Freiheitsberaubung: Der unsägliche Zustand der Gefängnisse in Italien

Analyse

Während Millionen Italien als kulturelles Paradies bewundern, bleiben die überfüllten und menschenunwürdigen Zustände in den Gefängnissen unsichtbar. Trotz jahrhundertealter Reformforderungen scheint sich wenig geändert zu haben: Platzmangel, Selbstmorde, Misshandlungen und strukturelles Wegsehen bestimmen den Alltag hinter Gittern.

Fence

Schon Voltaire hat gesagt: „Zeigt mir nicht eure Paläste, sondern eure Gefängnisse, denn an ihnen misst sich der Zivilisationsgrad einer Nation“1. Dostojevski hat das fast wörtlich übernommen 2. Beide hatten selbst eingesessen und Erfahrungen gemacht, Voltaire, unter anderen in französischen Gefängnissen, auch in der Bastille.

Die vielen Millionen Touristen, die jährlich nach Italien kommen, sehen nur die „Paläste“, die Kathedralen, Museen, Palazzi. Vielleicht besuchen sie auch das Kolosseum und gruseln sich bei dem Gedanken, dass dies ein Folterzentrum für Gladiatoren war. Aber wer kennt schon die heutigen Gefängnisse, wer denkt an die Bedingungen, unter denen 62.137 Menschen leben3?

Angesichts der seit zwei Jahren dramatisch ansteigenden Zahlen von Selbstmorden und Selbstverletzungen in den Gefängnissen und Abschiebezentren ist in den Medien und der öffentlichen Meinung eine Debatte über die skandalösen Zustände entstanden, die über die Chats zwischen einigen Experten hinausgeht.

An Vorschlägen für eine Reform des Gefängniswesens in Europa mangelt es nicht. Tatsächlich hat bereits Voltaire eigene Vorschläge kurz vor der Französischen Revolution veröffentlicht. Aber abgesehen von der verlangten Abschaffung der Folter und der Todesstrafe sind bis heute keine wesentlichen Änderungen bemerkbar.

Überfüllung ist unmenschlich – sagt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg

Die italienischen Gefängnisse haben derzeit 47.000 benutzbare Plätze für über 62.000 Inhaftierte, weitere 4.500 Plätze stehen nur auf dem Papier. Das entspricht einer Überbelegung von 133%, im Landesdurchschnitt. In einzelnen Großgefängnissen wie San Vittore in Mailand steht der Index der Überbelegung sogar bei 215%, d.h. zwei Häftlinge müssen sich einen Schlaf- und Zellenplatz teilen.

Die Zahl der Inhaftierten ist seit 2020 um über 10.000 gestiegen, davon 6.500 seit Anfang 2023, dem Beginn der Meloni-Regierung. Gleichzeitig ist die Zahl der verfügbaren Plätze um einige hundert gesunken4. Der absolut minimale Platz, der jedem Inhaftierten zur Verfügung stehen muss, ist zwischen dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) und dem Komitee zur Verbeugung von Folter und unmenschlicher Behandlung des Europarats (CPT) umstritten. Für den EGMR sind es vier Quadratmeter, für das CPT sechs Quadratmeter pro Häftling in Einzelzellen und drei Quadratmeter in Mehrpersonenzellen, für den CPT vier Quadratmeter, jeweils Toilette nicht eingerechnet. Unterhalb dieser Schwelle sprechen beide Einrichtungen von unmenschlicher Behandlung im Sinne von Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Nicht nur im Mailänder Gefängnis sind diese Minimalgrößen bei vielen Inhaftierten deutlich unterschritten5.

Der EGMR hat seit 2009 Italien mehrfach6 auf Grund der Überfüllung der Gefängnisse und unzureichendem Platz für Häftlinge verurteilt. Für die Straßburger Richter handelt es sich um eine Verletzung des Artikel 3 der EMRK, also um unmenschliche oder unwürdige Behandlung und Bestrafung. Ein Urteil der Großen Kammer des Gerichtshofs von 20137 wird als „bahnbrechend“ beschrieben, hat aber nicht nachhaltig etwas an der Situation geändert. In 157 Gefängnissen, 84% der Gesamtzahl, hat der Ombudsman im April 2025 Überbelegung festgestellt8.

