Zwischen Steuerhinterziehung, Bauprämien und Arbeitslosigkeit schrumpft das chronische öffentliche Defizit Italiens trotz der triumphalen Erklärungen von Giorgia Meloni kaum. Eine Analyse der sozioökonomischen Situation unter der Regierung Meloni.
Stolze Zahlen im Luxushotel
Cernobbio ist ein kleiner Ort am Comer See, bekannt vor allem durch sein historisches Hotel „Villa d’Este“. Dort haben im September zum 50.Mal Wirtschaftsführer, Politiker und Ökonomen aus vielen Ländern bei dem jährlichen Treffen des „The European House-Ambrosetti“ (TEHA) die gegenwärtige Weltlage diskutiert, vor allem unter dem Gesichtspunkt der ökonomischen Entwicklung. Die italienische Ministerpräsidentin Georgia Meloni hat mit Stolz die Errungenschaften während der zwei Jahre ihrer Regierung präsentiert, angefangen mit dem Zauberwort „Wachstum“.
Das italienische Bruttoinlandsprodukt (BIP) wird in diesem Jahr um 1% steigen, nachdem schon 2023 ein Anstieg von 0,9% erzielt wurde. Laut Meloni „wächst Italien mehr als die anderen großen Nationen Europas“[1]. Dabei wird nicht gesagt, dass das Wachstum in Italien dem Mittelwert der EU-Ländern entspricht, dass Spanien vor Italien liegt und dass nur Deutschland wesentlich schlechter abschneidet. Vor allem ist Meloni elegant über die Tatsache hinweggegangen, dass der BIP-Anstieg zu gutem Teil der Finanzspritze des EU-Programms „Next Generation Europe“ zuzuschreiben ist, von dem Italien mit Abstand der größte Nutznießer ist.
Der im Frühjahr 2021, in Ausführung des Programms noch unter der Regierung von Mario Draghi, verabschiedete „Nationale Plan für Resilienz und Wiederaufschwung“[2] (PNRR) sieht bis Ende 2026 Zahlungen seitens der EU von 194,4 Milliarden Euro vor, davon 122,6 Milliarden in Form von Krediten. Für 2024 werden die Zahlungen aus dem Plan 0,9% des BIP entsprechen – also fast dem gesamten vorhergesehenen Wachtsum.
„Italien hat die beste Performance in der EU hinsichtlich der bereits jetzt erzielten Erreichung der mit der Europäischen Kommission vereinbarten Ziele des Programms, nämlich 37%“, sagte Meloni in Cernobbio. In Wahrheit haben fünf andere Mitgliedsstaaten eine bessere Performance[3]. Von vielen Seiten wird eine Beschleunigung der Durchführung des Plans angemahnt und sogar die Befürchtung ausgesprochen, Italien würde am Ende Gelder zurückerstatten müssen[4].Von für 2024 vorgesehenen 40 Milliarden Ausgaben sind bis Mitte Juli nur ein Viertel tatsächlich verwendet worden. Schaut man sich die Implementation des in sieben Kapiteln unterteilten Planes näher an, fällt auf, dass für den Energiebereich (RepowerEU) bisher gar nichts geschehen ist, und dass für die Gesundheitsversorgung nur 12% der vorgesehen Mittel von 16,6 Milliarden Euro verwendet worden sind[5].
Die Vorsitzende der Partito Democratico (PD), Elly Schlein, ebenfalls in Cernobbio vertreten, hat daran erinnert, dass gute Freunde von Meloni wie Victor Orban oder Geert Wilders seinerzeit gegen „New Generation Europe“ Sturm gelaufen sind, und dass es Melonis Vorgänger Mario Draghi war, der im Frühjahr 2021 das gewaltige Finanzvolumen für Italien ausgehandelt hat. Schlein möchte aber die gegenwärtige Wirtschaftslage nicht düsterer malen als sie ist und erkennt durchaus das Wachstum an. Italien ist, wie Meloni herausgehoben hat, der zweitgrößte EU-Mitgliedsstaat in Bezug auf die industrielle Produktion, und weltweit, nach China, USA und Deutschland, der viertgrößte Exporteur[6]. Allerdings, von Meloni nicht erwähnt, sind im 1. Halbjahr 2024 die Ausfuhren um 1,1% gegenüber dem ersten Halbjahr 2023 gefallen. Besorgt zeigt sich Schlein darüber, wie es mit Italien weitergehen soll, sobald die Geldflüsse aus Brüssel nicht mehr fließen werden, also ab 2028[7]. Denn an der dramatischen Staatsverschuldung hat sich nichts geändert, im Gegenteil. Der PNRR erhöht die Schulden noch weiter.
