In Rumänien lebt eine Corona-Generation, die ohne Abschluss keinen richtigen Neuanfang erlebte

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Keine Sozialkontakte, keine Unterstützung von Betreuenden oder Lehrkräften und manchmal sogar Missbrauchserfahrungen ... Im ersten Jahr an der Universität hatten Vladimir und Cătălina, wie so viele andere Studierende in Rumänien, eine schwere Zeit und das starke Gefühl, einen eventuell unwiederbringlichen Verlust erlitten zu haben.

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Photo de Vladi et Catalina

Von Nicoleta Coșoreanu, Voxeurop

Im Januar 2021, fast vier Monate nach Beginn seines Studiums der Kommunikationswissenschaften und Öffentlichkeitsarbeit an der Universität „Babeș Bolyai“ in Cluj-Napoca, lernte Vladimir Ciobanu endlich seine Kommiliton*innen kennen. Auslöser war ein Besuch seiner Freundin Cătălina Perju – sie hatte seine Haare blond gefärbt und damit sein Aussehen drastisch verändert. Er postete ein paar Bilder auf InstaStories. Die Menschen antworteten und Vladi blieb mit einigen von ihnen in Kontakt. Dadurch fand er heraus, dass eine der jungen Frauen im selben Häuserblock lebte.

Vladi und Cătălina kannten einander aus der Schule – sie waren in Bukarest zusammen aufs Gymnasium gegangen und dort gute Freunde geworden. 2020 beschlossen sie dann, in Cluj-Napoca zu studieren. Cătălina studiert an der „Babeș“ Journalismus. Aber nur zwei Wochen vor Semesterbeginn erfuhren sie, dass das erste Semester wegen der Pandemie online stattfinden würde (und das zweite Semester schließlich auch). Vladi hatte seine Wohnung in Cluj-Napoca bereits gemietet, daher beschloss er, zu bleiben. Cătălina hingegen, die eigentlich in einem Studierendenwohnheim unterkommen wollte, ging wieder nach Bukarest zurück. „Eigentlich wollten wir von Anfang an zusammen in Cluj bleiben und es war seltsam, [getrennt zu sein]“, meint sie.

In Rumänien konnte jede Universität frei entscheiden, ob sie Präsenz- oder Onlinevorlesungen halten wollte. Die meisten entschieden sich für online. Zumindest herrschte im Gegensatz zu den Schulen eine gewisse Konsistenz – Schulen wechselten je nach Infektionslage zwischen Online- und Präsenzunterricht hin und her. Trotzdem kamen dadurch grundsätzliche Probleme im System ans Licht. 

Ein Hauptproblem war die Verfügbarkeit von Zimmern in Studierendenwohnheimen. Jedes Jahr entscheiden sich rund 100.000 Studierende für ein Wohnheim, weil es billiger ist als eine Wohnung und mehr Sozialkontakte bietet. Durch die Corona-Pandemie verringerte sich das Angebot wegen der Abstandsregeln und Kontaktbeschränkungen drastisch. An der „Babeș Bolyai“ waren beispielsweise nur 1.800 von 6.700 Zimmern verfügbar, die meisten davon für Master- und ausländische Studierende oder Doktorand*innen. Studierende, die vor der Entscheidung für die Online-Lehre schon Wohnungen gemietet hatten, verloren zwei Monatsmieten, die sie im Voraus bezahlt hatten. Viele beschlossen, wieder zu ihren Eltern zu ziehen.  

Cătălina bekam erst im Februar 2021 ein Zimmer auf dem Campus. Zunächst hatte sie gar keine Lust, sich einzurichten, Poster aufzuhängen oder Möbel zu verrücken. Das Zimmer erschien eher wie eine Durchgangsstation, ein Ort an dem sie schlafen und dann wieder zu ihren Eltern nach Bukarest fahren konnte – 6 Stunden im Auto, oder noch schlimmer, 12 Stunden Zugfahrt entfernt. „Ich war weder ganz hier noch ganz dort“, sagt Cătălina. Zudem fühlte sie sich einsam und das Zimmer kam ihr nicht wie ihr eigenes vor. Von älteren Studierenden hörte sie Geschichten über das „echte Studentenleben“. 