Überfüllung ist gewiss nicht das einzige Problem. Im März 2025 hat der EGMR Italien erneut verurteilt9, diesmal wegen Mangel an ärztlich/psychiatrischer Betreuung. Ein Häftling mit schweren psychischen Problemen hätte nach wiederholten Selbstmordversuchen, so das Gericht, nicht in einer normalen Haftanstalt untergebracht werden dürfen. Die Zahl der Ärzte, Psychiater und Psychologen in den Gefängnissen ist absolut unzureichend, beklagt der Verein Antigone, der sich seit Jahrzehnten um die Rechte von Gefangenen und anderen der Freiheit beraubten Personen kümmert10. Zudem sind 10% der Stellen des Wachpersonals und 20% des Verwaltungspersonals unbesetzt.

Flucht in den Selbstmord

Italien ist zwar weltweit ein Land mit einer der niedrigsten Selbstmordraten, dennoch ist die Quote in Gefängnissen im Verhältnis 20mal höher als bei Menschen in Freiheit. Zwischen 1992 und 2020 gab es im Durchschnitt in den Haftanstalten 50 Suizide pro Jahr, dann stieg die Zahl kontinuierlich auf bis zu 88 in 2024 und alleine 30 in den ersten 4 Monaten 2025.

Dazu kamen im Jahr 2024, etwa 2000 Selbstmordversuche und 12.000 Selbstverletzungen. Mehr als ein Fünftel aller Inhaftierten sind also betroffen. Fast die Hälfte aller Suizide wird von ausländischen Häftlingen begangen, obwohl sie weniger als ein Drittel der Gesamtzahl ausmachen. 46% der Selbstmorde sind während der Untersuchungshaft erfolgt. Von den 54 betroffenen Gefängnisse ist in 52 eine Belegung von über 100% festgestellt worden.

Zu den Gründen gehört nicht allein die Überbelegung mit all den Folgen für die Zustände in den Anstalten, sondern laut Aldo di Giacomo, dem Generalsekretär der Gewerkschaft der Gefängnisbeamten, auch der „absolute Mangel an psychologischer Unterstützung11. Für di Giacomo hätten viele der Opfer gar nicht in Haft, sondern in einer psychiatrischen Einrichtung sein müssen, in denen es aber zu wenig Plätze gibt12. In seiner Neujahrsansprache 2025 hat der Staatspräsident Sergio Mattarella die hohe Zahl der Selbstmorde als „Indikator für nicht hinnehmbare Zustände in den Haftanstalten“ bezeichnet. 

Mit Sicherheit-ein neues Sicherheitsdekret

Im April 2025 ist von der Regierung Meloni ein neues Sicherheitsdekret erlassen worden, dessen Durchsetzung die Zahl der Inhaftierten erneut ansteigen lassen wird. Es ist das vierte Sicherheitsgesetz in 7 Jahren. Diejenigen in den Jahren 2018 und 2019, unter der ersten Regierung von Giuseppe Conte, dem Vorsitzenden der 5-Sterne-Bewegung, mit Matteo Salvini als Innenminister, haben das Einwanderungs-und Asylrecht stark eingeschränkt. In die gleiche Zielrichtung ging auch das „Cutro-Dekret“ von 2023, benannt nach einem der größten Migrantenboots-Unglücke der letzten Jahre. Das Dekret hat das Aufenthaltsrecht aus humanitären Gründen praktisch abgeschafft und damit viele Migranten in den „Untergrund“ getrieben. Und nun ist erneut, im Eilverfahren, eine Gesetzgebung13n Arbeit, die nach Meinung von 4 Special Rapporteurs der Vereinten Nationen ein weiteres „Risiko für die Grundrechte“ in Italien bedeutet14. „Das Dekret ist antiliberal, diskriminierend und teilweise verbrechensfördernd“, sagt Emilio Dolcini, einer der renommiertesten Strafrechtler Italiens15. Die Vereinigung der Strafrechtsprofessoren hat erklärt, das Dekret führe zu einer „Unterdrückung von Verhaltungsweisen, die einen Dissenz ausdrücken“ und „bedeute ein gefährliches Abdriften in ein sekuritäres Herangehen an die Notlage der Gefängnisse“. Nicht die Tat soll die Bestrafung auslösen, sondern der Täter16.

