Klima und Umwelt: zwischen Polarisierung, Dämonisierung und Verdrängung

Analyse

Würde die Politik beim Klimaschutz auf die Wissenschaft hören, wäre die Dekarbonisierung längst ein unumgängliches Thema über alle politischen Lager hinweg. Auch würde sie als wirtschaftliche Entwicklungsstrategie verstanden werden. Doch im Vorfeld der Europawahlen scheint sich in dieser Frage eine Spaltung abzuzeichnen - sowohl auf EU-Ebene als auch in den einzelnen Mitgliedsstaaten.

Students marching in Milan for the pre-cop26 at Fridays for Future rally. The sign in the middle says "Save the Earth, is the only place with parmigiana". Picture taken on the 1st of October in 2021. 2021-10-01
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"Save the Earth, is the only place with parmigiana".

Noch nie gab es in der Wissenschaftsgemeinschaft einen so breiten Konsens wie heute in Bezug auf die Verantwortung des Menschen für den Klimawandel und die Notwendigkeit, die Emissionen zu reduzieren, um unsere Zukunft zu sichern. Tatsächlich sind sich 99 %[1] der Wissenschaftler*innen weltweit einig, dass der Klimawandel durch menschliche Aktivitäten verursacht wird. Wenn also politisches Handeln und wissenschaftliche Erkenntnisse Hand in Hand gehen würden, müsste die Dekarbonisierung als unumgängliches Thema für alle politischen Kräfte und als eine wirtschaftliche Entwicklungsstrategie verstanden werden. Doch im Vorfeld der Europawahlen scheint sich in diesen Fragen eine politische Spaltung abzuzeichnen - sowohl auf EU-Ebene als auch in den einzelnen Mitgliedsstaaten.

In den letzten Monaten ist deutlich geworden, in welchem Ausmaß das Reden über den Klimawandel zu Debatten über Industriepolitik, Landwirtschaft, Verschuldung und die Verteilung des Wohlstands führt. Der Vorschlag des Europäischen Green Deal, der 2019 von der Von der Leyen-Kommission ausgearbeitet wurde, zeigt, dass Klimaschutzmaßnahmen nicht nur bestimmte Sektoren betreffen. Vielmehr basieren sie auf einer umfassenden sozioökonomischen Vision, die eine neue Vorstellung von Zukunft impliziert.

Beim Europäischen Green Deal handelt es sich um die umfangreichste europäische Klimastrategie seit Jahrzehnten. Seitdem wurden im Rahmen des Fit for 55-Pakets etwa zwanzig Vorschläge entwickelt, die im Europäischen Parlament eine sehr breite Unterstützung finden. Die über 400 Ja-Stimmen in fast allen Abstimmungen zu den einzelnen Maßnahmen spiegeln einen repräsentativen Konsens der politischen Kräfte wider, mit Ausnahme der radikalen Rechten (der europäischen Fraktionen ECR und ID).

Darüber hinaus ist der Green Deal auch eine Strategie für die industrielle Wettbewerbsfähigkeit: Angesichts der massiven chinesischen und amerikanischen Investitionen in Tech-Innovationen reagiert Europa mit seiner Vision einer nachhaltigen Wettbewerbsfähigkeit. Der Green Deal war seiner Zeit voraus und ermöglichte einen weitaus fortschrittlicheren Rechtsrahmen als noch vor fünf Jahren: Wir sind besser als je zuvor dafür gewappnet, auf den globalen Wettbewerb zu reagieren. Die EU-Klimapolitik führt auch dazu, dass die Rolle Brüssels bei der Beeinflussung der Politik der Mitgliedstaaten besser verstanden wird. Sie zeigt, wie wichtig europäische Verhandlungen sind. So hat sich der Bauernprotest zum Beispiel sowohl gegen die nationalen Regierungen als auch gegen Brüssel gerichtet. Den Europäer*innen scheint dadurch bewusst geworden zu sein, dass es zwei politische Ansprechpartner gibt, und dass der Einfluss der EU auf die nationale Politikgestaltung sehr wichtig ist. Verfolgt man die Klimagesetzgebung des Fit for 55-Pakets im Detail, so zeigt sich, dass die nationalen Debatten [2] sich in den verschiedenen EU-Ländern auf die Gesetze konzentrierten, deren Umsetzung ihnen jeweils am wichtigsten war: In Deutschland lag der Fokus auf Energieeffizienz; in Italien auf dem Automobilsektor und dem EU-Verkaufsverbot für Verbrennungsmotoren ab 2035. Europäische und nationale Politik haben sich schon immer gegenseitig beeinflusst, aber beim Klima ist der Zusammenhang nun besonders offensichtlich geworden.

