Italienische Gastarbeiter*innen in Deutschland - Deutsches Dolce Vita. Folge 3/3

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Mittlerweile arbeiten bei Volkswagen weit über 100 Nationalitäten zusammen. Wenn ich jetzt sage, wir bräuchten das jetzt alles nicht mehr und wenn die weg sind, ändert sich bei uns nichts und wir sind dann trotzdem erfolgreich, dann erschließt sich eigentlich von alleine, dass das gar nicht sein kann. 

Das sagt Daniela Cavallo. Seit 2021 ist sie Vorsitzende des Gesamt- und Konzernbetriebsrats von Volkswagen. Zuständig für mehr als 600.000 Beschäftigte. Sie wird deshalb oft als mächtigste Arbeitnehmer*innen-Vertreterin Europas beschrieben. Manche sagen, das gelte sogar im weltweiten Vergleich. Daniela Cavallo ist die Tochter eines Italieners. Er kam als sogenannter „Gastarbeiter“ in die Bundesrepublik. Später kam auch seine Frau, Daniela Cavallos Mutter, nach Wolfsburg. Beide arbeiteten für Volkswagen. Und damit herzlich Willkommen zur dritten und letzten Folge unseres dreiteiligen Böll.Podcast zu „70 Jahren Anwerbeabkommen zwischen Italien und Deutschland“. Ich bin Emily Thomey. In dieser Episode schauen wir darauf, wie sich die deutsche Gesellschaft in Folge des 1955 geschlossenen Abkommens verändert hat. Auf der Suche nach dem „Deutschen Dolce Vita“, begleitet mich – wie schon in der ersten Folge –  Heiko Kreft. Heiko, wir haben in der ersten Folge über die Anfangsjahre der italienischen Arbeitsmigration nach Deutschland gesprochen... 

… vor allem auch über die Schwierigkeiten, die die Männer hatten, die damals kamen. Es waren ja vor allem Männer. Einer davon war Daniela Cavallos Vater. Und später auch ihre Mutter. Dass sie heute an führender Stelle in dem Konzern sitzt, bei dem sie einst als einfacher Arbeiter anfingen – das ist schon eine echte Erfolgsgeschichte.

Ich glaube, es ist keine Selbstverständlichkeit, dass wir jetzt heute hier sitzen nach 70 Jahren und darüber sprechen können, dass es positive Beispiele gibt von Integration, Teilhabe, Vielfalt. 

Sagte Daniela Cavallo bei einer Tagung des Deutschen Gewerkschaftsbundes zu „70 Jahre Anwerbeabkommen“, bei der ich dabei sein konnte. 

Daniela Cavallo ist 1975 in Wolfsburg geboren, wie wichtig ist ihr eigentlich die italienische Familiengeschichte?

Ziemlich wichtig. Das hat sie in den vergangenen Jahren immer wieder in Interviews gesagt. Aber nicht so, dass es alles überstrahlen würde. Als sie 2021 Vorsitzende des Gesamt- und Konzernbetriebsrats wurde, sorgte das auch in Italien für Schlagzeilen und für Jubel in Wolfsburg

Was mir vorher gar nicht so persönlich präsent war: Wie wichtig das offensichtlich auch gewesen ist, als ich Vorsitzende geworden bin, dass jemand an dieser Stelle in einem Konzern von über 600.000 Beschäftigten an die Spitze des Betriebsrats gewählt wird, die eine Frau ist und auch noch Migrationsgeschichte hat. Ich glaube sogar noch mehr von den Kolleginnen und Kollegen, die jetzt schon zu Hause sind, aus der ersten Generation, muss ich sagen, weil das für diese Kolleginnen und Kollegen was ganz Besonderes ist. Weil die sagen, was sie alles durchmachen mussten, um da anzukommen, wo sie dann am Ende angekommen sind und dass dann gerade an so einer Stelle dann jemand von ihnen sozusagen hinkommt. 

Dieses Durchhalten, Entbehrungen wegstecken, auch mit Blick auf die Zukunft der eigenen Kinder – in der deutschen Mehrheitsgesellschaft, wird dieser Kraftakt oft gar nicht so richtig wahrgenommen. Geschweige dann wertgeschätzt ....

