Pakt mit dem Teufel oder großer Neubeginn? Die kontroversen Ansichten über das neue EU-Asyl-und Migrationspaket

Analyse

Das Europäische Parlament, der Rat und die EU-Kommission haben am 20.Dezember 2023 eine Politische Einigung über die wesentlichen Bestandteile des Neuen Pakets zur europäischen Migrations- und Asylpolitik erzielt. Die formelle Verabschiedung seitens des Parlaments und der Mitgliedsstaaten steht noch aus, es dürfte sich an diesem Punkt aber nur um eine Ratifizierung der Einigung handeln. 

 European Commission headquarters at the Berlaymont Building, Brussels, Belgium

Der aus 9 Gesetzesvorschlägen bestehende Paket war im September 2020 von der Kommission vorgelegt und von der Kommissionpräsidentin Ursula von der Leyen als „neuer Start“ des gemeinsamen europäischen Asylsystems bezeichnet worden. Nach über drei Jahren äußerst kontrovers geführter Debatte, zunächst innerhalb des Parlaments und des Rats und anschließend zwischen den beiden Gesetzgebungsorganen der EU, erschien für lange Zeit eine Einigung fragwürdig.

Die unglücklichen Rahmenbedingungen

Die Einigung stand unter dem Vorzeichen eines starken Anstiegs der Asylbewerberzahlen in Europa, die 2023 die Millionengrenze überschritt, die 5,3 Millionen aus der Ukraine Geflüchteten nicht eingerechnet. Seit 2015/16 hatte es solche Zahlen nicht gegeben, und das Gespenst der großen Asylkrise jener Jahre wurde beschworen. Trotz der Abschreckungsmaßnahmen, der an den Außengrenzen errichteten Mauern und Zäunen, der gewaltsamen und illegalen push backs, der Behinderung der Seenotrettung, der Abkommen mit Drittstaaten wie Türkei, Libyen und Tunesien hatten hunderttausende von Geflüchteten über das Mittelmeer und die „Balkan-Route“ den Weg in die EU-Staaten gefunden. Zahlreiche Mitgliedsstaaten hatten 2022/23 die nationalen Asylgesetze verschärft, die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber verschlechtert, Sozialleistungen abgebaut, die Dauer der Abschiebehaft verlängert, die bevorzugte Behandlung unbegleiteter Minderjähriger zurückgeschraubt, Kontrollen an den Binnengrenzen wiedereingeführt, die Auslagerung von Asylverfahren in Drittländer ins Auge gefasst. Die Wolken über dem europäischen Asylrecht hatten sich verdichtet, längst bevor der Neue Pakt beschlossen war.

Die politische Landschaft Europas hatte sich zunehmend verändert durch das Anwachsen der rechten und extrem rechten Parteien und Bewegungen in fast allen Ländern. Ausländerfeindlichkeit, offener Rassismus, Islamophobie, national-identitäre Ideologien waren keine Randerscheinungen mehr. Meinungsumfragen in 2023 ergeben, dass der überwiegende Teil der Bevölkerung in EU-Ländern der Ansicht ist, es gäbe zu viele Ausländer und die Politik täte nicht genug, einem weiteren Anstieg der Zahlen Einhalt zu gebieten[1]. [MB1] 

Die für Juni 2024 anberaumten Wahlen zum Europäischen Parlament (EP) und die damit verbundene Neuernennung der EU-Kommission haben die Entscheidungsträger unter Zugzwang gesetzt, der dazu führte, einen Kompromiss „whatever it takes“ anzupeilen, um im Wahlkampf nicht migrationspolitisch mit leeren Händen dazustehen. Wir werden sehen, dass es sich in Wirklichkeit nicht um einen Kompromiss zwischen den eher liberalen und „flüchtlingsfreundlichen“ Vorschlägen des Parlaments und den auf der ganzen Linie restriktiven Positionen des Rats, also der Regierungen, handelt, vielmehr um einen Schritt um Schritt erfolgten Rückzieher seitens der EP-Abgeordneten. Deren Zugehörigkeit zu Parteien, die in Mitgliedsstaaten in Regierungen vertreten sind, hat offenbar am Ende dazu geführt, dass die Parteidisziplin Vorrang über die eigenen asylpolitischen Überzeugungen hatte. 