Ein Weg voller echter Hindernisse und falscher Zweifel

Die öffentliche Politikgestaltung und die Diskussion darüber, welche Mischung aus Technologien und sektoralen Maßnahmen am besten geeignet ist, um die Klimaziele zu erreichen, ist ein gesunder demokratischer Prozess. Manchmal besteht jedoch die Gefahr der Instrumentalisierung, um Gesetzgebungsverfahren und wirtschaftliche Veränderungen zu verzögern. Was das Klima betrifft, so waren in der Vergangenheit Teile der Gesellschaft und folglich auch manche Politiker*innen offene Klimaleugner*innen, doch angesichts der fast vollständigen Einigkeit unter den Klimaforschern*innen, dass es kein Zurück mehr gibt, sind sie dazu übergegangen, den Wandel verlangsamen zu wollen.

Hinter den Zweifeln und Fragen, wie man dem Klimawandel am besten begegnen soll, verbergen sich oft Interessenkonflikte. Das ist sehr gefährlich, weil diese Narrative die öffentliche Debatte polarisieren, was zu Untätigkeit und einem daraus resultierenden Verlust der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft führen kann.

In den letzten Monaten konnten wir in ganz Europa beobachten, wie sehr die Klimadebatte im Zentrum des „politischen Gerangels” und der Diskussion zwischen progressiven und konservativen Kräften steht. Eines der markantesten Beispiele dafür ist das Gesetz zur Wiederherstellung der Natur, das zu einer beträchtlichen Ausweitung der Schutzgebiete führen könnte. Mit dem Gesetz soll darauf reagiert werden, dass mittlerweile 80 % der Ökosysteme in der EU, von denen das reibungslose Funktionieren unserer Wirtschaft und Gesellschaft abhängt, in einem schlechten Zustand sind. Nach einem schwierigen Weg durch das Europaparlament, an dessen Ende die Verordnung im Sommer 2023 mit einer knappen Mehrheit von 12 Stimmen angenommen wurde, befindet sich das Gesetzgebungsverfahren jetzt, kurz vor den Europawahlen, in der Schwebe.

Andere Beispiele zeigen ebenfalls sehr deutlich, dass das, was in Europa verhandelt wird, derzeit oft blockiert wird und daher neu diskutiert werden muss, was zu großer Unsicherheit auf den Märkten und für die Beschäftigten führt. Dies gilt für den Verkaufsstopp von Autos mit Verbrennungsmotoren ab 2035 oder die CSDDD (Corporate Sustainability Due Diligence Directive), die von den Unternehmen die Einhaltung von Umweltstandards in der gesamten Produktionskette und die Aufstellung verbindlicher Dekarbonisierungspläne für Großunternehmen fordert.

Obwohl diese Gesetze verabschiedet wurden, herrscht noch immer ein Gefühl der Unsicherheit bezüglich ihrer Umsetzung, was den Unternehmen und folglich auch den Arbeitnehmer*innen schadet. Normalerweise ist die endgültige Verabschiedung in Brüssel nach intensiven Verhandlungen zwischen Kommission, Parlament und Rat (Trilog) ein rein formaler Schritt. Heute hingegen werden die Fristen, insbesondere bei der Gesetzgebung zur Energiewende, immer länger. Bürger*innen, Unternehmen und Investor*innen stecken in einer unsicheren Warteschleife, was zu einer Pattsituation führt, die der Wirtschaft gar nicht gut tut.

Nicht nur in Europa streitet man über Klimafragen, auch in Italien hat die Polarisierung der Politik in der Debatte über die Energiewende stark zugenommen. Wie immer verschärft sich der Konflikt auch, weil diese komplexen Themen nicht komplex genug diskutiert werden. Die Debatte beschränkt sich auf Slogans, und weder in der Politik noch in den Medien gibt es Raum für eine kulturelle Auseinandersetzung mit diesen Themen, was hier natürlich besonders wichtig wäre.

So standen die für Italiens Umweltpolitik grundlegende Konferenz von Dubai (COP28) oder der Italien-Afrika Gipfel und der damit verbundene Mattei-Plan in den letzten Monaten keineswegs im Zentrum der politischen und kulturellen Debatte. Ein schlechtes Zeichen, schließlich geht es hier nicht nur um Klimapolitik, sondern auch um Industrieplanung, Außenpolitik, die Arbeitswelt, kurz gesagt, um die Rolle Italiens und Europas im internationalen Wirtschaftsgefüge.

Ein feindliches Klima

Mittlerweile ist das Klima zum politischen Schlachtfeld geworden, auch wenn immer weniger darüber gesprochen wird. Die Bewegungen, die sich in den letzten Jahren für Klimaschutz und mehr Austausch darüber eingesetzt haben, leiden vor allem in Italien unter immer stärkeren Repressionen. Die jüngste Gesetzesverordnung etwa, die sogenannte „Öko-Vandalen-Gesetzesverordnung“ [3], sieht deutlich höhere Strafen für die Verunstaltung und Zerstörung öffentlichen Eigentums vor, nämlich Geldstrafen von bis zu 40.000 Euro und Freiheitsstrafen von 1 bis 5 Jahren.