Oft auch aus der Situation des Nicht-Betroffen-Seins heraus. Das ist hier gar nicht als Vorwurf gemeint. Wenn man selbst nie in der Situation war oder ist, zu erleben, was es bedeutet, wenn beispielsweise der Vater über Jahre hinweg nur einmal im Jahr für ein paar Wochen nach Hause kommt, dann ist das schwer nachvollziehbar. Über diese Lage italienischer Arbeitsmigratinnen und Migranten habe ich mich auch mit Tonia Mastrobuoni unterhalten. Sie ist die Deutschland-Korrespondentin der italienischen Tageszeitung „La Repubblica“ und kennt das Pendeln zwischen Italien und Deutschland aus eigenem Erleben.

Ich kann mich auch erinnern, als ich ein Kind war und nach Deutschland meine Großeltern besucht habe im Zug. Und da waren diese unglaublichen Familien, Gastarbeiter, die kamen aus Sizilien, aus Kalabrien, aus Apulien. Die sind 24 Stunden lang, waren die im Zug und hatten da und haben dann, keine Ahnung, ihre Väter, ihre Männer besucht. Oder umgekehrt, die Männer und die Väter gingen zurück zur Arbeit. Das hat mir so viel Respekt eingeflößt, diese Familien wirklich zum Teil sehr arm und die hatten dann ihre Frittatas mit, ihre Omelettes, ihre Pasta, ihre Parmigiana, haben sie da mitgenommen. Haben sie natürlich auch allen angeboten. Es war eine große Würde in diesen Reisen, in diesen Opfern, die diese Generation an Italienern gebracht haben.

In der ersten Folge dieser Böll.Podcast-Reihe haben wir Giovanni Pollice kennengelernt. Er erzählte uns, dass sein Vater ursprünglich nur für ein paar Jahre nach Deutschland gehen wollte. Das war 1960. Am Ende ist die Familie dann nachgekommen. Für immer. Wie typisch ist das eigentlich für Menschen, die mit durch das Anwerbeabkommen in die Bundesrepublik Deutschland kamen?

Für die, die tatsächlich geblieben sind, ist es sehr typisch. Das hat mir Tonia Mastrobuoni bestätigt.

Sie interviewt immer wieder frühere sogenannte „Gastarbeiterinnen“ und „Gastarbeiter“.

Viele haben mir erzählt: Ich bin hier hingekommen mit der Idee, nach ein paar Monaten, ein paar Jahren wieder zurück zu meinem Dorf nach Kalabrien zu fahren oder Apulien oder Sizilien. Aber inzwischen, ich bin schon so lange Jahre hier, wenn ich mal in mein Dorf zurückkehre, in den Urlaub oder so, in den Ferien, dann werde ich immer der Deutsche genannt.

Auch aus dieser Situation heraus, würden sich die, die geblieben sind mit ihrer neuen Heimat, der Zweitheimat identifizieren. Erst Recht natürlich deren Kinder, die hier geborenen und aufgewachsenen sind.

Sie fühlen sich inzwischen sehr gebunden auch an Deutschland. Sie sind Deutsche, sie fühlen sich als Deutsche, auch wenn sie keinen deutschen Pass haben. Und ich glaube, das ist ein sehr wichtiger Aspekt, diese Vermischung. 

Gibt es eigentlich Statistiken, wieviele Menschen in Deutschland einen italienischen Migrationshintergrund haben?

Sagen wir mal so: Es gibt Zahlen. Aber, die sind mit Vorsicht zu verwenden. Die Statistischen Ämter führen ja – zum Glück – keine Familienstammbäume. In Deutschland leben demnach etwa 850.000 Menschen, die einen italienischen Migrationshintergrund haben. Das ist die geschätzte Zahl. Eine belastbare Zahl ist die Zahl von Menschen mit italienischer Staatsbürgerschaft, die in Deutschland leben. Das sind – Stand 31.12.2024, der aktuellste Stand – rund 637.000 Personen. Übrigens zogen allein 2024 etwas mehr als 41.000 Italienerinnen und Italiener nach Deutschland.

Das erscheint mir relativ viel. Was sind die Gründe?

Italien liegt damit tatsächlich unter den Top 10 der Zuzugsländer. In den letzten Jahren seien es aber nicht nur wirtschaftliche Ursachen, sagt Tonia Mastrobuoni.

