Bei Europa scheiden sich die Geister – Der schwelende Konflikt unter den italienischen Rechts-Parteien vor den Europa-Wahlen

Analyse

Noch nie hat es in Italien eine solche Aufmerksamkeit in der politischen Debatte und in den Medien auf bevorstehende Wahlen zum Europäischen Parlament (EP) gegeben wie in dieser Phase. “Die wichtigsten Europawahlen, die es je gab” titelt zum Beispiel die “La Repubblica”[1].  In diesem Beitrag soll den Gründen dafür nachgegangen werden sowie der Frage, um welche Auseinandersetzungen und strategischen Differenzen es sich zwischen den Regierungsparteien handelt. Und schließlich auch, wie sich dies auf die Zusammenarbeit mit rechtsextremen Parteien in anderen europäischen Ländern auswirken wird. 

 

[1] La Repubblica, 7. März 2024

Centre-right coalition at the Quirinal Palace

Die in Italien zu beobachtende verstärkte Aufmerksamkeit für die Europa-Wahlen erklärt sich nicht allein aus einem gesteigerten Interesse an der EU-Politik, mit ihren Schwerpunkt auf sozialen und ökonomischen Themen[1], sondern auch aus der möglichen, je nach Gesichtspunkt erwünschten oder befürchteten, Rückwirkung der Zwistigkeiten zwischen den Regierungsparteien auf EU-Ebene im Heimatland. Jeden Tag gibt es neue Dissonanzen, vor allem in der Außenpolitik, zwischen Fratelli d’Italia und der Lega, z.B.  bezüglich der Einschätzung der russischen Präsidentschaftswahl oder der Beziehungen zu Biden versus Trump. In der Analyse des Wahlkampfs um die Europawahlen darf nicht vergessen werden, dass im Unterschied zu Deutschland, Frankreich und Spanien, die ultrarechten Parteien in Italien seit 18 Monaten in der Regierung sitzen und von dieser Position aus ein stärkeres Gewicht in der EU einklagen.

Jedenfalls rechts, aber jeder auf seine Weise

Die drei Parteien, die sich im Oktober 2022 in Rom zu einer Regierungskoalition zusammenfanden, haben nicht nur verschiedene, sondern teilweise gegensätzliche Traditionen und Grundüberzeugungen. Dies wird besonders deutlich in ihren Einstellungen zur Europäischen Union.

Die von Silvio Berlusconi gegründete “Forza Italia” hat seit ihren in die frühen neunziger Jahre zurückreichenden Ursprüngen aus ihrer europafreundlichen Haltung nie Hehl gemacht und war Befürworter der Einführung der Euro-Währung. Seit 1999 ist die Berlusconi-Partei, unter verschiedenen Namen, Mitglied der Europäischen Volkspartei (EVP). Ihre Aufnahme in die Fraktion wurde seinerzeit besonders von Helmut Kohl unterstützt[2]. Obschon Berlusconis Freundschaft mit Putin und Orban, seine skurrilen Äußerungen zum Ukraine-Konflikt und sein, um es vorsichtig zu sagen, bisweilen unkonventionelles Verhalten, Unbehagen bei den Christdemokraten ausgelöst hat, ist die natürliche Zugehörigkeit seiner Partei zur “Mitte” und damit zur EVP nicht ernsthaft in Frage gestellt geworden. Der jetzige italienische Außenminister Antonio Tajani, Berlusconis Nachfolger an der Spitze von Forza Italia, war Präsident des EP und gehört heute zu den Politikern, die der italienischen Regierung auf internationaler Ebene den Anstrich einer konservativen, aber nicht rechtsextremen Orientierung zu geben bemüht sind.  

Die Lega hingegen, geführt vom gegenwärtigen Verkehrsminister und stellvertretenden Ministerpräsidenten Matteo Salvini, hat ihre europa-skeptische Position seit den Anfängen als “Lega Nord” in ihrer DNA. Im Programm der Lega zu den italienischen Parlamentswahlen 2022[3] spricht sich die Partei gegen eine stärkere europäische Integration aus und gegen eine “immer bürokratischere und von den Völkern entferntere” Politik der Union. Allerdings erwähnt die Lega nicht mehr, wie bisweilen in der Vergangenheit[4], einen Austritt Italiens aus der EU. Vielmehr werden einige tragende Werte und strategischen Orientierungen der EU kritisiert. Salvini brandmarkt den Green Deal und die Politiken zur Eindämmung der Klimakatastrophe als dem “Made in Italy” abträglich und “den Lebensgewohnheiten der Italiener fremd”. Er verteidigt das Prinzip der Einstimmigkeit, also des Vetorechts einzelner Mitgliedsstaaten, in den Entscheidungsprozessen der EU und verbreitet den Eindruck, für die Lega sei die EU nichts weiter als ein notwendiges Übel.   