Das Dekret enthält eine umfangreiche Liste neuer Straftatbestände sowie die Verschärfung von Strafandrohungen. Hier sollen nur einige genannt werden:

● Ausweitung des Tatbestands „Widerstand gegen die Staatsgewalt“, mit Straferhöhung um die Hälfte, wenn die Tat gegen Polizisten oder Gefängnisbeamte verübt wird;

● Die Behinderung des Straßen-oder Bahnverkehrs, auch nur mit dem eigenen Körper, wird zum Strafdelikt;

● Die Strafe für eine Beteiligung an einer Revolte in einem Gefängnis oder einem Abschiebungszentrum wird erheblich erhöht;

● Auch der passive, friedliche Widerstand in einem Gefängnis oder einem Abschiebezentrum wird ab jetzt zu einem Straftatbestand, sowie auch die bloße Nicht-Befolgung einer Anordnung eines Gefängnisbeamten;

● Der Anbau und Vertrieb von bestimmten, bisher legalen Hanfsorten, auch ohne chemische Verarbeitung, wird bestraft;

● Die Aussetzung der Inhaftierung einer Frau mit einem kleinen Kind, bis jetzt automatisch, wird in das Ermessen des Richters gestellt – eine Maßnahme, die insbesondere auf Rom und Sinti-Frauen abzielt.  Die Statistiken weisen nämlich aus, dass diese Personengruppe, obwohl in der Bevölkerung eine kleine Minderheit, die Mehrheit der inhaftierten Frauen mit Kindern ausmacht, meist unter Anklage der strafbaren Almosensammlung in Kinderbegleitung. Auf der anderen Seite dürfen von jetzt an Polizisten ihre Dienstwaffe auch außerhalb des Dienstes tragen. Der Staat unterstützt nun Polizisten und Gefängniswärter, die wegen in Amtsausübung begangener Delikte angeklagt sind, mit einer Prozesskostenhilfe bis zu 10.000 Euro.

Die Opposition im Parlament spricht von einer „Straf-Bulimie“ ohne wirkliche Vorbeugungskraft, von einer „Attacke gegen den Rechtsstaat“. Im Jahr 2024 wurden in den Gefängnissen über 30.000 Disziplinarmaßnahmen ergriffen17, bei den meisten dürfte es sich um Nicht-Befolgung einer Anordnung oder passiven Widerstand handeln. Das wird, bei Durchführung des Dekrets, neue Strafprozesse und vielfach Haftverlängerung auf Grund neuer Verurteilungen auslösen. Die Überbelegung wird weiter ansteigen, deren Folgen unweigerlich neue Proteste auslösen werden, eine vorhersehbare Verschärfung der Haftbedingungen.

Migranten in Haft

Der Anteil von Ausländern in den Gefängnissen ist in den letzten 10 Jahren leicht gesunken und beträgt heute 31%. Gegenüber einem Ausländeranteil an der Gesamtbevölkerung von 8,6 % ist dies gleichwohl eine überproportional hohe Zahl, für die es verschiedene Erklärungen gibt. Für einen großen Teil der straffällig gewordenen oder angeklagten Ausländer ist der Hausarrest, als Alternative zur Inhaftierung, insbesondere zur Untersuchungshaft, nicht anwendbar, da kein ordnungsmäßiger Wohnraum vorhanden ist. Bei den straffällig gewordenen Ausländern ist der Anteil derer, die keinen Aufenthaltstitel besitzen, außerordentlich hoch, während bei den legal Anwesenden die Kriminalitätsrate sogar leicht unterhalb derjenigen der italienischen Bevölkerung liegt. Der Kriminalitätsindex bei Rumänen, der anteilig größten Ausländergruppe, ist ständig gefallen, seitdem sie EU-Bürger/innen und also legal anwesend sind. Dasselbe gilt für Albaner, die überwiegend in den 90iger Jahren eingewandert sind, stabile Communities und wegen ihrer langen Aufenthaltsdauer leichten Zugang zur Familienzusammenführung haben18. Die verschiedenen Restriktionen in der Einwanderungs-und Asylgesetzgebung der letzten Jahre hat dazu geführt, dass sich die Zahl der irregulär anwesenden Ausländer erhöht hat und damit auch die statistische Anfälligkeit für Kriminalität, vor allem bei Vermögensdelikten. Die besonders hohe Selbstmordrate unter den ausländischen Häftlingen lässt sich auch daraus erklären, dass sie im Gefängnis, aus sprachlichen wie aus kulturellen Gründen, marginalisiert und isoliert sind.