Das schwarze Loch
Die Verschuldung der öffentlichen Haushalte, 2,948 Billionen Euro in 2024, wird 2027 die Drei-Billionen-Marke überschreiten. Die Neuverschuldung in 2024 macht 4,3% des BIP aus. Die Gesamtbelastung hat Ende 2023 mit 137,3% bei weitem das gesamte jährliche BIP-Volumen überstiegen. Das ist allerdings schon seit 1990 der Fall, aber seitdem sind die Schulden von Jahr zu Jahr beinahe konstant gestiegen. Im Vergleich: die deutsche Gesamtverschuldung beläuft sich auf 2,636 Billionen Euro, 63,4% des BIP 2023, also erheblich weniger als in Italien, das aber eine viel geringere Wirtschaftskraft und wenig mehr als zwei Drittel der deutschen Bevölkerung hat.
Es handelt sich bei der Verschuldung nicht allein, wie häufig gesagt wird, um eine „Belastung der kommenden Generationen“, sondern, wegen der Zinslast, um einen ganz gegenwärtigen Schwund im jährlichen Haushalt. In 2024 muss Italien 84,7 Milliarden Euro Zinsen zahlen, im Jahr 2027 werden es voraussichtlich über 100 Milliarden sein. Das übersteigt bei weitem die jährlichen Ausgaben für Erziehung und Ausbildung. Das „schwarzen Loch“ verschlingt etwa 9% der gesamten jährlichen Einnahmen[8].
Die Gründe für die über Jahrzehnte aufgehäufte Schuldenmasse – in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts hielt sich die Belastung konstant um 35% des BIP - sind vielfältig und sicher nicht ausschließlich dieser oder jener Regierung zuzuschreiben. Gleichwohl muss sich jede Regierung fragen lassen, was sie getan hat, dass die Schulden weiter gestiegen sind, und was sie nicht getan hat, um den Schuldenberg abzutragen. Zu den strukturellen Gründen zählen, unter anderem, der demographische Schwund, also die Überalterung und die entsprechenden Mehrkosten bei den Sozialhaushalten und der Gesundheitsversorgung. Eines der Mittel der Gegensteuerung wäre eine verstärkte Arbeitsimmigration. Seit Jahren ist die Zahl der Einwander*innen in Italien aber gleichbleibend bei 5 Millionen, davon ein Drittel aus anderen EU-Ländern. Eine erklärtermaßen migrationsfeindliche Regierung wie die gegenwärtige erscheint nicht geeignet, dem Abhilfe zu leisten.
Andere strukturelle Ursachen sind die endemische Steuerhinterziehung sowie die illegale Beschäftigung. Nach den letzten verfügbaren, auf das Jahr 2021 bezogenen Schätzungen gehen durch falsche Steuererklärungen jährlich über 83 Milliarden Euro verloren, 11% der Gesamteinnahmen[9]. Noch gravierender ist der „schwarze Arbeitsmarkt“, in dem etwa 3 Millionen Personen beschäftigt werden. Der Gesamtverlust für den Staat entspricht mit 192 Milliarden Euro 10,5% des BIP[10] Die Lawine von Gesetzen der rechten Regierungen der letzten Jahre - über Steuernachlässe, Steuer-„Amnestien“, gütliche Bereinigung von illegalen Baumaßnahmen usw. - sind ebenso wenig Ansporn, die Steuermoral zu erhöhen, wie die vor allem von der Lega unter Matteo Salvini vorangetriebene flat tax für Selbständige.
Zur Erhöhung des Defizits in den letzten Jahren haben außerdem die verschiedenen massiven Subventionsprogramme für das Bauwesen beigetragen.