Es sind negative Aspekte, die viele junge Leute aus Italien ausgetrieben haben. Ich spreche jetzt nicht von den Gastarbeitern. Gastarbeiter, klar, das war Armut, das war Nachkriegszeit und die wollten einfach einen Job. Aber ich spreche jetzt von meiner Generation. Ich bin 54 oder auch von der Generation der 40-Jährigen, 30-Jährigen. Die sind von Italien weggegangen, zum Beispiel in den Berlusconi-Jahren. 

Also auch gesellschaftliche und politische Gründe. In Deutschland seien aber auch die Entfaltungsmöglichkeiten besser. Für uns mag es sich seltsam anhören, aber hier in Deutschland sei es einfacher, beispielsweise ein Start-Up zu gründen. Tonia Mastrobouni hat mir da ein interessantes Beispiel erzählt.

Ich habe einen Start-uper kennengelernt, der heißt Federico Frascà. Ein absolutes Genie. Er ist hierhin gekommen, hat eine Start-up gegründet, hat ja einen Algorithmus erfunden. Der kalkuliert, wie viel Freiraum in einem Lkw, in einem Flugzeug oder in einem Zug ist, wo er seine Päckchen dann verschanzen kann. Das heißt, er hatte eine Logistikfirma, ohne einen einzigen Lkw zu haben, ohne ein einziges Flugzeug zu haben, ohne einen einzigen Zug zu haben. Das ist eine geniale Idee. Dieses Start-up wurde dann nach wenigen Jahren schon Millionen wert und wurde dann verkauft. Er hat mir immer gesagt, ich habe so eine Sehnsucht nach Bologna, das war seine Stadt, aber ich sehe überhaupt keine Chancen, mich dort zu entwickeln. Die Banken sind konservativ, das heißt, wenn ich eine Idee habe in Italien und ich will sie entwickeln, welche Bank leiht mir Geld? Das ist ganz, ganz schwierig. Wenn du zu einer Bank willst als kleiner, junger Unternehmer und willst irgendwie Geld ausleihen, weil du eine tolle Idee hast, dann musst du als Garantie, keine Ahnung, deine Eltern haben, dein Haus, das Haus deiner Großeltern. Und so was ist natürlich anstrengend. Das fördert nicht unbedingt die Kreativität. 

Deutschland profitiert sicher von solchen Einwandernden aus Italien. Gibt es noch andere Gründe, warum junge Menschen hierher kommen? 

Ja und das ist etwas, was sich sehr mit den Problemen aus der Zeit des Anwerbeabkommen ähnelt.

Das Lohngefälle zwischen beiden Ländern, beziehungsweise die schlechte Bezahlung in Italien.

Die zweitgrößte akademische Gruppe von Ausländern in Deutschland, das sind Italiener. Sie fliehen von einem Universitätssystem, das in Italien immer noch sehr feudalistisch ist. Also da zählt nicht die Begabung oder die Veröffentlichungen, sondern wie treu man seinem Professor ist. In Italien gibt es keinen Mindestlohn. Und die Eingangslöhne für junge Leute sind einfach... Sehr, sehr niedrig. Also es gibt Journalismuslöhne, die sind einfach unerträglich niedrig. Vier Euro die Stunde, fünf Euro die Stunde, das ist wirklich kein Lohn. Und das ist auch einer der Gründe, warum ausgebildete Ärzte, Ingenieure, Architekten lieber in Deutschland arbeiten, weil sie dort einfach besser bezahlt werden. Deswegen sind auch zum Beispiel die Goethe-Kurse, um Deutsch zu lernen, die sind voll in Italien, weil sie eben in Deutschland wissen, dass sie eine bessere Arbeit bekommen. 

Unabhängig von diesen Gruppen gibt es aber auch zunehmend junge Leute aus Italien, die in eher schlechter bezahlten Dienstleistungsberufen arbeiten.

In Berlin gab es kaum Italiener in den 70er-Jahren. Ich glaube, dass es einige hundert waren. Inzwischen sind es 40.000. Also das heißt, auch in einer Stadt, wo keine Fabriken sind, die zieht auch viele Leute an. Einige der schönsten Raves in Berlin, ich spreche da von „Buttons“ oder „Cocktail d' amore“ oder so, die sind von Italiener organisiert. 

Und damit sind wir bei einem spannenden Aspekt von „70 Jahre Anwerbeabkommen“. Den kulturellen Einfluss. Wie hat die Zuwanderung aus Italien Deutschland verändert? Wie sehr ist das „Dolce Vita“-Gefühl bei uns gestiegen?

