40 Jahre „Marsch für Gleichheit und gegen Rassismus“ in Frankreich - Ein in Vergessenheit geratenes historisches Ereignis

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Am 15. Oktober 1983 brechen 17 Personen in Marseille zu einem 1.200 km langen Marsch mit dem Ziel Paris auf. Sie hoffen so auf rassistisch motivierte Verbrechen aufmerksam zu machen, unter denen viele Familien in Frankreich leiden. Auch wollen sie auf die Straflosigkeit der Täter hinweisen und sie fordern Gerechtigkeit und Gleichheit für alle.

Graphik einer Demonstration

Am 15. Oktober 1983 brechen 17 Personen in Marseille zu einem 1.200 km langen Marsch mit dem Ziel Paris auf. Sie hoffen so auf rassistisch motivierte Verbrechen aufmerksam zu machen, unter denen viele Familien in Frankreich leiden. Auch wollen sie auf die Straflosigkeit der Täter hinweisen und sie fordern Gerechtigkeit und Gleichheit für alle.

Der Marsch für Gleichheit und gegen Rassismus fand damals vor dem Hintergrund zunehmender und offen rassistischer Gewalt statt, die größtenteils von Polizisten begangen wurde und sich insbesondere gegen junge nordafrikanische Männer richtete.

Marseille, Schauplatz rassistischer Verbrechen

1972 verabschiedete die französische Regierung vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise und infolge des algerischen Unabhängigkeitskriegs die sogenannten „Marcellin-Fontanet“-Runderlasse, durch die die Arbeitsmigration eingeschränkt werden sollte. Eine der Maßnahmen verpflichtete Arbeitgeber*innen dazu, ihre Stellenangebote zuerst bei der nationalen Arbeitsagentur (ANPE) einzureichen, um einheimischen Arbeitnehmern den Vorzug zu geben. Eine weitere Maßnahme bestand darin, die Aufenthaltsgenehmigung an den Nachweis eines mindestens einjährigen Arbeitsvertrages zu koppeln. In diesem Zusammenhang entstand die Bewegung der arabischen Arbeiter (MTA), die von Arbeitsmigrant*innen aus Nordafrika und dem Nahen Osten gegründet wurde. Ihre Mitglieder wiesen damals bereits auf rassistisch motivierte Morde hin, die in Paris stattgefunden hatten.

Es folgte eine Reihe rassistischer Verbrechen in Marseille und anderen Städten Frankreichs, dessen Opfer stets Männer nordafrikanischer Herkunft waren.

Am 25. August 1973 ermordete dann ein Mann algerischer Herkunft in Marseille den Straßenbahnfahrer Émile Guerlache und verletzte sechs Fahrgäste. Er wurde für seine Taten für unzurechnungsfähig erklärt. Eine Tragödie, die vonRechtsextremen instrumentalisiert wurde, insbesondere von Gabriel Domenech, Chefredakteur der Zeitung „Le Méridional“ und späterer Abgeordneter des Front National, der einen rassistischen und fremdenfeindlichen Leitartikel gegen Menschen nordafrikanischer und insbesondere algerischer Herkunft veröffentlichte. Es folgte eine Reihe rassistischer Verbrechen in Marseille und anderen Städten Frankreichs, dessen Opfer stets Männer nordafrikanischer Herkunft waren. Am 28. August, dem Tag der Beerdigung des Straßenbahnfahrers, erschoss ein Kriminalpolizist den 16-jährigen Algerier Ladj Lounès. Drei Tage später, am 31. August, begleitete ein Trauerzug von 350 Personen seinen Leichnam. Weil die Kriminalpolizei sich nicht um den Fall kümmerte, nahmen seine Brüder und ihr Anwalt die Ermittlungen auf und fanden heraus, dass ein Kommando, das den Tod des Straßenbahnfahrers „rächen“ wollte, hinter dem Mord steckte. In den folgenden Tagen wurden weitere Männer nordafrikanischer Herkunft getötet. Aus Protest beschloss die MTA am 3. September 1973, einen „Generalstreik der arabischen Arbeiter“ in den Fabriken auszurufen.

Sechs Monate später, am 14. Dezember 1973, wurde ebenfalls in Marseille ein Anschlag auf das algerische Konsulat verübt, bei dem vier Menschen getötet und 18 verletzt wurden. Die Täter, zu denen sich die rechtsextreme Gruppe Charles-Martel bekannte, wurden nie identifiziert. Zwischen August und Dezember 1973 zählte die Soziologin Rachida Brahim 16 Opfer rassistischer Morde. Die Täter wurden jedoch nicht bestraft: „Vor dem Marsch gingen die meisten Prozesse nicht vors Schwurgericht, sondern wurden mit einer Höchststrafe von fünf Jahren Gefängnis belegt“, erklärt Marie-Laure Mahé[1]. Es sollte zehn Jahre so bleiben.

Das Minguettes-Viertel in Lyon an der Spitze des Marsches

Anfang der 1980er-Jahre war die französische Gesellschaft noch immer von rassistischen Verbrechen durchsetzt.

