Nach der Bundestagswahl 2025: Kompromissfähigkeit unter Demokraten erhalten

Kommentar
Die Grünen gehen trotz Verlusten relativ stabil aus der Wahl. Politische Willensbildung innerhalb und außerhalb von Parteien muss sich neu aufstellen. Demokratische Parteien müssen untereinander kompromissfähig bleiben, um ihrer Verantwortung für die politische Ordnung in Deutschland und darüber hinaus gerecht zu werden.
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Ein Gebäudeturm des Reichstags in Berlin mit wehender deutscher Flagge. Am Himmel kreuzen sich zwei Kondensstreifen.

I. Niedergang der alten Volksparteien und Stärkung der Ränder schreitet fort.

Die Mitte des demokratischen Parteienspektrums schrumpft; wie in anderen westlichen Ländern auch gehen die Ränder aus dieser Bundestagswahl gestärkt hervor. 

  • Die CDU/CSU ist zwar mit den meisten Stimmen durchs Ziel gegangen, doch weit niedriger als selbst erhofft und noch Mitte Januar erwartet, und von den Erfolgen Angela Merkels weit entfernt. Die Union mit dem Volkspartei-Anspruch ist zudem intern zutiefst zerstritten unter anderem über die Bereitschaft, mit offen verfassungsfeindlichen Akteuren im Inland zu kooperieren. Auch für den Umgang mit autoritären bis totalitären Regimen gibt es in Teilen der Union bis in die Spitze Unklarheiten, die bei der Partei von Adenauer und Kohl erstaunen müssen. Inhaltlich bleibt die Union vage; zu grundlegenden Herausforderungen wie der Transformation zu einer klimaneutralen Wirtschaft in Deutschland und Europa liefert sie allenfalls widersprüchliche Antworten, bei der Finanzierung ihrer Vorhaben klaffen riesige Lücken. Dass die Union und vor allem ihr Spitzenkandidat bis zu allerletzt auf Polarisierung gesetzt haben, mag ihr vielleicht temporär einzelne zusätzliche Stimmen gebracht haben, mit Blick auf notwendige Koalitionsbildungen könnte sich diese kategoriale Abkehr vom früheren Motto „Maß und Mitte“ als fatal erweisen.
     
  • Die Sozialdemokratie hat ihr schlechtestes Ergebnis seit 1887 eingefahren. Dieses Ergebnis liegt im Trend sozialdemokratischer Parteien in Europa; die klassischen sozialdemokratischen Milieus verflüchtigen sich. Die fast ununterbrochene Regierungsbeteiligung der SPD seit 1998 macht es zunehmend schwierig, sich von Fehlentwicklungen zu distanzieren und zugleich den Anspruch auf Reformen aufrechtzuerhalten. Olaf Scholz verkörpert nahezu idealtypisch die Unklarheit über das Profil der SPD 2025.
     
  • Ob sich die FDP von ihrem zweiten Aus nach 2013 noch einmal erholen kann, ist ungewiss. Diese Partei und ihr Chef stehen sinnbildlich für das Scheitern der Ampel: Wichtige, nach schwierigen Verhandlungen errungene Kompromisse wurden wiederholt nach wenigen Stunden FDP-seitig wieder in Frage gestellt. So kann Politik keine Akzeptanz erreichen.
     
  • Dass sich nach langer Agonie die Linke gegenüber dem BSW durchgesetzt hat, scheint vordergründig eine gute Nachricht. Nun muss die Linke auch materiell zeigen, dass sie in Gesamtverantwortung für Europa agieren kann, das heißt zum Beispiel handfeste Solidarität mit Überfallenen gegen Aggressoren zu zeigen. 
     
  • Die Zugewinne der AfD sind Ausdruck einer fortschreitenden Radikalisierung von traditionell Mitte-Rechts, die eine Anti-System-Haltung bestärkt. Sinnbildlich dafür ist der Jubel der AfD-Fraktion am 29. Januar im Bundestag, als ein von der Union eingebrachter Antrag mit AfD-Ideen und -Diktion eine Mehrheit erhielt.

Die hohe Wahlbeteiligung spiegelt die starke Verunsicherung in weiten Teilen der Gesellschaft und daher das verstärkte Interesse an Beteiligung wider. Es bleibt aber festzuhalten, dass das Ergebnis nicht als Sieg einer Partei oder einer Strömung gewertet werden kann.