Der „Superbonus“ für Hausbesitzer – 160 Milliarden Euro
Um Abhilfe für die durch die Covid-19 entstandene Wirtschaftskrise zu schaffen, hat die zweite Regierung von Giuseppe Conte schon im Mai 2020 den „Ecobonus“ eingeführt, gemeinhin „Superbonus“ oder „110 Prozent Mechanismus“ genannt. Demnach werden Wohnungs-und Hausbesitzern für energieeinsparende oder erdbebensichere Bauvorhaben die gesamten Kosten, einschließlich Zinsen (110%), vom Staat zurückerstattet - in Form von Abschreibungen in der Steuererklärung über 5 Jahre. Um den Anreiz noch zu erhöhen, wurde per Gesetz ermöglicht, den Steuerkredit gegenüber dem Staat an Kreditunternehmen abzutreten. Eine geniale Idee: der Hausbesitzer braucht gar nichts zu zahlen, denn die beauftragte Baufirma wird von der Bank entlohnt, die ihrerseits das Geld in fünf Jahresraten vom Staat bekommt, natürlich mit Zinsen, die von der Subvention mitabgedeckt sind. Und alle sind froh: die Hausbesitzer, denn sie bekommen kostenlos eine Aufwertung ihres Eigentums und sparen Energiekosten. Die Bauunternehmen, die in einen Boom steuern und sich nicht mit säumigen Kunden abgeben müssen. Die Banken, denn sie verdienen daran, und der Staat ist normalerweise ein pünktlicher Schuldner. Der Staat präsentiert gegenüber der Europäischen Kommission ein Umweltschutz-und Eneriieeinsparungsprogramm, und kann auf Verständnis dafür rechnen, dass der Schuldenberg erneut anwächst. Und auch die Gewerkschaften sind froh, denn insgesamt wurden eine Million neue Arbeitsplätze geschaffen. Schließlich kann auch die jeweilige Opposition im Parlament nichts einwenden, denn das Ganze dient nicht zuletzt dem Kampf gegen die Klimakatastrophe. In der Tat wurde das erste Subventionsgesetz, im Jahr 2021, von fast allen Parteien unterstützt.
Die Kosten für den Superbonus waren anfangs auf 35 Milliarden Euro berechnet, und die Maßnahme sollte Ende 2021 auslaufen. Dann wurde sie von der Draghi-Regierung verlängert bis 2022, und schließlich von der Meloni-Regierung, allerdings mit erheblichen Veränderungen, bis 2025 fortgeführt. Die Gesamtkosten wurden im April 2024 auf 160 Milliarden Euro geschätzt. Davon sind 14 Milliarden Euro vom PNRR abgedeckt. Um die Kosten nicht weiter explodieren zu lassen, hat die jetzige Regierung die Kreditabtretung unterbunden und die staatlichen Zuwendungen für 2024 auf 70%, in 2025 auf 65% gedrückt.
Eine der vielen Kritikpunkte am Superbonus betrifft die Tatsache, dass der wirtschaftlich ohnehin besser gestellte Teil der Bevölkerung, nämlich die Haus-und Wohnungseigentümer, der wesentliche Nutznießer ist, während alle Steuerzahler am Ende die Kosten tragen müssen.
Jeder Zehnte in absoluter Armut
Die absolute Armut in Italien war noch nie so hoch wie jetzt. Der letzte Caritas Bericht über die soziale Lage des Landes[11], der weitgehend auf den Zahlen des staatlichen Statistischen Büros ISTAT beruht, weist aus, dass 9,8% der Bevölkerung, 5,75 Millionen Menschen, nicht über das Minimum für ein würdiges Leben verfügen, also ausreichend Zugang zu Essen, Kleidung, Wohnung und Gesundheitsversorgung haben. Dies ist die Definition für „absolute Armut“. Im Jahr 2019 fielen „nur“ 7,8% der Einwohner in diese Kategorie. ISTAT beobachtet vor Allem einen Anstieg im Norden sowie bei den Minderjährigen, von denen 14%, d.h.1,3 Millionen Menschen, betroffen sind.
Weit höher noch ist die Zahl derjenigen, bei denen es ein konkretes Risiko gibt, in Armut und soziale Ausgrenzung zu fallen: 13,4 Millionen Bewohner, fast 23% der Gesamtbevölkerung. Im Süden sogar 39% der Bevölkerung betroffen, wobei allerdings die Zahl gegenüber den Vorjahren leicht gesunken ist, u.a. auf Grund des – mittlerweile von der Meloni-Regierung reduzierten - Bürgergelds, „reddito di cittadinanza“.
