicht, dass “die französischen Präsidentschaftswahlen für die Zukunft Europas richtungsweisend sind!In diesem Wahljahr gilt das womöglich noch mehr als je zuvor. Diese Wahl wird über Frankreichs Grenzen hinauswirken. Vielleicht denken die Franzosen im entscheidenden Moment, wenn sie den Zettel in die Urne werfen, also einen kurzen Moment an ihre Nachbarn… es wäre Europa zu seinem 60. Geburtstag, der gerade erst gefeiert wurde, wirklich zu wünschen.