Die Initiatoren des Marsches 1983 stammten aus dem Stadtteil Minguettes, der zwischen den Gemeinden Vénissieux und Saint-Fons in einem südlichen Vorort von Lyon liegt. Zu ihnen gehörten acht junge Menschen aus dem Viertel, darunter Toumi Djaïdja, Präsident des Vereins „SOS Avenir Minguettes“, Christian Delorme, ein junger Priester in Saint-Fons, Jean Costil, Generalsekretär der Cimade (Verein zur Unterstützung von Exilanten, Flüchtlingen, Vertriebenen, Asylbewerbern und illegalen Ausländern), sowie einige Aktivist*innen.

Anfang der 1980er-Jahre war die französische Gesellschaft noch immer von rassistischen Verbrechen durchsetzt. Hinzu kamen schwierige Lebensbedingungen der Menschen in den Vorstädten: Ausgrenzung, Diskriminierung, Arbeitslosigkeit, Gewalt und schlechte Wohnverhältnisse.

Am 21. März 1983 kam es bei einer Razzia in Les Minguettes zu Zusammenstößen zwischen Jugendlichen und der Polizei. Eine Gruppe von Jugendlichen, darunter Toumi Djaïdja, beschloss daraufhin, in den Hungerstreik zu treten, um gegen die Polizeigewalt zu protestieren. In der Folge gründeten sie den Verein „SOS Avenir Minguettes“ und stellten eine Reihe von Forderungen an die Polizei und die Justiz. „Ohne diesen Hungerstreik hätte es keinen Marsch gegeben“, erinnert sich Christian Delorme[2]. Trotz dieser vielversprechenden Initiative gingen die Polizeiübergriffe weiter. Auch Toumi Djaïdja war davon betroffen. Als er am 20. Juni 1983 einen 16-jährigen Jugendlichen verteidigte, der von einem Polizisten angehalten und von seinem Hund angegriffen wurde, schoss der Polizist ihn nieder. Er überlebte schwer verletzt. Bei einem Gespräch zwischen Toumi Djaïdja und Christian Delorme entstand schließlich die Idee, einen Marsch zu organisieren nach dem Vorbild des 1963 u.a. von Martin Luther King initiierten Marsches auf Washington für Arbeit und Freiheit.Mehrere Jugendliche beschlossen, sich daran zu beteiligen, darunter Djamel Attalah, der laut Christian Delorme[3] zum „Anführer und zur Stütze der Gruppe“ werden sollte. Die Organisation des Marsches wurde der Cimade de Lyon und der Bewegung für eine gewaltfreie Alternative (MAN) anvertraut. Christian Delorme und Jean Costil versuchten, auch christliche, humanistische und antirassistische Organisationen zu mobilisieren.

Am 15. Oktober 1983 startete der Marsch im Marseiller La Cayolle-Viertel. Eine symbolträchtige Entscheidung, da dort einige Monate zuvor ein elfjähriger Roma-Junge an den Folgen eines rassistischen Anschlags gestorben war. Er und sein Bruder waren am Spielen, als es zu einer tödlichen Explosion kam. Ebenfalls in Marseille wurde 1980 in der Cité des Flamants der 17-jährige Lahouari Ben Mohamed von einem Bereitschaftspolizisten mit zwei Schüssen ins Gesicht getötet, der „an diesem Abend einen leichten Finger am Abzug hatte“[4].Trotz der Schwere der Tat erhielt er eine Haftstrafe von nur 10 Monaten, 4 davon auf Bewährung. 1981 verlor die Marseiller Aktivistin und Marsch-Teilnehmerin Hanifa Taguelmint ihren 17-jährigen Bruder bei einem rassistisch motivierten Mord. Während er sich in einem Autowrack mit Freunden unterhielt, schoss ihm ein Nachbar direkt in den Kopf.

Die Emotionen kochten hoch und einige Marsch-Teilnehmer*innen dachten sogar daran, aus Verzweiflung aufzugeben.

Von Marseille aus zu starten, war für die Marschierenden also von entscheidender Bedeutung. Im Laufe des Marsches schlossen sich ihnen weitere Personen an, und in mehreren Städten bildeten sich Empfangskomitees. Die Marsch-Teilnehmer legten im Durchschnitt 30 km pro Tag zurück, ohne zu wissen, wo sie am Abend übernachten würden. Ab Grenoble nahm die Initiative größere Ausmaße an. Die Teilnehmer*innen des Marsches wurden von 5.000 bis 6.000 Menschen empfangen und die Presse begann sich für sie zu interessieren, als ein neues rassistisches Verbrechen Frankreich erschütterte. Einen Monat nach Beginn des Marsches, am 15. November 1983, befand sich Habib Grimzi, ein 26-jähriger Tourist aus Algerien, an Bord eines Zuges von Bordeaux nach Ventimiglia, als er von drei Bewerbern für die Fremdenlegion zusammengeschlagen und aus dem Fenster geworfen wurde. Die Emotionen kochten hoch und einige Marsch-Teilnehmer*innen dachten sogar daran, aus Verzweiflung aufzugeben. Schließlich machten sie doch weiter. Als sie an einer Zugstrecke vorbeikamen, legten sie einen Kranz zu Ehren von Habib Grimzi nieder. Diese Tragödie erregte die öffentliche Meinung und schockierte alle Schichten der französischen Gesellschaft zutiefst. Die Regierung erklärte „ihre Entschlossenheit, alle Formen von Rassismus zu bekämpfen“. Georgina Dufoix, Staatssekretärin für Familie, Bevölkerung und eingewanderte Arbeitnehmer, schloss sich dem Marsch in Straßburg an und drückte den Marschierenden ihre Solidarität aus.

