Das ist eine erfolgreiche Geschichte. Es war am Anfang mit Tränen verbunden, aber jetzt kann man lachen. Positiv lachen, zufrieden sein.
Das sagt Edith Pichler. Die Sozialwissenschaftlerin ist eine der besten Expert*innen für die Geschichte und auch Gegenwart italienischer Migration nach Deutschland. Vor 70 Jahren, am 20. Dezember 1955 unterzeichnen Deutschland und Italien ein Anwerbeabkommen. Warum das auch mit Tränen verbunden war, wie sich das deutsch-italienische Verhältnis seither entwickelt hat und wie beide Länder auch davon profitierten und profitieren – darüber haben wir mit vielen Zeitzeug*innen und Expert*innen gesprochen. Und damit herzlich willkommen zu diesem Böll-Podcast. Ich bin Emily Thomey. Das hier ist die erste von drei Folgen, die sich mit sogenannten GastarbeiterInnen aus Italien in der Bundesrepublik beschäftigt. Und da blicken wir zunächst mal auf die Anfangsjahre zurück. Recherchiert hat das Ganze Heiko Kreft vom Audiokollektiv. Hallo Heiko!
Hallo Emily. Ja, das war wirklich eine spannende Recherche. Ich konnte da sehr interessante Menschen kennenlernen und die haben mir ihre persönlichen Geschichten erzählt. Es wird also rührend, lustig, politisch und eine volle Packung Leben.
Na dann lass uns mal die gemeinsame Zeitreise beginnen und zurück ins Jahr 1955 gehen, als Italien und Deutschland das Anwerbeabkommen abschließen. Warum kommt es damals eigentlich dazu?
1955 sind wir zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. In der alten Bundesrepublik, beginnt da gerade die Zeit des Wirtschaftswunders und deshalb gibt es ein zunehmendes Problem: Zu wenig Arbeitskräfte. Während der ersten Jahre kommen noch viele Menschen aus früheren deutschen Gebieten im Osten, also beispielsweise aus Polen oder der damaligen Tschechoslowakei. Doch das ist irgendwann vorbei. Vor allem in der Landwirtschaft werden aber helfende Hände gebraucht und zwar dringend.
Und wie kommt man dann damals darauf, ausgerechnet in Italien nach Arbeitern – und es waren ja damals auch wirklich ausschließlich Männer – zu suchen?
Das liegt an Italiens Regierung. Die fragt 1953 in Bonn an, ob es Interesse an italienischen Arbeitskräften und einem bilateralen Abkommen gibt. Anders als für die Deutschen ist das für die Italiener damals keine neue Sache. Solche Abkommen hatten sie schon mit einem Dutzend anderer Staaten geschlossen. Dafür gibt es viele Gründe, sagt Edith Pichler.
Es war so, dass Italien ein unterentwickeltes Land war, besonders im Süden. Das Land war ökonomisch unterentwickelt, aber auch Regionen Norditaliens wie Friaul und Venetien und Trentino, auch aus diesen Regionen sind Menschen ausgewandert. Italien hatte ein Interesse, nicht nur diese Menschen, die politisch aktiv waren, loszuhaben, sondern auch dadurch vielleicht die Arbeitslosigkeit zu senken. Und dann weniger soziale Spannungen zu haben. Also das war so eine Art Sicherheitsventil, also die Emigration.
Was meint sie mit „Menschen, die politisch aktiv waren“?
In Italien ist die politische Lage damals ziemlich angespannt. Da geht es vor allem um eine Bodenreform. Besonders im Süden des Landes konzentriert sich der Landbesitz auf einige wenige. Diesen Padroni steht eine ziemlich recht und mittellose Landbevölkerung gegenüber.
Es wurde versucht, eine Landreform durchzuführen, aber dies gescheitert zum Teil. Und dann gab es Landbesetzungen und die kommunistische Partei war sehr stark. Und viele von den Leuten, die damals teilgenommen haben an diesen Streiks, da war es so, dass sie Probleme hatten, einen Job zu bekommen. Weil durch dieses Padroni-System war es schwierig, dann einen Job zu bekommen. Ein Ausweg war, wegzugehen.
Wie kann man sich diese damalige Lage von Landarbeitern in Süditalien ganz konkret vorstellen?
Unakzeptabel. Die wurden regelrecht ausgebeutet. Das hat mir Lorenzo Annese erzählt. Er ist 1937 in Alberobello geboren und dort aufgewachsen. Das ist ein 10.000 Einwohnerort in Apulien. Ungefähr in der Mitte zwischen Bari und Brindisi.
Wer da jetzt nicht sofort ne Landkarte vor Augen hat: Welcher Teil vom italienischen Stiefel ist das? Der Absatz, oder?