Im Vergleich zu Deutschland könnte es auf den ersten Blick erscheinen, dass Italien noch gut dasteht. In der Bundesrepublik befanden sich in 2023 über 21% der Bevölkerung in Armutsgefahr. Nur wird dort „Armut“ anders definiert: wer, als Alleinstehender, weniger als 1.300 Euro im Monat zur Verfügung hat. Von 1.300 Euro können viele Millionen Menschen in Italien nur träumen. Um nur von der älteren Personengruppe zu sprechen: 3 Millionen Rentnerinnen und Rentner von insgesamt 17 Millionen, also etwa 17%, verfügen über weniger als 1000 Euro im Monat.
Der Konsum der Familien ist gegenüber 2014 inflationsbereinigt um über 10% gesunken. Das betrifft in erster Linie das letzte Fünftel der Einkommensskala; im ersten Fünftel hat es einen Anstieg gegeben. Wie Schlein in Cernobbio sagte, sind die realen, d.h. inflationsbereinigten Löhne und Gehälter seit 1990 nicht mehr gestiegen. Zwar ist die Arbeitslosigkeit in 2024 mit 6,5% auf einem relativen Niedrigstand, aber sie ist weitaus höher in Süditalien und ist landesweit in der Altersgruppe von 18-30 Jahren angestiegen. Meloni hat in Cernobbio herausgestrichen, dass die Beschäftigung von Frauen gestiegen ist. Sie liegt aber nach wie vor mit 52% der arbeitsfähigen weiblichen Bevölkerung auf einer der letzten Stellen im europäischen Vergleich. Überdies verdienen Frauen in Italien im Durchschnitt 15% weniger als Männer, und nur 21% der leitenden Angestellten und höheren Beamten sind Frauen.
Meloni stellt den wirtschaftlichen Aufschwung nach der Corona-Krise und insbesondere unter ihrer Regierung heraus, in Cernobbio sogar in triumphalen Tönen. Die aufgezeigten Zahlen aber belegen, wie die Realität eines großen Teils der Bewohner aussieht, ihre Alltäglichkeit. Da gibt es wenig zu bejubeln. „Italians first“ -na gut, aber wenn es dabei nur um das oberste Fünftel der Bevölkerung geht, sind Zweifel angesagt. Die Opposition, allen voran die PD, täte gut, sich ein bisschen weniger um die Intrigen und Skandale des „Palazzo“ der politischen Macht zu bekümmern, und mehr um die Vorstädte, das Hinterland, die Dörfer und kleinen Städte, in denen die Wahlen entschieden werden. Die schleichende Verarmung, der soziale Missstand, die Politikverdrossenheit – das sind die Brunnen, aus denen der Populismus trinkt, ohne wirklich Lösungen präsentieren zu können. Die Lösungen muss die Opposition vorstellen, realistisch und glaubwürdig. Aber dafür muss sie mehr dorthin gehen, wo die große Unzufriedenheit mit dem Status-Quo anzutreffen ist.
[1] Für alle Zitate: https://www.governo.it/it/articolo/il-presidente-meloni-interviene-al-f…
[2] “Piano Nazionale di Resilienza e Ripresa “, PNRR
[3] https://pagellapolitica.it/articoli/fact-checking-giorgia-meloni-cernobbio
[4] https://www.openpolis.it/i-dati-sulla-spesa-ci-dicono-che-sul-pnrr-siam…
[5] Corte dei Conti, Relazione sullo stato di attuazione PNRR, Mai 2024, https://www.corteconti.it/HOME/StampaMedia/Notizie/DettaglioNotizia?Id=…
[6] Nach anderen Berechnungen, die die Währungsunterschiede berücksichtigen, ist Italien auif 6. Stelle.
[7] Elly Schlein, 50° Meeting TEHA, https://www.youtube.com/watch?v=FM99wPGMUQk
[8] Alle Daten aus „La Repubblica“, Beilage „Affari e Finanze“, 9.September 2024
[9]https://www.ilsole24ore.com/art/mancano-all-appello-oltre-83-miliardi-t…
[10] https://www.istat.it/it/files/2023/10/Report-ECONOMIA-NON-OSSERVATA-202…
[11] La Povertä in Italia, Report Statistico Nazionale 2024, Juli 2024