Wie sehr man sich auch über den Wert und die Angemessenheit bestimmter Aktionen uneinig sein mag, so steht doch außer Frage, dass repressive Maßnahmen den Dialog und die Schaffung von Diskussionsräumen nicht fördern. Ironischerweise haben sich die Befürworter*innen dieser repressiven Vorschriften nur wenige Monate später angesichts der Proteste der Landwirt*innen wieder von ihnen distanziert. Sie haben die Erfahrung gemacht, dass die öffentliche Meinung und die der Gesetzgeber*innen sich ändern, je nachdem, mit welchen Gesprächspartner*innen sie es zu tun haben. Wichtig ist, dass allen Protesten die Forderung nach einem strukturierten politischen Vorschlag zugrunde liegt, der sowohl das Wohl der Menschen als auch die positive Entwicklung bestimmter Sektoren im Auge behält.

Die Forderung nach offensiverem Handeln und einer Beschleunigung der Klimapolitik kommt auch auf andere Weise zum Ausdruck, was auch daran liegt, dass Informationen über den Klimawandel in Europa immer häufiger ausgetauscht werden. In den letzten Jahren gab es in Italien und in ganz Europa eine beträchtliche Anzahl von Klimaklagen. Die erste dieser Art in Italien war eine von der Vereinigung Giudizio Universale eingereichte Zivilklage gegen den Staat, weil dieser zu langsam bei der Bewältigung der Energiewende vorgeht. Die von über 200 Personen unterzeichnete Klage wurde jedoch wegen mangelnder Zuständigkeit für unzulässig erklärt. Das Beispiel zeigt, dass es in der italienischen Rechtsordnung bisher keine Strafgesetze gibt (wie es ein Klimarahmengesetz ermöglichen könnte), die es den Bürger*innen erlauben, ihre auf europäischer und internationaler Ebene garantierten Rechte zum Klimaschutz einzuklagen. Allerdings gibt es in fast allen westeuropäischen Ländern Klimagesetze [4 ], die eine Harmonisierung aller politischen Entscheidungen erlauben - angefangen bei der Industrie-, Sozial- und Arbeitspolitik -, um die Klimaziele zu erreichen. In Deutschland hat dies unter anderem zu einer Aktualisierung der Klimaschutzgesetze geführt, die der Dringlichkeit der wissenschaftlichen Erkenntnisse angepasst wurden.

Doch nicht nur der Staat, sondern auch große Unternehmen geraten immer öfter ins Visier, wenn es um die Einhaltung der Klimaschutzziele geht. So sieht sich der italienische Öl- und Gasriese Eni (dessen Mehrheitsaktionär der italienische Staat ist), derzeit mit einer Klage [5] konfrontiert, in der es um die Diskrepanz zwischen den Klimazielen und den kurz- bis mittelfristigen Investitionsplänen des Unternehmens geht. Unabhängig vom Ausgang dieser Klagen verdeutlicht diese Dynamik die dringende Notwendigkeit, das Thema Klima auf komplexere Weise anzugehen und alle Beteiligten an einen Tisch zu bringen. Die Unternehmen sind jedoch nicht immer dialogbereit, wie die steigende Zahl der sogenannten SLAPP-Klagen zeigt, durch die als "feindlich" eingestufte Klimaschutzorganisationen und Aktivist*innen zum Schweigen gebracht werden sollen [6].

Solche Auseinandersetzungen sind jedoch nur ein Teil der Geschichte, in der es durchaus auch Fortschritte gibt. Seit 2022 heißt es etwa in der italienischen Verfassung: „Die Republik schützt die Umwelt, die Artenvielfalt und die Ökosysteme - auch im Interesse der künftigen Generationen.” Diese historische Änderung des Grundgesetzes zeigt, dass der Klimaschutz zunehmend auf der politischen und zivilgesellschaftlichen Agenda steht und Innovationen möglich sind, die noch vor wenigen Jahren undenkbar waren. Die strukturellen Auswirkungen dieser Verfassungsänderung sind zwar noch nicht abzuschätzen, aber es ist ein großer Schritt hin zur Anerkennung der Bedeutung dieser Themen, die bis vor einigen Jahren bloß Randthemen waren.

Auch ganz „konkret” macht Italien Fortschritte beim Ausbau erneuerbarer Energien: fast 6 GW im Jahr 2023 konnten so produziert werden, doppelt so viel wie im Vorjahr, was den auf europäischer Ebene eingegangenen Verpflichtungen (etwa 8 GW pro Jahr) nahe kommt. Auch in den Schlüsselsektoren der Energiewende steht Italien an vorderster Front. Italien ist zum Beispiel das Land in Europa, das am meisten Stahl aus Recyclingmaterial herstellt.