Genau, der Absatz. Alberobello liegt genau da, wo der Absatz beginnt. Aus dieser damals bitterarmen Region kam Lorenzo Annese nach Deutschland. Er ist eine wirklich beeindruckende Persönlichkeit, mittlerweile 88 Jahre. Kennenlernen durfte ich ihn am Rande einer Veranstaltung des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Der DGB hatte nach Berlin eingeladen – aus Anlass des 70. Jahrestages des Anwerbeabkommens. Und Lorenzo Annese erzählte mir da am Rande der Veranstaltung, dass er schon als 14-jähriger schwerste körperliche Arbeit verrichten musste.
Von morgens bis abends, und alles zu Fuß. Das war nicht vor der Tür! Der Arbeitsplatz: 10 Kilometer entfernt. Und da musste man morgens bei Sonnenaufgang zur Stelle sein. Erde transportieren. Allein die Schlüssel wiegt drei Kilo. Feierabend war, wenn die Sonne runter ging. Und von da los bis nach Hause. 50 Lire! 50 Lire haben wir gekriegt am Tag.
50 Lire, was ist das damals wert gewesen?
Das reicht gerade mal für einen Eintritt ins Kino. Und das Ganze nach zwölf Stunden harter Arbeit! Also wirklich prekäre Verhältnisse.
Das war alles Gelegenheitsarbeit. Das war keine Festeinstellung. Wir mussten uns abends nach Feierabend, wenn wir irgendwo gearbeitet haben, an eine gewisse Stelle. Das war nicht weit weg vom Eingang der Kirche. Da mussten wir uns treffen. Und da kamen die Grundbesitzer oder die Baufirmen. Sie haben mit uns wie auf dem Viehmarkt verhandelt. Was hast du morgen vor? Ich bin frei. Du kannst zu mir, zu uns! Und da wurde auch der Lohn ausgehandelt. Und selbst wenn der Lohn ausgehandelt war und du dann eine Woche gearbeitet hast oder einen Tag – da musstest du auf dein Geld noch warten.
Und als dann das Anwerbeabkommen zwischen Italien und Deutschland kam, hat er sich dann gleich auf den Weg gemacht?
Das war kein spontaner „auf in das vermeintliche Paradies“-Move. Das hat ein bisschen gedauert.
In den Arbeitsämtern wurde ausgehangen, dass ein Abkommen abgeschlossen wurde zwischen Italien und Deutschland. Aber da war der Drang nicht so sehr. Da war man immer noch so ein bisschen skeptisch. Die Entscheidung, nach Deutschland zu fahren, kam durch meinen Bruder. Weil mein Bruder schon da war. Der Vertrag regelte, das er 180 D-Mark bekam. Als die erste Überweisung von meinem Bruder kam, da haben wir gedacht: Mensch, selbst wenn es schlimm sein sollte – aber du hast zumindest einen sicheren Lohn.
Heiko, lass uns einmal kurz auf das Anwerbeabkommen selbst schauen. Was genau wurde da vereinbart?
Der Kernsatz im Abkommen ist dieser: „Wenn die Bundesregierung einen Mangel an Arbeitskräften feststellt, den sie durch Hereinnahme von Arbeitern italienischer Staatsangehörigkeit beheben will, teilt sie der italienischen Regierung mit, in welchen Berufen oder Berufsgruppen und in welchem annähernden Umfang Bedarf an Arbeitskräften besteht“.
Das ist ja eher vage formuliert. Wie viele Arbeitskräfte sind es am Ende geworden?
Seit 1955 kamen insgesamt rund 4 Millionen Italienerinnen und Italiener nach Deutschland. Das ist die Zahl, die jetzt zum Jahrestag häufig genannt wird. Viele nutzten aber auch die einsetzende Freizügigkeit innerhalb der EU. Es kamen nicht alle über dieses Anwerbeabkommen. Ohne das Anwerbeabkommen jetzt kleinreden zu wollen. Denn das war ja der Anfang.
Das Abkommen mit Italien wurde zum Vorbild für viele andere, ähnliche Abkommen. Beispielsweise mit der Türkei, Spanien, Griechenland, Jugoslawien. Wann kamen die ersten italienischen Arbeitskräfte tatsächlich hier in der Bundesrepublik an?
Das war im April 1956 und zwar exakt 1.389 Saisonarbeiter für die Landwirtschaft. Im gesamten ersten Jahr sind es dann 10.240 Arbeiter. Die gehen vor allem nach Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und nach Baden-Württemberg. Vor allem in die Landwirtschaft, aber auch auf den Bau.
Und wie viele sind am Ende in Deutschland geblieben?