Bei den letzten Wahlen zum EP im Jahr 2019 hat die Lega mit über 34 % der Stimmen das beste Ergebnis seit ihres Bestehens erzielt und wurde damit zur stärksten italienischen Partei, mit einem Abstand von 12% gegenüber der Demokratischen Partei (PD), die auf dem zweiten Platz landete.  Von den 73 Italien zustehenden Sitzen im Parlament belegt die Lega 28 und ist somit auch die stärkste Gruppe innerhalb der Fraktion “Identität und Demokratie” (ID). Zu den 9 Parteien dieser Fraktion gehören u.a. die AfD, das französische Rassemblement National, die niederländische Partei für die Freiheit, die Dänische Volkspartei und die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ).

Die Lega spart nicht mit harscher Kritik an der Europäischen Kommission und ihrer Präsidentin Ursula von der Leyen.  Sie macht die EU-Kommission für jedweden Konflikt verantwortlich, letztlich z.B. den mit der Landwirtschaft. Anlässlich der Konferenz der EVP Anfang März 2024 in Bukarest hat die Lega erklärt, die Kommission habe nichts getan, um die “klandestine Zuwanderung und den islamischen Extremismus” einzudämmen. Die Kommission habe “die italienischen und europäischen Landwirte ruiniert”[5]. Salvini hat erklärt, die Lega und die ID Fraktion würden eine Wiederwahl von der Leyens keinesfalls unterstützen und nicht an einer “Ursula-Mehrheit” teilnehmen. “Niemals mehr zusammen mit den Sozialisten Millionen von Bürgern ruinieren!”[6]

Seit langem ist klar, dass die Lega nicht annähernd ihr Ergebnis von 2019 erreichen wird. Nach einer Umfrage von Ende März 2024[7] könnte sie auf 8,2 % der Stimmen abstürzen, damit nur 7 Sitze im EP einholen und nur noch knapp vor Forza Italia landen, die ebenfalls auf 7,2 % geschätzt wird. Die meisten vorherigen Lega-Wähler sind zu Giorgia Melonis Fratelli d’Italia gewechselt. Die Lega als identitäre Rechtspartei hat selbst ein Identitätsproblem in ihrer Konkurrenz mit Fratelli d’Italia. Salvini lud deswegen Ende März 2024 fast die gesamte europäische Ultra-Rechte, die Schwesterparteien der Fraktion “Identität und Demokratie”, nach Rom ein. Dazu gehören die AfD, auch wenn sie in Rom nicht erschienen ist, und das Rassemblement National. Marine Le Pen schickte eine Videobotschaft, in der sie Giorgia Meloni frontal angriff, vor allem wegen ihrer geplanten Unterstützung einer Wiederwahl von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.

Auch ganz persönlich benötigt Salvini Schützenhilfe von den Schwesterparteien, denn seine Führungsrolle wird zunehmend von der Parteibasis und den der Lega angehörigen Regionalpräsidenten im Norden des Landes in Zweifel gezogen. Gefordert wird ein Kongress, mit dem Ziel der Neubesetzung der Parteispitze, den Salvini aber erst nach den Europawahlen einberufen will. Auch deshalb wird das Ergebnis der Wahlen im Juni, nicht nur für die Lega, sondern auch für ihre engsten rechtsextremen Verbündeten in Europa, von großer, auf die Innenpolitik zurückwirkende Bedeutung sein. 

Meloni: “Zwei Seelen, ach, in meiner Brust”

Das Europa-Kapitel des Parteiprogramms von Fratelli d’Italia von 2022 liest sich, gegenüber früheren, eher europafeindlichen Äußerungen, als klares Bekenntnis zur Europäischen Union, wohlgemerkt bei Erhaltung nationaler Identitäten und Unterstreichung nationaler Interessen[8]. In Melonis Vorstellung eines “Europa der Vaterländer” wird nicht nur die Verbundenheit zur NATO bekräftigt, sondern auch der Aufbau einer europäischen Verteidigungspolitik befürwortet. Sie will die Militärhilfen für die Ukraine verstärken und die Verteidigungshaushalte erhöhen. Italien soll eine “stärkere Rolle in Europa und in der Welt” spielen, aber eine Formel wie “erstmal Italien, dann Europa” wird im Programm und in Äußerungen der Parteispitze nicht (mehr) explizit erwähnt.