Nach ihrer Ankunft in Metz nahmen die Teilnehmer*innen des Marsches den Zug, um nach Nordfrankreich und von dort aus weiter nach Belgien zu gelangen. Am 3. Dezember 1983 erreichten sie den Place de la Bastille in Paris, wo sie von 100.000 Menschen empfangen wurden. „Die Teilnehmer liefen geschlossen an der Spitze des Zuges, dahinter kamen Familien, die Porträts der Opfer rassistischer Verbrechen hochhielten“, erinnert sich Youcef Sekimi[5], der damals mit marschierte.

Enttäuschung über den weiteren Verlauf der Geschichte

Am selben Tag beschloss Staatspräsident François Mitterrand, eine Delegation von acht Marsch-Teilnehmer*innen im Élysée-Palast zu empfangen, um über ihre Forderungen zu diskutieren. Dazu gehörten die Einführung einer zehnjährigen Aufenthaltserlaubnis für Ausländer sowie das Wahlrecht bei allen Wahlen. Im Jahr 1984 wurde die Aufenthaltsgenehmigung eingeführt, ein Wahlrecht für Ausländer jedoch wurde nie verabschiedet.

Nachdem der Marsch viele Emotionen und eine Massenkundgebung ausgelöst hatte, geriet er in Vergessenheit.

Was danach geschah, hat für viele Teilnehmer*innen des Marsches einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen. Sie beklagen, dass ihr Kampf von der 1984 gegründeten Organisation „SOS Racisme“, die der Sozialistischen Partei nahestand, vereinnahmt wurde. Die Anführer des Marsches seien von „SOS Racisme“ ignoriert worden und in Vergessenheit geraten. „Man hat uns nicht nur unsere Geschichte gestohlen, sondern auch das, was uns zustand, nämlich die Mittel, um den traumatisierten Opfern rassistischer Gewalt Zugang zu Bildung, Kultur und Sport zu ermöglich also zu allem, was Frankreich seiner Jugend sonst auch bietet“, beklagt Hanifa Taguelmint[6].

Nachdem der Marsch viele Emotionen und eine Massenkundgebung ausgelöst hatte, geriet er in Vergessenheit. Erst 2013 durch die Veröffentlichung des Films „La Marche (Der Marsch)“ von Nabil Ben Yadir wurde dieser historische Moment wieder ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Seitdem finden im ganzen Land regelmäßig Gedenkfeiern statt und die Teilnehmenden von damals werden aufgefordert, sich in den Medien zu äußern, doch sind sie nach wie vor der Meinung, dass dieses Ereignis in der breiten Öffentlichkeit noch zu wenig bekannt ist.

Ein trauriges Fazit, wenn man bedenkt, dass ihre Forderungen auch heute noch aktuell sind, wie der Mord an Nahel Marzouk im Sommer 2023 wieder einmal deutlich gemacht hat: Der 17-Jährige französisch-algerischer Herkunft wurde im Juni im Pariser Vorort Nanterre von einem Polizisten aus nächster Nähe ermordet, nachdem er sich geweigert hatte, seinen Anweisungen nachzukommen.

 

Übersetzt aus dem Französischen von Katja Petrovic | Voxeurop

 

[1] Auszüge aus dem Dokumentarfilm „1983, les marcheurs de l'égalité“, ausgestrahlt am 03/12/23 auf France 5 (https://www.france.tv/france-5/la-case-du-siecle/5444292-1983-les-march…).

[2] Auszüge aus dem Dokumentarfilm „1983, les marcheurs de l'égalité“, ausgestrahlt am 03/12/23 auf France 5 (https://www.france.tv/france-5/la-case-du-siecle/5444292-1983-les-march…).

[3] Auszüge aus dem Dokumentarfilm „1983, les marcheurs de l'égalité“, ausgestrahlt am 03/12/23 auf France 5 (https://www.france.tv/france-5/la-case-du-siecle/5444292-1983-les-march…).

[5] Auszüge aus dem Dokumentarfilm „1983, les marcheurs de l'égalité“, ausgestrahlt am 03/12/23 auf France 5 (https://www.france.tv/france-5/la-case-du-siecle/5444292-1983-les-march…).

[6] Auszüge aus dem Dokumentarfilm „1983, les marcheurs de l'égalité“, ausgestrahlt am 03/12/23 auf France 5 (https://www.france.tv/france-5/la-case-du-siecle/5444292-1983-les-march…).