Über den gesamten Zeitraum gesehen ungefähr 10 Prozent. Das liegt auch daran, dass das Anwerbeabkommen gar keine permanente Migration damals vorsieht. Es geht darum, den kurz- und mittelfristigen Arbeitskräftebedarf der deutschen Wirtschaft zu decken. Langfristig hat damals kaum jemand gedacht. Aus meiner Sicht gibt es deshalb eine Diskrepanz zwischen dem, was da in der Präambel des Anwerbeabkommens steht und dem, was dann tatsächlich passierte.
Wie meinst du das?
Die Präambel ist ziemlich salbungsvoll formuliert. Das Abkommen sei – und da zitiere ich nochmal – „von dem Wunsche geleitet, die Beziehung zwischen den Völkern im Geiste europäischer Solidarität zu beiderseitigem Nutzen zu vertiefen und enger zu gestalten, sowie die zwischen ihnen bestehende Bande der Freundschaft zu festigen“. Und so weiter und so weiter. Dann kommt da noch „gemeinsames Interesse“ und „sozialen Fortschritt fördern“ zum Beispiel.
Das klingt aber doch erstmal gut.
Naja, die Realität ist dann aber doch ein bisschen was anderes. Und das liegt eben auch an einer Vereinbarung im Abkommen selbst. Die „Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung“, die ist da zuständig. Die richtet damals die „Deutsche Kommission in Italien“ ein. Sie sitzt ab Sommer 1956 in Verona. Eine riesige Behörde, 300 Meter vom Hauptbahnhof entfernt. Jeder Italiener, der nach Deutschland will, muss da erst mal hin. Dort werden alle medizinisch untersucht. Viele kommen mit gepackten Koffern. Denn von Verona geht es dann direkt und sofort nach Deutschland weiter. Für viele Arbeitswillige wird Verona zu einem traumatischen Ort. Das hat mir Giovanni Pollice erzählt. Auch ihn habe ich am Rande der DGB-Tagung in Berlin getroffen.
Mein Vater ist also durch den Anwerbevertrag 1960 nach Deutschland gekommen. Durch diese Hölle. Verona, das war eine Hölle. Der Vater – ich kriege immer noch Gänsehaut – erzählte, wie er da behandelt wurde. Drei Tage lang. Wie beim Militär mussten sie sich nackt ausziehen. Die Zähne! Es wurden befühlt, ob die Leute Hämorriden hätten. Also es war schon menschenunwürdig. Und der Vater erzählte dann auch, dass das beschämend war. Er hatte sich nie nackt ausziehen müssen vor andere Leute.
Du hast mir in Vorbereitung auf diese Folge ein paar Fotos von der „Deutschen Kommission“ in Verona gezeigt. Wenn man die sieht, kann man sehr gut nachvollziehen, was Giovanni Pollice meint.
Absolut. Vor allem ein Bild geht mir da nicht aus dem Kopf. Da ist zu sehen, wie so ein deutscher Arzt einen Italiener „untersucht“. Und dieser Arzt erinnert mich persönlich nicht nur wegen seines „deutschen Herrenhaarschnitts“ an damals noch gar nicht so lange zurückliegende Zeiten. Auch seine ganze Körperhaltung und dieser bestimmende Blick von ihm – die irritieren doch ganz schön. Edith Pichler kennt viele Berichte aus Verona und sie bestätigte mir auch Giovanni Pollices Familienerzählung.
Das war auch eine Demütigung für die Menschen. Sie waren auch ein bisschen scheu. Das war so eine Generation, wo man sich nicht nackt gezeigt hat. Das war so. Und diese Untersuchung, das war mit Scham verbunden. Das Gefühl, was passiert hier mit mir? Ich habe mich noch nicht nackt bei meiner Frau gezeigt! Und jetzt muss ich mich hier ausziehen? Wie eine Selektion war das. Ich entscheide, ob du nach Deutschland darfst oder hier bleibst. Zeig mir deine Zähne! Die sind in Ordnung, du brauchst keine Brücke, dann kannst du gehen. Wenn du aber vielleicht in Deutschland eine Brücke brauchst, dann kostet das dem Gesundheitssystem etwas. Also dann bleibst du in Italien.
Vielleicht noch ein paar Zahlen zum „Haus der Deutschen Kommission in Italien“. Das sind fünf Stockwerke, 165 Räume, Gesamtfläche 2.400 Quadratmeter, acht Küchen, eine Kantine für 500 Personen. Bis zu 1.000 Menschen melden sich in Verona Anfang der 60er pro Tag. Es gab sogar Übernachtungsmöglichkeiten.
Das macht auf jeden Fall deutlich, wie enorm die Zuwanderung zeitweise war. Den Blick mal ein bisschen geweitet: Wie war das deutsch-italienische Verhältnis damals, zehn Jahre nach dem Ende der NS-Diktatur in Deutschland und nach dem Ende des faschistischen Regimes in Italien?