In den Abschiebezentren („Centri di permanenza per il rimpatrio, CPR“) befinden sich natürlich nur Ausländer, die nach offiziellem Sprachgebrauch dort „Gäste“ („ospiti“) sind, obschon die Verhältnisse und Lebensbedingungen häufig als schlimmer im Vergleich zu Gefängnissen beschrieben werden. In den gegenwärtig acht aktiven Zentren19, von privaten Einrichtungen in Verträgen mit dem Innenministerium geführt, waren im Laufe des Jahres 2023 insgesamt 6.700 Menschen untergebracht, bei einer durchschnittlichen Haftdauer von 39 Tagen. Diese Zahl, wie auch die Abschiebungsrate von insgesamt fast 50% ist irreführend, wenn man nicht die einzelnen Nationalitäten berücksichtigt. Auf Grund eines „funktionierenden“ Rückführungsabkommens mit Tunisien, Herkunftsland der Mehrzahl der Inhaftierten, liegt die Abschiebungsrate bei 65% und die Aufenthaltsdauer ist entsprechend gering. Bei den „schwer abschiebbaren“ Subsahara-Afrikanern hingegen kann die Haftdauer die gesetzlich vorgeschriebene Höchstdauer von 18 Monaten erreichen20.

Das Komitee des Europarats zur Vorbeugung von Folter und unmenschlicher Behandlung (CPT) hat bei einer Besichtigung einiger Zentren 2024 u.a. festgestellt21: es kommt zu körperlicher Misshandlung von Insassen; zu exzessivem Gebrauch von Gewaltanwendung; Verabreichung von Psychopharmaka ohne ärztliche Verschreibung und Aufsicht; und zu mangelhafter Qualität des Essens. Das Komitee sagt, die Häftlinge würden „warehoused“, quasi abgestellt, de facto ohne rekreative Aktivität, und empfiehlt der Regierung dringend, hinsichtlich aller aufgelisteten Mängel „energisch Abhilfe zu leisten“. 

Es geht auch anders – Beispiel Finnland

Finnland gehört weltweit zu den Ländern mit der geringsten Zahl von Inhaftierten im Verhältnis zu den Einwohnern: 51 pro 100.000. In Deutschland sind es 69, in Italien102. Der EU-Durchschnitt von 111 ist belastet durch die hohe Quote in einigen, vor allem östlichen Mitgliedsstaaten wie Ungarn (201). In Finnland befinden sich ein Drittel der etwa 3000 Straffälligen in kontrollierten „Häftlingswohngemeinschaften“ mit eingeschränkter Bewegungsfreiheit, aber einem weiten Angebot von Arbeitsmöglichkeiten außerhalb der Gebäude sowie intensiver sozialer und psychologischer Betreuung. Von insgesamt 27 Strafvollzugseinrichtungen sind 12 offene. In einigen geschlossenen Anstalten ist in den letzten Jahren das „smart prison“ eingeführt worden, bei dem die Inhaftierten digitale Kommunikationsmittel zur Verfügung haben und ein KI-System die Risiken und Bedürfnisse erfasst und auswertet, auch für die Zeit nach der Haftentlassung22. Nur in 15% der Fälle sind Wiederholungstaten nach Haftentlassung beobachtet worden23, in Italien sind es 68%, also mehr als zwei Drittel aller Gefangenen begehen neue Straftaten nach Verbüßung der Strafe. Die geschlossenen Anstalten kosten dem Staat 200 Euro pro Person und Tag, die offenen nur 130 Euro24.

Ein Gefängnisbesuch mit Silvio Pellico 

Angesichts der zunehmenden Unruhe im Justizapparat und in der öffentlichen Meinung wegen dieser vielfältigen Missstände in den italienischen Gefängnissen hat die Regierung in 2024 ein Reformdekret verabschiedet25, das im Wesentlichen vorsieht: Schaffung von 1000 neuen Stellen für Vollzugsbeamte und 20 Stellen für Führungskräfte im Gefängniswesen; die Einsetzung eines Außerordentlichen Kommissars für Gefängnisbauten; die Möglichkeit, eine relativ kurze Resthaftstrafe für Gefangene von über 70 Jahren in Hausarrest umzuwandeln. Das war‘s.

Das Buch des Schriftstellers Silvio Pellico „Meine Gefängnisse“ über seine Erfahrungen in österreichischen Zuchthäusern von 1820-30 ist in vielen italienischen Schulen Pflichtlektüre. Metternich hat gesagt, das Buch habe der Donau-Monarchie mehr Schaden zugefügt als ein verlorener Krieg.  Da können die Schülerinnen und Schüler das Gruseln lernen bei der Lektüre über die Verhältnisse in habsburgischen Einrichtungen, wie die Bleikammern über dem Markusdom in Venedig oder die berüchtigte Festung Spielberg in Mähren, und können sich beruhigt sagen, dass das vor 200 Jahren einmal so war. Es wäre vorzuschlagen, dass die Schulklassen ein heutiges italienisches Gefängnis sowie eine Abschiebezentrum besuchen müssen, um eine Vorstellung zu bekommen über den Grad der Zivilisation im 21. Jahrhundert.

Fußnoten