Was ändert sich – ändert sich was?      

Asylverfahren sollen an Außengrenzen stattfinden, wenn es sich um Bewerber handelt, die aus Ländern kommen, für die die Quote der Anerkennung internationalen Rechtsschutzes in erster Instanz im EU-Durchschnitt unter 20% liegt. Während des in der Regel dreimonatigen Verfahrens besteht die Fiktion, die Menschen seien gar nicht eingereist. Nachdem die deutsche Bundesregierung und die Grünen im Europäischen Parlament mehrheitlich auf ihren Widerstand verzichtet haben, gilt die - nun obligatorische - haftähnliche Unterbringung während dieses Verfahrens auch für Familien mit Kindern. Der Bescheid über die Ablehnung des Asylgesuchs beinhaltet gleichzeitig einen Abschiebungsbefehl. Grenzverfahren sind schon in der jetzt geltenden, 2013 reformierten Asylverfahrensrichtlinie vorgesehen und werden in vielen Ländern praktiziert. Aber jetzt soll es zur Pflicht gemacht werden, im Sinne „einheitlicher Regelungen“ in der gesamten EU, und die Mitgliedsstaaten sollen dafür 30.000 Plätze für in insgesamt 120.000 Menschen pro Jahr in mehr oder minder geschlossenen Einrichtungen zur Verfügung stellen. Das betrifft in der Praxis fast nur die Mitgliedsstaaten mit „sensiblen“ Außengrenzen, wie die Mittelmeerländer.

Alle „irregulär“ in die EU-Einreisenden sollen erkennungsdienstlich an den Außengrenzen erfasst und einem „screening“ unterzogen werden, was im Rahmen des Dublin-Systems jetzt schon vorgeschrieben ist. Aber daran, dass viele Asylbewerber es schaffen, sich dieser Registrierung zu entziehen, um nicht Opfer der Dublin-Regelungen über die Rückführung in die Ersteinreiseländer zu werden, wird die neue „Screening-Verordnung“ kaum etwas ändern.

Die Einstufung von Nicht-EU- Ländern als „sichere Drittstaaten“, in die die Asylbewerber zurückgeschafft werden können, soll erleichtert werden. Die Rückführung erfordert aber die Zustimmung des betreffenden Landes, die in der Regel nicht erteilt wird.

Besonders umstritten waren die „Solidaritätsmechanismen“, ein Kernstück des Paketes, also die Übernahme („relocation“) von Asylbewerbern und anerkennten Flüchtlingen aus unter besonderem Migrationsdruck befindlichen Erstaufnahmeländern und deren Verteilung auf alle Mitgliedsstaaten, als Korrektur des in der Substanz unveränderten Dublin-Systems.  Am Ende hat sich die Forderung des Europäischen Parlaments, Relocation verpflichtend zu machen, unter besonderer Berücksichtigung der aus Seenot Geretteten, nicht durchgesetzt. Mitgliedsstaaten können sich „freikaufen“ durch die Zahlung von 20.000 Euro für jeden nach der Verteilungsquote zugewiesenen, aber nicht aufgenommenen Asylbewerber, oder durch Sachleistungen in Form von Maßnahmen des capacity building. Die Länder der Visegrad-Gruppe haben schon erklärt, dass sie selbst diese milde Art von Solidarität nicht akzeptieren werden.