In der Präambel des Anwerbeabkommens wird vom „bestehenden Bande der Freundschaft“ geredet. Sagen wir mal so: das ist damals eher Quatsch. In vielen Regionen Italiens gibt es damals begründete Vorbehalte gegen Deutschland. Und das zeigt sich dann auch an der regionalen Herkunft vieler Arbeitsmigranten, sagte mir Edith Pichler.
Das muss man auch sagen, dass die meisten Migranten, die nach Deutschland kamen, aus dem Süden kamen. Süditalien hat nicht die deutsche Besatzung erlebt. Also das war vielleicht auch ein Unterschied. Vielleicht hatten die Menschen aus dem Süden nicht so einen Groll gegen Deutschland, weil die Wehrmacht dort nicht so kriminell geworden ist. Wie zum Beispiel in der Toskana, in Mittelitalien oder Norditalien. Vielleicht war es deswegen leichter für diese Leute.
Hinzukommt und das wird ziemlich oft übersehen – während der NS-Herrschaft gab es in Deutschland tausende italienische Zwangsarbeiter. Die mussten unter wirklich unmenschlichen Bedingungen schuften und das war sicherlich auch noch nicht ganz vergessen.
Wie wurden die in Deutschland ankommenden Italiener hier gesehen?
Da gab es durchaus „Vorbehalte“ und diskriminierende Zuschreibungen.
Natürlich gab es auf Seiten der Deutschen auch Ablehnung aufgrund der Geschichte. Wir waren Verbündete und dann 1943 waren wir plötzlich Feinde. Deshalb wurden die Italiener auch „Badogliani“ genannt. Badoglio hat damals den Waffenstillstand unterschrieben. Zunächst galten die Italiener als Verräter. Sie haben den deutschen Krieg „verraten“ und so weiter. Und das war wahrscheinlich auch diese Animosität dabei. Diese Geschichte spielte eine Rolle.
Eine nicht unbedeutende und auch fragwürdige Rolle spielten zudem manche deutsche Medien.
Als dieser Vertrag 1955 unterschrieben wurde, da schrieben deutschen Zeitungen: „Es kommen 50.000 Italiener“. Bedrohung! Aber dann kamen nicht so viele.Es gab ausreichend deutsche Flüchtlinge, es gab ausreichend Arbeitskräfte. Aber dann ab 1960 sind verstärkt Italiener gekommen.
Kommen wir nochmal zurück zu Lorenzo Annese. Sein Bruder war ja einer der frühen italienischen Arbeitskräfte in Deutschland. Als die ersten regelmäßigen Überweisungen eintreffen, so haben wir gehört, entscheidet auch er sich, nach Deutschland zu gehen.
Genau. Er war auch nicht der einzige in seinem Ort, Alberobello. Von 10.000 Einwohnern ging ungefähr die Hälfte ins Ausland. An seine Fahrt nach Deutschland erinnert sich Lorenzo Annese, selbst Jahrzehnte später...
Ich hatte noch nie so eine lange Reise gemacht. Ich war nie weg von Alberobello, das Dorf, wo ich herstamme. Ich habe gedacht, Mensch, du hast dich verfahren. Dauernd habe ich dem Schaffner die Fahrkarten gezeigt vor lauter Angst. Und er hat nur mit Gesten versucht, mich zu beruhigen. Sitzen bleiben!
Und wie nahezu alle italienischen Arbeitskräfte kommt er dann am Münchner Hauptbahnhof an.
Da kamen mir zwei Nonnen entgegen und gaben mir ein Lunchpaket, was ich auch gar nicht so kannte. Dann mache ich dieses Lunchpaket auf und wollten was essen davon. Da waren drei Scheiben Brot drin, belegte Brote. Die erste Scheibe, die ich aufmache, gucke ich dazwischen. War schimmligeer Käse. Da denke ich: Mensch, guck dir an! Solche Bande! Haben sie mir schlechten Käse gegeben! Wollen Sie mich vergiften, oder was? In Wirklichkeit war das Gorgonzola-Käse. Das war der erste Kulturschock.
Und der blieb wahrscheinlich auch nicht der einzige...
Nein, das ist er nicht geblieben. Lorenzo Annese hat eine Stelle auf einem Bauernhof in Niedersachsen bekommen. Da ist auch sein Bruder. Im Dorf gibt es damals keine Laternen und auch sonst ist alles ziemlich gewöhnungsbedürftig. Aber am zweiten Abend gibt es dann einen großen Lichtblick. Lorenzo Annese geht mit seinem Bruder in die Dorfkneipe und lernt dort Frieda kennen. Das war im Sommer 1958. Und mit Frieda ist er bis heute verheiratet.
Wow! Was für eine lange Zeit! Und wie geht's dann für ihn weiter?