II. Attacken im Abseits: Beharrliche Politik und gesellschaftliche Verbreiterung bei Bündnis 90/Die Grünen

Bündnis 90/Die Grünen haben zwar prozentual verloren (11,6 Prozent nach 14,8 Prozent), sind aber nach der extrem unpopulären Ampel-Regierung im Vergleich zu SPD und FDP noch mit einem blauen Auge davongekommen. In Absolutzahlen gegenüber 6.847.712 (2021) nun 5.761.476 (2025) Stimmen.

Nach wie vor ist die grüne politische Programmatik und Orientierung Maßstab für fachliche politische Debatten in vielen Politikfeldern, in denen es um Veränderungen und Weiterentwicklungen in der Zukunft geht. Da gab es Versuche, grüne Reformideen wie Bäume zu umarmen, die aber schnell als schlechtes Plagiat oder als zweitbeste Lösungen ertappt wurden. Seit vor der Bundestagswahl 2021 werden in der politischen Öffentlichkeit aus dem publizistischen Umfeld von CDU/CSU, FDP und Freien Wählern – von der AfD ganz zu schweigen – grüne Politikansätze, grüne Politiker*innen und die Partei als Ganzes in einer Weise verunglimpft, dass die persönlichen, mitunter körperlichen Angriffe auf grüne Politiker*innen und grüne Büros deutlich zugenommen haben. Das Feindbild „Die Grünen“ ersparte der Konkurrenz, sich inhaltlich mit grünen Politikansätzen auseinanderzusetzen. Genau darin liegt vermutlich auch der Sinn dieser Attacken. Das erweiterte Wähler*innenpotenzial, also die Zahl derer, die sich die Wahl der Grünen prinzipiell vorstellen können, war zwischen 2020 und 2023 deutlich gesunken. Umgekehrt war der Anteil derer, die angaben, auf keinen Fall Grüne wählen zu wollen, stark gewachsen.

Gegenüber einem Tiefpunkt im Sommer 2024, der sich in Europawahl, Kommunalwahlen und einigen Landtagswahlen niederschlug, sind Bündnis 90/Die Grünen trotz scharfem Gegenwind relativ stabil aus der Ampel gekommen.

Bündnis 90/Die Grünen ist es noch nicht gelungen, außerhalb der klassischen grün-nahen Milieus die Definitionshoheit über das eigene Image, das sie bei der Europawahl 2019 bis hin zu der Bundestagswahl 2021 noch hatte, wiederzuerlangen. Mit seiner persönlichen Popularität und seinem glaubwürdigen Bemühen um eine respektvolle Kommunikation auf Augenhöhe, die im Gegenüber stets das Menschliche sieht, hat Robert Habeck es aber geschafft, entstandene Verhärtungen in Ansätzen aufzubrechen. Gegenüber einem Tiefpunkt im Sommer 2024, der sich in Europawahl, Kommunalwahlen und einigen Landtagswahlen niederschlug, sind Bündnis 90/Die Grünen trotz scharfem Gegenwind relativ stabil aus der Ampel gekommen. 

Gerade der Kontrast zwischen Hetzattacken hier und zugewandter Kommunikation dort, hat zu einem bis dahin ungekannten Solidarisierungseffekt geführt, der die Zahl der grünen Mitglieder bis zur Bundestagswahl auf nahezu 170.000 ansteigen ließ. Mit etwa 42.000 Personen war allein ein Viertel der Mitglieder in den drei Monaten seit dem Bruch der Ampel-Koalition im November 2024 beigetreten. Sachsen ist seit Kurzem nun das erste Bundesland, in dem die Grünen mehr Mitglieder haben als die SPD. Dies könnte tatsächlich ein historischer Kipp-Punkt sein. Ob ein späterer Wahltermin oder ein längerer Wahlkampf ein stärkeres Ausgreifen auf weitere Milieus ermöglicht hätte, bleibt offen. 

Wären Bündnis 90/Die Grünen an einem kritischen Punkt manchen Aufforderungen gefolgt und hätten eine Koalition mit der Union prinzipiell ausgeschlossen, wären mutmaßlich deutlich weniger Wähler*innen zur Linken abgewandert. Eine Verantwortung gegenüber den Menschen in diesem Land und auch für Europa macht allerdings die prinzipielle Bereitschaft zu gemeinsamer Regierungsverantwortung mit demokratischen Kräften erforderlich. Das Verlangen, keine Kompromisse mit anderen demokratischen Kräften schließen zu wollen und somit scheinbar eine weiße Weste behalten zu können, käme der Flucht aus der Verantwortung gleich. 