Der Politikberater Gerald Knaus[2] hat versucht zu simulieren, was sich geändert hätte, wäre das Paket schon für 2023 in Kraft getreten. Wären weniger Asylbewerber nach Europa gekommen? Nein, denn die Abschreckungsinstrumente haben schon in der Vergangenheit nicht die Wirkung erzeugt, die Menschen von der lebensgefährlichen und kostspieligen Reise in die EU abzuhalten. Wären weniger Menschen im Mittelmeer ertrunken? Nein, denn das Paket zeigt keine Alternative in Form von konkreter Möglichkeit sicherer und legaler Einreise und sieht keine EU-Seenotrettungsoperation vor. Wären mehr Menschen ohne Aufenthaltsberechtigung in ihre Herkunftsländer oder Transitländer zurückgeschickt worden? Nein, denn es gibt im Paket keine neuen Ansätze, um die Drittländer zur Zusammenarbeit zu bewegen. Wären die Asylverfahren beschleunigt worden? Nein, die Grenzverfahren können bis zu 3 Monaten, statt wie bisher einen Monat dauern. In Ländern mit außerordentlichem Migrationsdruck würden die außerordentlich komplizierten Verfahren eventueller Relocation in andere Länder zu einer erheblichen Verlängerung des Zeitraums führen, in dem das Asylgesuch behandelt wird. Wären weniger Migranten und Geflüchtete irregulär vom Erstaufnahmeland in andere EU-Länder weitergereist? Nein, im Gegenteil, die Zahl hätte sich vermutlich erhöht, weil sich die Aufnahmebedingungen in den Ländern mit sensiblen Außengrenzen zwecks Abschreckung und wegen deren zusätzlicher Belastung weiter verschlechtert hätten.

In meiner Simulierung bezüglich Italiens, einer der am stärksten betroffenen Erstaufnahmeländer, auf Grundlage der Zahlen von 2023, hätte die Relocation im günstigsten Fall 4% der etwas über 100.000 Asylbewerber umfasst. Dabei hätte Italien aber zehntausende von neuen haftähnlichen Unterkunftsplätzen für die Grenzverfahren einrichten müssen. Gleichwohl hat die Meloni-Regierung der politischen Einigung zugestimmt. Einerseits will sie nicht als „europafeindlich“ gelten, andererseits hat sie erklärt, sowieso nicht auf europäische Solidarität zu bauen, sondern auf die Zusammenarbeit mit Drittstaaten wie Tunesien und Albanien, um die Ankünfte von Geflüchteten zu verhindern oder zumindest einzudämmen.  

Die weißen Blätter im Neuen Paket   

Es ist einfacher festzustellen, was der Neue Pakt nicht enthält, als die angekündigte große Innovation zu finden.

Was fehlt, ist ein konkretes und formelles Programm für die Ausweitung der legalen Zugangswege für Geflüchtete und Migranten.

Ein Mechanismus der „automatischen“ Verteilung auf die Mitgliedsstaaten der aus Seenot geretteten Asylbewerber, wie vom EP vorgeschlagen, ist ebenso wenig vorgesehen wie die Einrichtung einer EU-Operation zur Seenotrettung   

Die Dublin-Verordnung mit seiner Allokation von primärer Verantwortung der Erstaufnahmeländer ist nicht nur nicht überwunden, sondern noch stringenter geworden. Die Verkürzung der Verfahrensfristen und die Verlängerung der Frist, während der die Zuständigkeit für den Asylbewerber im Erstaufnahmeland verbleibt, auf 20 Monate werden die Belastung der Länder mit „sensiblen“ Außengrenzen erhöhen. Ungeachtet aller Studien über das 30jährige Nicht-Funktionieren des Dublin-Systems ist dieses, nun in der Form einer Verordnung über Asyl-und Migrationsmanagement, auf unbestimmte Zeit weiterhin festgeschrieben. 

Die von der EU-Kommission beabsichtigte und vom EP begrüßte Erweiterung des Familienbegriffs zur Bestimmung des zuständigen Asyllandes, unter Einschluss von Geschwistern, ist am harschen Widerstand des Rates gescheitert.