Die Arbeit auf dem niedersächsischen Bauernhof ist sehr schwer, nur geringfügig besser als die in Italien. Doch durch seinen Arbeitsvertrag, den er unterschrieben hat, ist Lorenzo Annese dem Bauern ziemlich ausgeliefert.
Das hat mir nicht gepasst, beim Landwirt . Wollte ich weg und habe ich immer den Bauer angesprochen. Und der hat immer den zuständigen Mann vom Arbeitsamt kommen lassen. Der kam.Was ist denn los? Richtig wie ein kleiner Offizier! Was ist denn los? Ja, ich will weg! Nix, entweder hier oder zurück nach Italien. Du hast einen Arbeitsvertrag für die Landwirtschaft. Sonst, wenn du zurückgehst, musst du auch die Kosten ersetzen, die der Landwirt getragen hat, damit du hierherkommst. Richtig, richtig harter Druck. Sagt der vom Arbeitsamt, nachdem ich ihn fünf, sechsmal kommen lassen habe: Wenn du einen anderen nachkommen lässt, dann kannst du weg. Und dann habe ich einen Kollegen von mir nachkommen lassen.
Außerdem hatte sich Lorenzo Annese dann eine andere Arbeitsstelle gesucht.
Wo war die?
In einer Bimsstein-Fabrik. Alles andere als ein Traumjob.
Da wollte kein Deutscher hingehen. Die Arbeit war hundertmal schwerer als in der Landwirtschaft. Aber da wurde im Stückakkord gearbeitet. Da konnte man Geld verdienen. Das konnte man ein paar Monate, ein Jahr machen, aber für lange Zeit war das nicht. Nicht auf Dauer. Handschuhe musstest du selber kaufen. Wir haben uns Gummilappen gemacht um unsere Hände zu schützen. Bims reibt wie ein Reibbrett. Ruckzuck waren die Finger kaputt.
Lorenzo Annese hat mir beim Gespräch auch seine Handschuhe von damals gezeigt. Das ist wirklich nur ein Stück Gummi mit ein paar Löchern für die Finger. Also Arbeitsschutz ist da eigentlich nicht gegeben.
Klingt bedrückend. Hat er denn irgendwann mal gesagt: Schluss aus, mir reichts?
Tatsächlich denkt er damals ernsthaft darüber nach, zurück nach Italien zu gehen. Das bespricht er auch mit seiner Frau Frieda.
Es ist eine Schufterei und man kommt zu nichts. Willst du mit nach Italien? Es war so weit, dass ich zurück nach Italien wollte. Zum Anfang wollte ich nicht kapitulieren, weil wir wurden immer verspottet. Wenn einer weggegangen ist und kam nachher zurück, haben sie alle drüber gelacht. Der wollte Amerika erorbern und da ist er wieder.
Seine Frau und die Verwandten ermutigen ihn, sich bei Volkswagen in Wolfsburg zu bewerben.
Mensch, Lorenzo, bewerbe dich. Die haben sogar geholfen, mich zu bewerben. Ich konnte noch nicht mal Italienisch schreiben. Null Ahnung. Ich wusste auch von Volkswagen nichts. Keine Ahnung. Die haben mich immer motiviert, mich zu bewerben. Habe ich Bewerbungen geschrieben, die erste Zeit kam Antwort. Nachher kam überhaupt keine Antwort mehr.
Wie ist Lorenzo Annese damit umgegangen?
Er hat sich nicht unterkriegen lassen und zu einem kleinen Trick gegriffen. Eine wirklich tolle Geschichte. Lorenzo Annese ist damals spontan zum VW-Werk nach Wolfsburg. Er hat sich da an der Wache gemeldet und zwar an der, wo öffentliche Betriebsführungen losgehen.
Dann habe ich mich angemeldet. Ich möchte das Werk besichtigen. Ging die Gruppe los, kriegt jeder von uns noch eine Erkennungsplakette, damit man erkannt wird als Besucher. Und wie wir dann über die Straße gingen, sind die weiter und ich habe mich von einer Gruppe abgesetzt. Ich bin zur Personalabteilung gegangen. Da waren zwei Mädchen am Tresen und fragten: Was wollen sie? Habe ich gesagt: Ich will Chef sprechen. Und die haben versucht, zwei, dreimal mich abzuwimmeln. Und dann kam ein ganz eleganter Herr. Eine Stimme wie eine Priester. Was möchten Sie denn? Ja, ich will mit dem Chef sprechen. Ich bin Chef, sagt er. Damals war er nur ein Gruppenleiter da. Wusste ich auch nicht. Ich bin Chef. Was möchten Sie denn? Ja, ich habe mich beworben sehr oft und es gab Ablehnungen. In letzter Zeit habe ich keine Antwort mehr gekriegt. Ich will hier arbeiten! Und dann guckt er sich um. Er sagt: Ja, und wie sind Sie jetzt hergekommen? Da habe ich ihm dann erzählt: als Besucher. Da sagt er zu den Mädchen: Nicht dumm! Machen Sie einen Termin für die Untersuchung.