„Alle erzählen dir, es sei die beste Zeit deines Lebens, in der du die meisten Abenteuer erlebst. Wenn du das dann nicht kriegst, ist es eine Enttäuschung. Zumal du gar nichts dafür kannst“, fügt Cătălina hinzu. Für Vladi war die Einsamkeit und das Starren auf einen Bildschirm das größte Problem. „Es fühlte sich an, als hätte ich ein paar Online-Schulungen gebucht und ließe sie im Hintergrund abspielen. Oder als hörte ich mir einen Podcast an. So war mein erstes Jahr an der Uni.“

„Es fühlte sich an, als hätte ich ein paar Online-Schulungen gebucht und ließe sie im Hintergrund abspielen. Oder als hörte ich mir einen Podcast an. So war mein erstes Jahr an der Uni.“

Vladi

Zudem passten einige Lehrende ihre Methoden nicht wirklich an die Online-Vorlesungen an. Vladi hört ältere Studierende immer wieder von dieser tollen Professorin erzählen, die Süßigkeiten zur Vorlesung mitbrachte und deren interaktive Vorlesungen Spaß gemacht hätten. Er hingegen hörte nur ihre Stimme, die in Zoom-Vorlesungen Folien abliest. Er sagt, das Seminar sei nach 20 Minuten vorbei. Cătălina hatte gehofft, richtige Reportagen zu machen, musste sich aber damit begnügen, YouTube-Videos oder Fernsehsendungen anzuschauen und auf dieser Grundlage Nachrichten zu schreiben. 

Eine Studie ergab, dass 59 % der Studierenden Online-Vorlesungen „schlechter“ oder „viel schlechter“ fanden als Präsenzveranstaltungen. Grund war die mangelnde Interaktion mit anderen und die Tatsache, dass Studierende keinen Zugang zu Bibliotheken hatten und öfter ganz alleine arbeiten mussten. 49 % hatten Probleme, Mitarbeitende der Universitäten für Verwaltungsangelegenheiten zu erreichen und 46 % gaben an, die Kommunikation mit den Lehrenden sei schwieriger.

Aber die Online-Vorlesungen brachten auch Missbrauchsfälle durch Lehrende ans Licht und entfachten eine öffentliche Debatte über deren Rechenschaftspflicht innerhalb des rumänischen Bildungssystems. Eine Professorin der Universität Bukarest wurde entlassen, als Videos auftauchten, in denen sie ihre Studierenden beleidigte, erniedrigte und belästigte. An der Universität für Medizin und Pharmazie in Bukarest wurde eine Professorin dabei erwischt, wie sie ihre Studierenden bei Online-Kursen anschrie und erniedrigte, was zur Einleitung einer Untersuchung führte. Ehemalige Studierende der beiden begannen, sich zu Jahre zurückliegenden Missbrauchsfällen zu äußern.

Dies waren nur weitere Belege dafür, dass Kinder und Jugendliche an Schulen und Universitäten in Rumänien wenig Mitspracherecht haben. Eine weitere Studie des Ministeriums für Sport und Jugend, die von 2018 bis 2020 durchgeführt wurde, zeigte das sinkende Vertrauen von Kindern und Jugendlichen in staatliche Institutionen und in andere Menschen. „Die Hälfte der Studierenden ist der Meinung, es sei besser, niemandem zu trauen. Sie glauben, dass den Leuten ihre Mitmenschen weitgehend egal seien“, lautet eine Erkenntnis aus der Studie. Durch diesen Teufelskreis nimmt die Bereitschaft der Menschen ab, sich zivilgesellschaftlich zu engagieren oder sich um Veränderungen zu bemühen.

Auch Cătălina kennt den Frust über die mangelnde Kontrolle und darüber, dass sie seit dem vergangenen Jahr niemand nach ihrer Meinung zu sie betreffenden Themen gefragt hat. Damals schloss sie das Gymnasium ab, hatte aber keinerlei Einfluss darauf, wie die Behörden die landesweit einheitlichen Prüfungen abnahmen. Sie und Vladi sind die Generation ohne richtigen Schulabschluss und mussten dann mit diesem „merkwürdigen Jahr“ klarkommen, wie Vladimir es nennt. „Wir hatten keinen Abschluss vor dem Neuanfang“, sagt er. 

„Alle erzählen dir, es sei die beste Zeit deines Lebens, in der du die meisten Abenteuer erlebst. Wenn du das dann nicht kriegst, ist es eine Enttäuschung. Zumal du gar nichts dafür kannst“

Diese Generation hat einen Verlust erlebt, den andere Generationen nicht hatten. „Einerseits verändert dieses Gefühl die gesamte Realität. Andererseits erinnert es uns ständig daran, was wir verloren haben“, erläutert die Psychologin Diana Lupu. Für Vladis und Cătălinas Generation gab es keinen wirklichen Übergang ins Studentenleben. „Wo sind die Momente, mit denen man etwas abschließt, um dann einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen?“

Vladi wünscht sich, in echten Hörsälen zu sitzen und um 8 Uhr morgens einem langweiligen Professor oder einer langweiligen Professorin zuzuhören – und all die anderen Dinge, über die sich frühere Generationen beschwert haben. „Wir stellten uns vor, wir würden Partys feiern, Leute kennenlernen. Nichts davon ist passiert. Dieses Jahr war irgendwie unvollständig.“

 

Übersetzung von: Heike Kurtz