Der entscheidende, im Frühjahr 2023 vom EP verabschiedete Punkt einer Reform des Dublin-Systems, nämlich die Berücksichtigung der besonderen Beziehungen, die ein Asylbewerber mit einem bestimmten Land hat, als vorrangiges Kriterium für die Asyl-Zuständigkeit dieses Landes anzuerkennen, ist nicht in die Verordnung aufgenommen worden. Es ist in vielen Untersuchungen nachgewiesen, dass Asylbewerber dorthin gehen wollen, wo sie Verwandte, Freunde, Communities haben, oder wo sie die Sprache sprechen, und kulturelle Verbindungen bestehen. Dies ist auch der Hauptgrund für die irreguläre inner-europäische Weiterwanderung. In der politischen Einigung über die Asylmanagement-Verordnung ist allein der Besitz von in einem Mitgliedsstaat ausgestellten Diploms als besondere Verbindung zu diesem Land erwähnt.  

Die Ausdehnung des subsidiären Rechtsschutzes auf durch den Klimawandel Vertriebenen ist nicht erfolgt. Deren Schutz ist nach wie vor von nationalen Regelungen und der Rechtsprechung in einzelnen Mitgliedsstaaten abhängig.

Das vom Europäischen Parlament verlangte formelle Verbot, EU-Gelder an militärische Verbände und Küstenwachteinrichtungen in Drittländern zu verteilen, die systematisch Menschenrechte verletzen, hat sich im Rat nicht durchsetzen können.

Die ursprünglich ebenfalls vom Parlament ins Auge gefasste Verpflichtung, Kontingente von Asylbewerbern und Flüchtlingen aus von besonderem Migrationsdruck betroffenen Mitgliedsstaaten auf andere Länder umzuverteilen, ist in einem Paket von „Solidaritätsmechanismen“ verwässert, von denen die „Relocation“ nur eine mögliche Option ist. Allerdings ist die eingangs von der Kommission und dem Rat beabsichtigte Option einer „Rückkehr-Patenschaft“ als Solidaritätsaktion zurückgezogen worden.

Gegensätzliche Meinungen

Die Europäische Kommission, das EP-Präsidium und die Regierungen der Mitgliedsstaaten haben, mit wenigen Ausnahmen, die politische Einigung über das Paket begrüßt und sogar bejubelt. Ursula von der Leyen spricht von einer „historischen Einigung“, die eine europäische Antwort auf eine Herausforderung an Europa darstelle. „Die Europäer werden entscheiden, wer in die EU hereinkommt und hierbleiben kann, nicht die Schmuggler“. Für Roberta Metsola, EP-Präsidentin, wird der 20. Dezember 2023 in die Geschichte eingehen. Schnelle und direkte Abschiebung an den Außengrenzen werde garantiert. Olaf Scholz: “Damit begrenzen wir die irreguläre Migration und entlasten die Staaten, die besonders stark betroffen sind, auch Deutschland“. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock ist überzeugt, dass eine europäische Einigung dringend notwendig und überfällig gewesen sei, unterstreicht die Bedeutung des neuen Solidaritätsmechanismus, der „einfach, vorhersehbar und praktikabel“ sei, bedauert aber, dass Deutschland sich mit der Forderung nach pauschaler Ausnahme von Kindern und Familien aus den Grenzverfahren nicht durchsetzen konnte. Die Innenministerin Nancy Faeser ist überzeugt, dass humanitäre Standards für Geflüchtete geschützt würden[3].

Für den italienischen Innenminister Matteo Piantedosi ist eine Lösung geschaffen, die Gleichgewicht zwischen Verantwortung und Solidarität herstellt und die Länder mit Außengrenzen nicht weiterhin allein lässt angesichts des Migrationsdrucks. „Ein großer Erfolg für Italien und für Europa“. Ähnliche Einschätzungen gab es von seitender Regierungen in Frankreich und Spanien, die besonderen Druck für eine schnellen Einigung ausgeübt hatten, wobei in Frankreich die äußerst kontroverse Debatte um eine Verschärfung des Asylgesetzes eine Rolle spielte, und in Spanien das Interesse, die Präsidentschaft des EU-Rats erfolgreich abzuschließen. Nur Polen und Ungarn haben erklärt, sie würden nicht einen einzigen Asylbewerber aus anderen Ländern aufnehmen.