Und so hat er dann seinen Job bei Volkswagen bekommen, als erster Italiener bei VW im Stammwerk.
Am Anfang werden italienische Arbeitskräfte ja vor allem in der Landwirtschaft eingesetzt. Erst später im großen Maßstab auch in der Autoindustrie. Wie hat Lorenzo Annese die Ankunft seiner Landsleute in Wolfsburg erlebt?
Er hat es ganz, ganz aktiv begleitet. 1961/62 kommen die ersten großen Gruppen italienischer Arbeiter nach Wolfsburg, also erst so 6/7 Jahre nach dem deutsch-italienischen Anwerbe abkommen.
Alles improvisiert! Musste alles schnell gehen. Alles von heute auf morgen. Tausende von Leuten kamen und keiner hat gedacht, hier kommen Menschen. Das sind Menschen, die Probleme mit sich bringen. Menschen, die so einen Koloss nie gesehen haben. Menschen, die so ein Klima nicht kannten. Vor allem im Januar. Damals war es tatsächlich in dieser Zeit gerade zufällig neblig, dunkel, den ganzen Tag. Und die Leute haben ein regelrechtes Schock gekriegt. Und schon hat der Meister mich freigestellt von der Arbeit. Das hat sich dann schnell herumgesprochen: der Lorenzo! Alle haben den Lorenzo geholt. Lorenzo, Lorenzo, und ich muss denen alles erklären.
Wie werden die Arbeiter untergebracht?
In Wolfsburg entsteht eine eingezäumte Siedlung für italienische Arbeitskräfte. Ob das eine gute oder eine schlechte Sache war, darüber wird bis heute ziemlich debattiert vor Ort. Einerseits war da die Infrastruktur und die Wohnbedingungen, die waren super modern. Andererseits war es eben ein separiertes Gelände. Auf der Webseite des Bundesarchivs findet sich eine Ausgabe der „Neuen Deutschen Wochenschau“ aus dieser Zeit. 1963 berichtet diese Wochenschau aus Wolfsburg und zwar aus dieser Siedlung. Ich habe da mal einen kleinen Ausschnitt mitgebracht. Der Beitrag läuft unter dem Titel „D-Mark ist prima“ und entsprechend selbstgefällig ist dann auch die Erzählhaltung der Wochenschau.
Um harte D-Markt zu verdienen, kamen in den vergangenen Jahren über 280.000 italienische Gastarbeiter in die Bundesrepublik. Die Muster-Siedlung „Klein Italien“ in Wolfsburg ist die größte geschlossene italienische Siedlung nördliches Brenner. Ein Stadtteil mit Wohnhäusern, Kantinen, mit einer Post, einem Krankenhaus und einem Gemeinschaftshaus für die Freizeit und für den Gottesdienst am Sonntag. Über 6.000 Italiener, für die ein festes Domizil und ein geregeltes Einkommen in der Heimat keine Selbstverständlichkeit waren, schicken von Wolfsburg monatlich eine Million Mark an ihre Angehörigen. // Ich verdiene viel Moneten. // Ein gutes Leben. Das Klima ist gut. Alles ist gut. // Einmal im Jahr zieht es die Männer in ihre Heimatdörfer. Mit über 100 Sonderzügen der Bundesbahn, den Treni Speciali, reisten am Jahresende über 100.000 schwer bepackte Gastarbeiter als Urlauber oder als Rückkehrer nach Italien.
Haben die italienischen Medien damals eigentlich auch über die Situation italienischer Arbeitskräfte berichtet, zum Beispiel über Wolfsburg?
Ja, daran war ich auch ganz interessiert und habe mal in der Datenbank des italienischen Filmarchivs nachgeschaut und habe eine Ausgabe der italienischen Kino-Wochenschau gefunden. Die lief fast zur selben Zeit wie die deutsche Wochenschau, verwendet sogar teilweise exakt die gleichen Bilder, aber es gibt einen anderen Sprechertext und da lohnt sich auch mal reinzuhören.
In dieser großen deutschen Autofabrik arbeiten mehr als 6.000 italienische Arbeiter. Sie sind alle Facharbeiter und verdienen recht gut, so dass sie jeden Monat etwas Geld nach Hause schicken können. Aber wie leben sie? Ihr Leben ist sicherlich nicht glanzvoll. Ehemänner in Wolfsburg scheinen sie nicht besonders zu schätzen. Deutsche Zeitungen schreiben, dass die Frauen sie viel sympathischer finden. Wenn man sie so gelangweilt auf der Straße oder in ihren Unterkünften sieht, glaubt man das nicht. Viele sind zu geschickten Köchen geworden. Man kann eben nicht immer nur von Bier, Sauerkraut und Kartoffeln leben. Einige spielen endlose Partien Karten, wieder andere trainieren den Twist. Mangels bessere Alternativen tanzen die Männer miteinander wie im Schulinternat.