Um mindestens 200%!

Wie bitte?

200% ist die Steigerung des Pro-Kopf-Verbrauch von Pasta in Deutschland seit den 80er Jahren.

Für die Zeit des Anwerbeabkommens, also 1955, gibt es keine Statistik. Denn Spaghetti waren damals in Deutschland Ost und West absolut exotisch. Heute isst jeder Deutsche statistisch gesehen 10 Kilo Nudeln pro Jahr. Bei mir sind es eher 20. 

Kann man sich kaum vorstellen, dass Pasta exotisch war. Was haben bloß die ganzen Kantinen damals serviert?!?!

Mutmaßlich Kartoffeln mit Kartoffeln

Mir fallen da auch andere Lebensmittel ein, die – nicht nur aber vor allem durch – italienische Einwanderung und Urlaube in Italien populär wurden: Olivenöl, Zucchini, Auberginen, Mozzarella....

Wie ungewohnt Nudeln – um mal bei dem Beispiel zu bleiben – damals in Deutschland waren, zeigt eine aus heutiger Perspektive ulkige Pressemitteilung vom Stuttgarter Landesarbeitsamt aus dem Jahr 1960. Da geht es um das richtige Kantinenessen für italienische Mitarbeitende.

In der Pressemitteilung heißt es: „Der Italiener liebt im Allgemeinen keine flüssigen und dünnen Soßen, insbesondere keine Mehlsoßen. Zu Teigwaren, die nicht zu weich gekocht werden sollten, gibt man Tomatensoße.“

Dass zu „Teigwaren“ eine Tomatensoße gereicht wird als Info in einer Pressemitteilung des Arbeitsamtes?! Das illustriert sehr gut, wie fremd es 1960 gewesen sein muss...

Und über „Spaghetti Bolognese“ haben wir da noch gar nicht gesprochen! Dazu passt auch eine schöne Anekdote von Don Battista Mutti. Er war der erste italienische Seelsorger in Stuttgart und kümmerte sich um die Anliegen von sogenannten „Gastarbeitern“. Auf einem der Bauernhöfe gab es damals ein Problem. Da ist der Don dann hin und fragte, den Bauern, was es für die Italiener zu essen gäbe. Sagt der Bauer: „Das Beste, was wir haben: Blutwurst und Kraut.“ Und als Don Battista Mutti ihm den Tipp gibt, Spaghetti zu machen, sagte der Bauer: „Schicken Sie mir ein Pfund Samen, ich werde sie anbauen.“

Oha! Und wie sind die Deutschen dann auf den Spaghetti.Geschmack gekommen?

Einmal natürlich durch die Möglichkeit nach Italien zu fahren. Das Wirtschaftswunder, das erste eigene Auto machen es möglich: Ab auf den Teutonen-Grill in Rimini. Da probierten die ganz Mutigen auch mal die fremde Küche aus. Massenkompatibel werden Spaghetti dann aber interessanterweise durch ein Industrieprodukt: Miracoli. Das wird 1961 in Deutschland auf den Markt gebracht. Und zwar nur bei uns und in Österreich. Vom amerikanischen Lebensmittelkonzern Kraft. Die Sozialwissenschaftlerin Edith Pichler, wir haben sie ja schon in den beiden anderen Folgen gehört, sagt dazu ironisch....

Durch Miracoli sind auch die Deutschen zu „Spaghetti-Fressern“ geworden. Und jetzt sind wir Träger von Lifestyle, von Dolce Vita, von Gutem Geschmack. Aber da muss man aufpassen, dass diese Stereotypen – jetzt sind sie positiv – aber da sind immer noch Stereotypen, weil man sagt zum Beispiel: „Ich war beim Italiener“. Wie beim Italiener? Man braucht gar nicht sagen „essen“. Wo warst du beim Italiener? Welcher Italiener? Aber jetzt plötzlich ist „Italiener“ Synonym für Gastronomie, für Essen. Ein Italiener kann auch Ingenieur sein. 

Unabhängig davon - es ist doch schon interessant, wie groß der Einfluss der italienischen Esskultur in Deutschland mittlerweile ist. Es gibt wahrscheinlich keine Stadt in Deutschland, in der es kein italienisches Restaurant gibt....