Fratelli d’Italia wird, laut Umfragen, mit 27% der Stimmen, d.h. 24 Sitzen, die stärkste italienische Partei im EP sein. In absoluten Zahlen der Wählerstimmen könnte sie eine der europaweit stärksten Parteien im neuen Parlament werden und damit eine nicht unerhebliche Rolle bei der Wahl des Kommissionspräsidenten oder -präsidentin spielen.     

Eine stärkere Rolle Italiens in Europa bedeutet, für Giorgia Meloni, auch eine stärkere Stellung ihrer Partei im zukünftigen Parlament, und damit eine Einflussnahme auf politische und Personalentscheidungen, wie sie in der gegenwärtigen Legislaturperiode keine italienische Rechtspartei gehabt hat. Daher will Meloni sich nicht in die rechtsextreme Ecke schieben lassen, sondern am Zentrum der Macht in Europa beteiligt sein. Ja eben, im “Zentrum”, möglicherweise als Mitglied oder zumindest in Übereinstimmung mit der EVP, an der Seite von CDU/CSU, und auch von ihrem Juniorpartner Forza Italia.

Das setzt, in Brüssel und Straßburg, eine schroffe Abkehr vom römischen Koalitionspartner Salvini voraus, die Meloni sich aber zu Hause in Rom nur bedingt leisten kann. Ohne die Lega gibt es für ihre Regierung keine Parlamentsmehrheit.

Wer geht mit wem?

Meloni hat nicht, oder vielleicht: nicht mehr, den Plan, die gesamte Ultra-Rechte Europas in einer politischen Kraft im EP zu vereinigen, also eine Superfraktion anzusteuern, die dann notwendigerweise auch die AfD und ähnliche Kräfte einschließen müsste, was wiederum eine Liaison mit der christdemokratischen “Mitte” ausschließen würde.

In den letzten 10 Monaten hat Meloni nicht weniger als 7 gemeinsame Missionen in Drittländer mit Ursula von der Leyen unternommen, zur Unterzeichnung von Verträgen der Zusammenarbeit, vor allem in Fragen der Bekämpfung irregulärer Migration. Die von ihnen dabei abgegebenen Erklärungen, z. B. in Tunis in 2023 und Kairo im März 2024, bekräftigen eine bis vor einiger Zeit schwer vorstellbare politische Übereinstimmung. Die Kommissionspräsidentin verfolgt immer mehr eine Politik der Abschottung gegen Flüchtlinge und Migranten, der Externalisierung der Verantwortung für Flüchtlinge in Drittländer. Darin herrscht volle Übereinstimmung mit Meloni, deren Abkommen mit Albanien zur dortigen Prüfung von Asylgesuchen von der EU-Kommission gelobt wird. Von der Leyen erwartet sich die Unterstützung ihrer Wiederwahl, und Meloni den Beistand für den möglichen Eintritt ihrer Partei in die EVP Fraktion, die auch von Manfred Weber, dem Vorsitzenden der Fraktion, gutgeheißen wird.

Auf der anderen Seite erwarten die Wählerinnen und Wähler von Fratelli d’Italia, dass die Partei auch in Europa als radikal-nationalistische, identitäre, ja postfaschistische Partei auftritt und nicht, aus Machtkalkül in das bürgerlich-gemäßigte Lager abdriftet. Dadurch könnte die Wählerschaft auch Forza Italia unterstützen oder, wenn auch enttäuscht, zur Lega zurückkehren. Meloni darf “das Neue” ihrer Bewegung nicht aufs Spiel setzen. Der Politologe Giovanni Orsina meint daher, Meloni wolle rechts von der EVP bleiben und im zukünftigen Parlament die Managerin der Beziehung der Christdemokraten zu den ultra- rechten Parteien darstellen[9]. Das Doppelspiel der Fratelli d’Italia drückt sich auch aus in einer ideologisch rechten Rhetorik und Terminologie, auf der einen Seite, und einer, gemessen an den Wahlkampf-Ankündigungen, eher gemäßigten, von der Lega unterschiedenen politischen Praxis auf der anderen, also in dem Wechselverhältnis zwischen “Bewegung” und Regierungsverantwortung[10].  