Interessant. Während die deutsche Wochenschau gönnerhaft über die Verdienstmöglichkeiten berichtet, thematisiert die italienische das Leben abseits der Arbeit. Was auf jeden Fall mitschwingt, ist der Umstand, dass die Männer fern ab der Familienleben, ihre Frauen, Kinder waren ja offenbar nicht mit in Deutschland.
Nein, in der Regel nicht. Viele kamen allein und das hatte dann auch direkte Auswirkungen auf die Emanzipation von Frauen, erzählte mir Edith Pichler.
Zunächst sind die Männer gekommen. Es gab so diese Phänomene, sogenannte „Vedove Bianche“ die weiße Witwen. Also die waren nicht Witwen, aber die Männer waren weg. Die kamen einmal im Jahr und dann sind die Bambini „entstanden“. Und es war auch ein Problem. Sie hatten dann in dieser Zeit eine sehr wichtige Rolle in der Familie. Sie waren diejenigen, die die Familie verwaltet haben und so weiter. Und das war natürlich ein Problem als sie nach Deutschland kamen. Wenn diese Familienzusammenführung stattfand. Wo sie dann wieder diese Hausfrauenrolle hatten.
Kommen wir nochmal zurück zur Geschichte von Giovanni Police. Wir hatten darüber gesprochen, dass sein Vater 1960 durch die „Hölle von Verona“ gehend nach Deutschland kam. Wie ergeht es ihm?
Er war einer dieser Familienväter, der Frau und beide Kinder zurücklassen muss. Von Unterkunftsbedingungen wie in Wolfsburg kann Giovanni Policis Vater nur träumen.
Er wurde in einer Baracke untergebracht, mit drei anderen. Ohne fließendem Wasser, ohne sanitäre Anlagen und alles. Also die haben da zu viert.... Und das war dann schimmelig und alles. Ich erzähle das, weil mein Vater zum Glück fast 103 Jahre alt geworden ist. Da hat er sich immer gefragt, ich weiß gar nicht, wie ich so alt werden konnte? Bei dem Leben, was er alles mitgemacht hat, wie er gelitten hat.
Und zu den sehr, sehr unangenehmen Erfahrungen zählen dann natürlich auch Diskriminierungen. Damals gibt es eine Reihe von Restaurants, Kneipen und Tanzcafés – so hieß das damals – mit Schildern wie „Italiener unerwünscht“ und „Kein Zutritt für Italiener“.
Das hat mein Vater immer wieder erzählt. Der Vater war ein einfacher Mensch und hat gearbeitet und nur für die Familie. Er hat Überstunden gemacht und alles. Aber als er in den 60ern nach Deutschland kam, und ist es ihm auch schon passiert. Weil damals die Italiener, die zunehmend auch bei den Frauen gut ankamen.. Da gab es Eifersüchtigkeiten. Und auch dadurch bedingt, dass manche unschöne Sachen vorgekommen sind. Dann war so ein Stempel: Italiener haben immer ein Messer im Sack. Und Sizilianer, denen kann man einfach nicht trauen.... Solche Geschichten gab es ja auch.
Irgendwie klingt dieses Narrativ sehr bekannt, der Migrant, der schnell das Messer zückt...
Ja, ein Motiv, das sich von den angeblich schnell reizbaren, über-emotional agierenden Italienern dann später auf türkische Männer übertrug und heute eben auf andere migrantische Communities. Das ist natürlich eine haltlose Gruppenzuschreibung, ohne hier negieren zu wollen, dass es Einzelfälle gab und gibt. Ich finde es aber schon interessant zu sehen, dass diese Erzählungen bereits vor 60, 70 Jahren existierten und damals Italiener betrafen.
Was heute wohl kaum noch jemand so machen würde. Italienerinnen, Italiener, die gelten ja schon als die „beliebtesten Migrantinnen“ in Deutschland.
Genau, Giovanni Pollice kämpft übrigens schon seit Jahrzehnten gegen Diskriminierung, gegen Rassismen auch in der Arbeitswelt. Er war lange Vorsitzender der „Gelben Hand“, das ist ein gewerkschaftsnaher Verein. Wegen seines Motto „Mach meinen Kumpel nicht an“ ist er auch als Kumpelverein bekannt. Als Vorbild diente die „SOS Racisme“ Kampagne in Frankreich.
Wann ist Giovanni Pollice nach Deutschland gekommen? Ursprünglich war ja nur sein Vater hier.
We bei vielen anderen Familien ist der Plan: Der Vater geht eine Zeit nach Deutschland und wenn es in Italien wirtschaftlich besser läuft, kehrt er zurück. Doch dazu kommt es dann nicht.