Um als Partei Bündnis 90/Die Grünen in der Zukunft mit starkem Gestaltungsanspruch für die Gesellschaft das eigene Bild in der Öffentlichkeit prägen zu können, erscheinen unter anderem folgende Schritte nötig:

  • Eine Erneuerung der innerparteilichen Willensbildung mit ihren Institutionen und Mechanismen, die für Inputs und Responsivität der neuen Mitglieder ebenso offen ist wie für die langjährigen Aktiven und zugleich sprachlich und kulturell anschlussfähig an eine breitere Zivilgesellschaft bleibt. Als Grundlage für die breite gesellschaftliche Willensbildung und Kompromissfindung ist es sehr wichtig, dass auch andere Parteien und gesellschaftliche Gruppen Debatten über Prioritätensetzungen der Zukunft führen.
     
  • Erwartungen an grüne Regierungsbeteiligungen transparent und bewusst machen. Verbunden mit der politischen Willensbildung könnte ein Austausch darüber stattfinden, welche Erwartungen Mitglieder, Sympathisant*innen und Wähler*innen mit Regierungsbeteiligungen an (unvermeidliche) Koalitionsregierungen verknüpfen, auch welche Erwartungen seitens der politisch Verantwortlichen geweckt oder gedämpft werden. Gerade die Differenzen in den für die Partei wichtigen Politikfeldern „Klimaschutz“ und „Umgang mit Geflüchteten“ scheinen weniger eine Folge unterschiedlicher politischer Zielsetzungen innerhalb der Partei zu sein. Eher sind sie Folge von grundlegend unterschiedlichen Einschätzungen, was die Beteiligung an einer Koalitionsregierung erreichen kann – und was nicht, gegebenenfalls auch im größeren Kontext europäischer Entscheidungsfindungen.
     
  • Neue Kanäle der Kommunikation als Reaktion auf den Strukturwandel der Öffentlichkeit. Besonders rechtslastige Portale und Kanäle, nicht selten von Fossil-Lobby oder aus dem Ausland unterstützt, betreiben seit Jahren spezifische Hetze gegen Bündnis 90/Die Grünen und ihre Spitzenpolitiker*innen, die das Bild über grüne Politik dramatisch verzerrt. Die Folgen davon sind bis in den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und die stark geschrumpfte regionale Presse zu sehen. Hier gilt es neue Wege zu gehen, die über die defensive Abwehr von Hass- und Gewaltbotschaften und die nachgelagerte Korrektur von irreführenden Darstellungen hinausgeht. 
     
  • Das enorme Mitgliederwachstum sollte es möglich machen, sich auch an kleineren Orten oder Stadtteilen zusammenzuschließen und dort, wo man bislang nicht präsent war, sichtbar zu werden. Das von Dritten verbreitete Gruselimage der Grünen baut auf Verzerrungen auf, die sich durch Verwurzelung vor Ort und Begegnung auf Augenhöhe noch am leichtesten auflösen lassen. Die enge Einbindung in Aktivitäten einer offenen Zivilgesellschaft mit Engagement für Ort und Region kann darüber hinaus Vertrauen in gelebte Demokratie aufbauen und stärken.

III. Angesichts der Weltlage ist von allen Beteiligten lösungsorientierte Kompromissfähigkeit gefordert

Gerade vor dem Hintergrund der globalen Lage schauen viele Menschen in Europa und darüber hinaus nach Deutschland, wo wir – allen Unkenrufen über Koalitionskonflikte zum Trotz – im Ganzen bisher eine recht stabile politische und gesellschaftliche Ordnung haben. 

Nun geht es darum, dass diese politische Ordnung auch in besonders herausfordernden Zeiten funktioniert: Wird es gelingen, innerhalb überschaubarer Zeit eine neue Regierung zu bilden, die zu notwendigen Kompromissen findet, interne Zusammenarbeit hinbekommt und dabei praktisch wirksame und tragfähige Entscheidungen trifft? Wird diese Regierung in Europa und der Welt Orientierung geben und zugleich ein zuverlässiger Partner sein können? 