Es wird aber auch die Ansicht vertreten, von der Leyen und Meloni würden sich, gerade wegen ihrer  wegen ihrer ostentativ guten Beziehung wechselseitig schwächen[11].  Die erste braucht für ihre Wiederwahl voraussichtlich die Stimmen der der sozialistischen Fraktion S&D, also die Replik der “Ursula-Mehrheit”[12]. Die zur Linken und Mitte-Links zählenden Parteien im Parlament stehen aber Meloni und ihrer als kryptofaschistisch eingestuften, Orban nahestehenden, Partei ablehnend gegenüber. Auf der anderen Seite hat von der Leyen bei dem Treffen der EVP in Bukarest eine eher laue Unterstützung ihrer Fraktion erhalten, was sich ungünstig auf Meloni auswirken könnte.

Die Oppositionsparteien im italienischen Parlament könnten bei den Europawahlen nach neuesten Umfragen insgesamt etwa so viele Sitze bekommen wie die Regierungsparteien,[13] sofern die Alleanza Verdi e Sinistra, zuletzt auf 3,8 % geschätzt, die 4% Hürde für den Eingang in das Parlament nehmen sollte. Die Oppositionsgruppen gehen nicht nur getrennt in den Wahlkampf, sondern werden auch im EP verschiedenen Fraktionen angehören. Die stärkste Oppositionsparte Partito Democratico (PD) ist fest in der S&D Fraktion verankert, die 5-Sterne-Bewegung hingegen sucht immer noch ihre politische Zugehörigkeit in Brüssel/Straßburg, da sie bisher nicht in die Fraktion Grüne/EFA aufgenommen worden ist. Die gerade erst durch den Zusammenschluss von Emma Boninos +Europa“ und Matteo Renzis „Italia Viva“ gebildete neue Partei „Stati Uniti d’Europa“ wird vermutlich ihre erwarteten 4 Sitze in Renew Europe eingliedern. Auch wenn die Abgeordneten der italienischen Oppositionsparteien verschiedenen Fraktionen angehören werden, ist anzunehmen, dass sie gemeinsam für eine stärkere Integration der EU, für einen Weg zum europäischen Föderalismus und verstärktes sozialpolitisches Engagement eintreten werden [14] .

Die italienischen Wähler und Wählerinnen haben traditionell ein größeres Interesse an der EU bezeugt als der Durchschnitt derjenigen in den anderen Mitgliedsstaaten. Allerdings ist auch in Italien die Wahlbeteiligung an den Europawahlen erheblich zurückgegangen, von 87% bei den ersten Wahlen im Jahr 1979, über 70% in 1999, auf zuletzt 54,5% in 2019. Im EU-Durchschnitt hingegen lag die Beteiligung stets bei bei nur etwa 50%, so auch in 2019. Auf Grund der ungewöhnlich intensiven Medienberichterstattung über die Vorbereitungsphase der Wahlen und die auf dem Spiel stehenden, auch innenpolitischen Interessen könnte die Beteiligung der italienischen Wählerschaft im Juni einen Aufwärtstrend aufweisen.       

 

[1] S. Euronews, 25.März 2024, unter Zitierung einer europaweiten Ipsos-Umfrage

[2] S. A. Magnani, Berlusconi e il rapporto con l’UE dagli sgrezi con i leader alla suggestione dell‘intesa a destra, in: Sole 24 Ore, 12.Juni 2023

[3] S. die Analyse des Programms von R. Castaldi, EurActiv 2. September 2022

[6] G. Puletti  in: Il Dubbio, 1. Februar 2024

[7] Institut Ipsos, ipsos.com/it/elezionieuropee-2024-intenzioni-di-voto-Italia, 25. März 2024

[8] S. auch den Kommentar zu dem Programm von R.Castaldi, EurAktiv, 8. September 2022

[9] Interview mit G. Orsina, Il Riformista, 23.März 2024, https://www.ilriformista.it/orsina-politica-piu-destra-ma-prassi-modera…

[10] S. auch Giulio Goria, Il Riformista, 23.März 2024

[11] S. La Repubblica, 10.März 2024

[12] „Maggioranza Ursula“: ein in italienischen Medien häufig benutzter Begriff um die besondere, für die Wahl Ursula von der Leyens zur Kommissionspräsidentin konstruierten Mehrheit  im EP 2019 zu bezeichnen, die u.a die Mitte-Links Fraktion S&D und die EVP umfasste.