Dann hat er gemerkt, dass die Perspektive nicht gut war in Italien und hat sich dann entschieden, die Familie nachkommen zu lassen. Wir sind 1966 nachgekommen. Meine Schwester, ich und meine Mutter. Das war also schon ganz, ganz schlimm für mich. Ich habe mich einerseits gefreut, mit meine, Vater zusammen zu sein. Der hat mir gefehlt, sechs Jahre. Als er gegangen ist, war ich gerade sechs. Und einmal im Jahr ihn zu sehen.... Die Freude, die weilte aber nicht lange. Nach sechs, acht Wochen war ich schier verzweifelt, weil ich hier die Sprache nicht gesprochen habe. Ich kannte auch niemanden. Ich habe keine Freunde gehabt. Ich konnte mich nicht austauschen. Und dann habe ich gesagt: Ich will wieder zurück.
Ich kann mir vorstellen, dass das für die Familie sehr belastend war. Ähnliche Situationen gab es sicher auch bei anderen. Wie hat er das überstanden?
Durch etwas, was auch heute noch hilft: Mitgefühl und Solidarität.
Ich habe Glück gehabt, da war nämlich ein Lehrer, der mich ganz unterstützt hat. Er hat sich Zeit genommen, auch nachmittags, privat, ohne Geld, unentgeltlich. Dem bin ich heute noch dankbar, dass er mich stark unterstützt hat. Dann wurde ich sicherer, weil diese Unsicherheit, die war ja ganz groß. Ich habe immer darunter gelitten, wenn ich gesehen habe, dass Mitschülerinnen und Schüler lachen. Ich habe immer gedacht, die lachen über mich. Obwohl das gar nicht der Fall war. Psychisch war ich also wirklich total unten. Und das hat sich dann langsam verbessert. Ich war eigentlich ein guter Schüler in Italien. Aber das hat nicht gereicht für ein Studium beziehungsweise für das Gymnasium, weil einfach mein Deutsch schlecht war.
Giovanni Pollice hat deshalb eine Berufsausbildung gemacht.
Im Betrieb, wo ich gearbeitet habe, das ist ein Betrieb aus der Papiererzeugenden Industrie mit damals 700 Beschäftigten. Anteil der Italiener waren 25%. Die haben nur einfache Tätigkeiten gemacht, also die am schlechtesten bezahlten. Das ist auch ein Grund gewesen, wo ich gesagt habe: Warum? Die sind auch schon länger hier, die können auch was! Die können auch gefördert werden. Diese Ungerechtigkeit, die ich da empfunden habe, hat mich dazu bewegt zu sagen: Jetzt muss ich mich da engagieren.
Und das war bei ihm dann die Gewerkschaft, bei der er später hauptberuflich gearbeitet hat.
Wie haben die Gewerkschaften in den 50er und 60er Jahren auf dieses Anwerbeabkommen reagiert? Wie sind sie auf die neuen ArbeitnehmerInnen zugegangen?
Am Anfang war das eher zögerlich. Die ausländischen Arbeitnehmer*innen wurden als Bedrohung wahrgenommen. Das wurde auch bei der DGB-Tagung zu „70 Jahre Anwerbeabkommen“ ziemlich selbstkritisch angesprochen. Aber nach einer Weile sind es dann eben vor allem Betriebsräte, Vertrauensleute der Gewerkschaften in den Fabriken und Werkhallen, die sich um die Rechte der italienischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer kümmern. Da gab es dann eine echte Kehrtwende. Lorenzo Annese, der ja der erste Italiener im Wolfsburger VW-Werk war. Der wird später auch der erste ausländische Betriebsrat in einem deutschen Unternehmen, bevor das überhaupt gesetzlich erlaubt war.
Und wie ist es dazu gekommen, wieder so ein kleiner Trick?
Eher eine Provokation würde ich sagen. Die IG Metall stellte ihn zur Betriebsratswahl einfach auf, wohlwissend, dass das rechtlich nicht möglich ist.
1965 war eine Betriebsratswahl. Da war auch nicht geregelt, dass Ausländer kandidieren durften. Wir durften wählen, aber nicht kandidieren. Und die IG Metall hat dann gleich provoziert, also mich auf die Liste gesetzt. Und der Wahlausschuss, sagte Nein! Es gab Gespräche VW, Betriebsrat und Behörde. Sie haben gesagt, wir novellieren das neue Betriebsverfassungsgesetz in zwei Jahren. Ich durfte auf der Liste bleiben. So bin ich 65 Betriebsratsmitglied geworden. Wo der Wille ist, ist ein Weg. Daran liegt das. Probleme hat es gegeben, wird es geben! Es muss nur der Wille da sein, die Probleme zu lösen.