Die Grünen im EP und in Deutschland haben sich schwergetan, die Einigung willkommen zu heißen. Der Ko-Vorsitzender der deutschen Grünen, Omid Nouripour, sieht an vielen Stellen des Pakts „schmerzhafte Punkte“, z. B. in Bezug auf die Grenzverfahren[4]. Die Ko-Chefin der deutschen Grünen Jugend, Katharina Stolla, meint sogar, der Pakt bedeute „ein Weihnachtsgeschenk an Europas Rechtsextreme, einen Schlag gegen die Menschenrechte, eine massive Entrechtung von Geflüchteten“, und fordert die Rücknahme der deutschen Zustimmung zu der Einigung[5]. Für Erik Marquardt, grünes Mitglied im federführenden LIBE-Ausschuss des EP, stellen die Grenzverfahrung keine Vereinfachung dar und die Sekundärmigration würde durch schlechtere Behandlung der Asylbewerber in den Erstaufnahmeländern eher befördert. „Wir als Grüne sind nicht wirklich durchgedrungen“[6].  

Schroffe Kritik an der Einigung haben die internationalen und europäischen NGOs ausgedrückt. Am Vorabend der Einigung hatten 50 Organisationen, u.a. amnesty international, Oxfam und Save the Children, einen dringenden Appell an das EP und den Rat gerichtet, den vorliegenden Text zu überdenken[7]. Die deutsche Sektion von amnesty international hat sich nach der Verabschiedung „entsetzt“ gezeigt und spricht von einem „menschenrechtlichen Dammbruch“. ProAsyl, die Dachorganisation deutscher Asylverbände, befürchtet „die Errichtung eines Systems von Haftlagern für Menschen, die fliehen und nichts verbrochen haben“[8]. Sophia Eckert, Sprecherin von Terre des Hommes, befürchtet die Entrechtung von Kindern, die von „einem Leben hinter Stacheldraht“ bedroht seien, und das „Ende des europäischen Wertesystems“[9]. Alle in Italien operierenden Seenotsrettungsorganisationen haben in einer gemeinsamen Erklärung die „Legalisierung der Rechtsverletzungen an den Außengrenzen“ verurteilt und befürchten einen weiteren Anstieg der Zahl der Opfer im Mittelmeer.

Die Legende von den „falschen Flüchtlingen“

Eine der wesentlichen Zielsetzungen des Pakets ist, dem Missbrauch des Asylrechts seitens der Migranten vorzubeugen, die keinen Anspruch auf Schutz haben. In der öffentlichen Meinung wird der Eindruck erweckt und geschürt, eine große Mehrzahl der Asylbewerber gehörten in diese Kategorie. Die offiziellen Zahlen beweisen das Gegenteil.

In den letzten Jahren lag die Quote der Anerkennung internationalen Rechtsschutzes in der EU+[10], also Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention sowie subsidiärer Schutz, in erster Instanz konstant über 40%[11] . Im Oktober 2023, der letzten veröffentlichten Zahl, betrug die Quote fast 50%[12]. Dazu kommen: die Asylbewerber, die Rechtsschutz und Bleiberecht auf Grund von nationalen Regeln erhalten („humanitärer Schutz“), für 2023 auf 20% geschätzt[13]. Und weiterhin kommen dazu die Asylbewerber, denen Schutz in der zweiten, in der Regel gerichtlichen Instanz, zugesprochen wird, laut der EU-Asylagentur 21% im Jahr 2022 [14]. Im Ergebnis erhalten etwa 80% der Asylbewerber Rechtsschutz in der EU und damit eine Bleiberecht. Damit reduziert sich die Zahl der „falschen Flüchtlinge“ auf etwa 20% der Antragsteller.