Eine neue Regierungskoalition wird nur Erfolg haben können, wenn sie ernsthafte Kompromisse erarbeitet, die mit Zumutungen für verschiedene Seiten verbunden sein können, aber dennoch Lösungen realer Probleme bedeuten und nicht der bloße Mittelwert von Wahlkampfpositionen sind.

Es wird nicht ausreichen, wichtige politische Entscheidungen, unter anderem solche, deren Relevanz über Deutschland hinausreichen, auf die knappste aller denkbaren parlamentarischen Mehrheiten zu gründen. Immer wieder wird man auf die konstruktive Mitarbeit in der demokratischen Opposition und im Bundesrat angewiesen sein. 

Mit einem autoritativen Durchregieren über Maßnahmen, deren Umsetzung kaum möglich, deren Nutzen unklar, deren Kollateralschäden unabsehbar teuer und die überdies rechtswidrig und ein Affront gegenüber europäischen Nachbarn wären, wird das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit und Lösungskompetenz der Politik nicht gestärkt. Ebenso wenig wird dadurch die AfD, aus deren Arsenal die Maßnahmenvorschläge stammen, eingedämmt oder ein Ausgangsproblem gelöst.

Mit seinem Urteil von 2023 hatte das Bundesverfassungsgericht der langjährigen Praxis der Regierungen Merkel und Scholz, politische Konfliktgräben in den Koalitionen mit viel Geld wenigstens auf Zeit zuzuschütten, ein Ende gesetzt. Da wurde additiv sowohl das Radwegekonzept als auch das Autobahnteilstück finanziert; eine zukunftsorientierte deliberative Konfliktaustragung mit Exponenten der Polarisierung im Parlament sowie in der ganzen Gesellschaft fand und findet so gerade nicht statt. Dabei sind Koalitions- wie auch Budgetverhandlungen genau der richtige Ort in der parlamentarischen Demokratie, um grundlegende Entscheidungen für die Zukunft gründlich zu beraten und breit zu kommunizieren. Für ein anstrengendes und langwieriges Ringen um einen erkennbar zukunftsorientierten Output gibt es in der Mitte der Gesellschaft, die in Studien von Steffen Mau („Triggerpunkte“) immer noch als "breit" beschrieben wird, ein teilnehmendes Publikum. Auch für die längst überfällige Reform der „Schuldenbremse“, deren bisherige Ausgestaltung (wie auch ein Teil der Interpretation durch das Bundesverfassungsgericht) weniger ein stützendes als ein einschnürendes Korsett für eine zukunftsgerichtete Politik ist, besteht ein Korridor für einen konstruktiven und tragfähigen Kompromiss.

Ernsthafte Lösungssuche, Zuhören, Wahrhaftigkeit und Respekt im Umgang miteinander, Kompromissfähigkeit, Tragfähigkeit, Verlässlichkeit – das sind wichtige Voraussetzungen für den Erfolg einer Regierung, die bei der „Ampel“ gerade nicht erfüllt waren, jedenfalls in der öffentlichen Kommunikation. Eine neue Regierungskoalition wird nur Erfolg haben können, wenn sie ernsthafte Kompromisse erarbeitet, die mit Zumutungen für verschiedene Seiten verbunden sein können, aber dennoch Lösungen realer Probleme bedeuten und nicht der bloße Mittelwert von Wahlkampfpositionen sind. Aufgabe der kompromissorientierten Politik wird es sein, die nötigen Zumutungen möglichst gerecht zu verteilen. Der unvermeidbare Streit darüber sollte mit Respekt geführt werden. 

Bei der Berichterstattung über ausgehandelte Kompromisse ist es oft ein Problem, dass sich Medien zuerst darauf stürzen, welche Partei oder Fraktion bei Verhandlungen vermeintlich „gewonnen“ hat. Dabei wäre es auch für die Bürger*innen wichtiger, die Medien würden fachlich prüfen, ob und inwieweit vorgestellte Lösungsvorschläge den Problemen gerecht werden. Dann nämlich besteht auch eine Chance zu einem Vertrauenszuwachs. Eine für Beteiligung offene politische Willensbildung, ein stringenter, transparenter und responsiver Entscheidungsprozess und ein Output, der den Bürger*innen die politische Effektivität guten Regierens zeigt, öffnen den Weg für Vertrauensgewinn.


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