Lässt man einmal die Rhetorik der Wahlkampagne beiseite, so sieht man, dass die italienische Regierung in Europa fast immer für erneuerbare Energien, Energieeffizienz und Green-Deal-Ziele gestimmt hat. Bei 13 öffentlichen Abstimmungen über europäische Klimagesetze im Rahmen des Fit-for-55-Pakets hat sich Italien nur einmal der Stimme enthalten. Angesichts der großen Zahl italienischer Parlamentarier*innen in Brüssel könnte Italien zum Zünglein an der Waage werden, wenn es darum geht, die Zusammensetzung der neuen Europäischen Kommission zu bestimmen und festzulegen, wie die EU den Green Deal weiterverfolgen wird.

Wahlprognosen zufolge ist mit einem Erstarken der europäischen Rechtsparteien zu rechnen, was ein Überdenken der EU-Prioritäten zur Folge haben wird. Im Jahr 2019 wurde das Klima als dritte von vier Prioritäten aufgeführt, was sich im Green Deal und der Widmung von 40 Prozent der Investitionen der nationalen Konjunktur- und Resilienzpläne (NRP) für die Energiewende niederschlug. Ob das Thema Klima in den kommenden fünf Jahren auch weiter auf der europäischen Agenda stehen wird, hängt auch vom italienischen Votum ab.

Dieses Jahr haben vier Milliarden Menschen weltweit die Möglichkeit, zur Wahl zu gehen. Wir stehen damit regelrecht an einem Scheideweg der Geschichte. In einem solchen Moment und angesichts der vielfältigen Facetten und Auslegungen der Realität besteht die beste Lösung darin, sich gegen Vereinfachungen zu wehren und den Klimaschutz in seiner ganzen Komplexität ins Zentrum der öffentlichen und politischen Debatte zu stellen - so wie es dieses wichtige Thema verdient!


[1] Mark Lynas et al. (2021, 19. Oktober)  Greater than 99% consensus on human caused climate change in the peer-reviewed scientific literature. Environmental Research Letters https://iopscience.iop.org/article/10.1088/1748-9326/ac2966

(Über 99 % Konsens über den vom Menschen verursachten Klimawandel in der von Fachleuten überprüften wissenschaftlichen Literatur.)  

[2] Mathiesen K, Camut N, Weise Z., Cooper C.,Guillot L. (2024, 22. Februar) Bears, cars and angry farmers fuel green backlash. Politico  https://www.politico.eu/article/bears-cars-angry-farmers-fuel-green-deal-backlash-eu-agenda-european-commission-ursula-von-der-leyen/.

(Bären, Autos und wütende Landwirt*innen heizen die

[3] Algostino A. (2024, 20. Januar) Ddl «eco-vandali»: l’egemonia della sicurezza contro la democrazia   https://ilmanifesto.it/ddl-eco-vandali-legemonia-della-sicurezza-contro-la-democrazia

(„Öko-Vandalen-Gesetzesverordnung”: die Hegemonie der Sicherheit gegen die Demokratie)  

[4] Giulia Colafrancesco G, Di Mambro C.(2023, 20, Januar) Una governance per il clima in Italia: Quali elementi per una legge quadro per il clima

 https://eccoclimate.org/it/una-governance-per-il-clima-in-italia/

(Klima-Governance in Italien: Welche Elemente für ein Klima-Rahmengesetz?)

[5] Greenpeace Italien (2023, 9. Mai)  Causa civile contro ENI presentata da Greenpeace Italia, ReCommon e 12 cittadine e cittadini italiani: «L’operato della società peggiora la crisi climatica e viola i diritti umani»

 https://www.greenpeace.org/italy/comunicato-stampa/17743/causa-civile-contro-eni-presentata-da-greenpeace-italia-recommon-e-12-cittadine-e-cittadini-italiani-loperato-della-societa-peggiora-la-crisi-climatica-e-viola-i-diritti-umani/

(Zivilklage gegen ENI, eingereicht von Greenpeace Italien, ReCommon und 12 italienischen Bürgern: „Die Aktionen des Unternehmens verschärfen die Klimakrise und verletzen die Menschenrechte”)

[6] Greenpeace Italien (2024, 15. Februar) l 16 febbraio c’è la prima udienza contro ENI https://www.greenpeace.org/italy/storia/21406/il-16-febbraio-ce-la-prima-udienza-contro-eni/

(Erste Gerichtsverhandlung gegen ENI am 16. Februar)

 


Übersetzt von Katja Petrovic | Voxeurop