Die bei den Asylbewerbern in der EU seit Jahren am stärksten vertretenen Nationalitäten sind  Syrer, denen in über 90%  der Fälle Rechtsschutz anerkannt wird (Oktober 2023: 94%); Afghanen (Anerkennung in erster Instanz um 90% seit 2021, im Oktober 2023 auf 64% gefallen); Venezolaner (90% humanitäre Aufnahme). In Italien allerdings waren die stärksten Gruppen unter den Asylbewerbern in 2023 Ivorianer, Tunesier, Gambianer und Ägypter – alles Nationalitäten mit einer Anerkennungsquote in erster Instanz unter 20%, auf die also in Zukunft das Grenzverfahren angewandt werden wird.

Schlussbemerkung      

In der Gesamtschau handelt es sich bei dem neuen Pakt eher um ein Regelwerk zur Flüchtlingsabwehr als eines über die Aufnahme und den Schutz von Geflüchteten. Man darf fragen, ob dies im Sinne der Mütter und Väter der EU-Grundrechtecharta war, als sie im Artikel 18 feierlich das Recht auf Asyl, in Übereinstimmung mit der Genfer Flüchtlingskonvention, festgeschrieben haben.

Wesentliche Teile des Paktes werden erst im Frühjahr 2026, 2 Jahre nach formeller Verabschiedung, in Kraft treten, und erst dann wird sich herausstellen, welche Teile überhaupt in die Praxis umgesetzt werden können. Zweifel sind erhoben worden, ob die „Solidaritätsmechanismen“, in unglaublich komplizierter Weise in 18 langen Artikeln im Abschnitt IV der Verordnung über Asyl-und Migrationsmanagement geregelt, Anwendung finden werden. In dem Gewirr zwischen „Solidaritätsbeiträgen“, „Solidaritätspool“, „Solidaritätsforum“, „Migrationsmanagementbericht“, „Migrationsmanagementplan“, „Verteilungsschlüssel“ und einem auf Grund von 20 verschiedenen Kriterien zu bestimmenden „Migrationsdruck“ in einzelnen Ländern wird möglicherweise der „Bürokratiedruck“ auch für geschulte Experten zu groß sein.                                                                                                  

 

[1] S. für Italien: „Sole 24 Ore “, 21/3/2023: nach einer Umfrage des Noto Istituts, für 55% der Befragten gäbe es zu viele Immigranten, Für Deutschland: Zeit Online, 29/9/2023: nach einer Umfrage von Infratest dimap, wollen 64% der Befragten, dass weniger Flüchtlinge aufgenommen werden. Frankreich: Le Monde, 31/8/2023, nach einer Kantar Umfrage gibt es für 45% der Befragten zu viele Immigranten; nach einer von Le Figaro beauftragten Umfrage sind es sogar 74%, Le Figaro, 24/5/2023.  

[2] Interview im

Deutschlandfunk, 20.Dezember 2023

[6] Interview im Deutschlandfunk, 20.Dezember 2023

[7] rseurope.org/en/news/50-ngos-open-letter-to-european-leaders-stand-up-for-human-rights-safety-and-dignity-in-the-migration-pact/

[10] EU- Mitgliedsstaaten + Schweiz, Norwegen, Island und Liechtenstein

[11] EUAA, Factsheet Nr. 19 „Recognition of international protection“, August 2023

[12] EUAA, Latest Asylum Trends, Midterm Review, 14. Dezember 2023

[13] Dazu gehören insbesondere venezolanische Asylbewerber, die in Spanien, mit 88% der Antragsteller aus diesem Land in der EU, fast alle humanitären Schutz erhalten. Venezolaner stellten 2023 die drittgrößte Nationalität der Asylbewerber in der EU dar. 

[14] Diese Zahl kann aber nicht vollständig zu den Anerkannten in 1. Instanz summiert werden, da eine 2. Instanz auch angerufen werden kann, wenn in 1. Instanz keine GFK-Flüchtlingseigenschaft, sondern ein „minderer“ Rechtsschutz zuerkannt wurde.