Ja und selbst die Art und Weise, wie wir beispielsweise Dinge genießen hat sich verändert

einen Cappuccino, einen Espresso? Am liebsten draußen sitzend! Das machen die Deutschen mittlerweile sehr gründlich und gewissenhaft, scherzt Edith Pichler.

Jetzt ist nur ein bisschen Sonne und schon werden die ersten Tische auf den Bürgersteig gestellt oder die Piazza. Es gibt natürlich Decken. Da ist das deutsche Leben ein bisschen „mittelmeerisch“ geworden. Da ist so ein bisschen Leichtigkeit gekommen. Dass viel häufiger die Deutschen draußen sitzen als die Italiener selbst, die frieren vielleicht. 

Das es heute in Deutschland etwa 15.000 italienische Restaurants gibt, hängt übrigens mit dem Ende der ursprünglichen „Gastarbeiter“-Tätigkeit zusammen. Spätestens mit der Ölkrise in den 70er Jahren endete das deutsche Wirtschaftswunder. Italienerinnen und Italiener, die bleiben wollten, suchten nach neuen Möglichkeiten.

Die haben angefangen, deutsche Restaurants zu übernehmen. Deswegen hatten die ersten italienischen Restaurants so ein Interieur wie deutsche Kneipen. Also mit viel Holz. Sie haben angefangen, das zu kochen, was die Touristen aus Italien kannten. Einfache Küche. Weil es damals noch keine Zutaten gab. Man hat statt Mozzarella Gouda genommen und statt Salami Picante eine deutsche Wurst genommen. Aber langsam, langsam wurde es immer besser. 

Pizza mit Bierschinken-Belag ist also zum Glück eher ein Ding der Vergangenheit...

Auch mit Popkultur hat Italien Deutschland verändert. Ich sag nur: Italo-Disco! Ganz groß in den 80ern. Genauso wie Eros Ramazzotti,  Gianna Nannini und Paolo Conte....

…. und dann gibt es natürlich noch die Lieder aus Deutschland, die zu Hits wurden. Zum Beispiel „Carbonara“ von der deutschen Band Spliff. Geschrieben 1982. Da wird zu Reggae-Klängen – warum auch immer?!? - pseudo-italienisch gesungen.

Ok, dass ist so 80er-Quatsch-Musik. Es gibt aber einen Schlager, der ist schon ziemlich krude: „Zwei kleine Italiener“.

Oh ja! Da kommen wir nicht drum rum. Geschrieben und aufgenommen Ende 1961. Conny Froboess gewinnt damit 1962 die Deutschen Schlagerfestspiele. Wir befinden uns in der Zeit, in der die Zuwanderung aus Italien gerade einen zahlenmäßigen Höhepunkt erreicht. Und dann singt das „deutsche Fräulein“ das hier:

Zwei kleine Italiener // Am Bahnhof, da kennt man sie // Sie kommen jeden Abend // Zum D-Zug nach Napoli // Zwei kleine Italiener // Die schaun hinter drein // Eine Reise in den Süden // Ist für andre schick und fein // Doch die beiden Italiener //Möchten gern zuhause sein.

Klingt schon ein wenig zynisch. Sie schauen dem Zug hinter drein... 

Der Song gilt als erster populärer deutscher Schlager, der sich mit sogenannten Gastarbeitern beschäftigt.

Gut gemeint ist eben nicht immer gut gemacht..

Nö! „Zwei kleine Italiener“ ist aber ein ziemlich faszinierendes zeithistorisches Dokument. Es erzählt ungewollt viel über den deutschen Blick  auf die damals ja noch völlig neue Gruppe von Mitmenschen – Arbeitsmigranten. Edith Pichler findet das Lied jedenfalls sehr aussagekräftig

Die „kleinen Italiener“ wollen zu Hause sein und warten auf Maria und blah, blah, blah. Die mussten da warten und träumen von Strand und Palmen. Aber warum sind sie am Bahnhof? Sie wohnten in diesen Wohnheimen. Sie hatten kein Salon, kein Wohnzimmer, wo sie sich unterhalten konnten. Der Bahnhof war ihr Wohnzimmer. Und dann kamen die Züge, sie brachten auch Informationen. Der Zug aus Napoli kommt und brachte Informationen aus der Heimat, weil es damals kein WhatsApp und so weiter gab. Will sagen: in diesem Lied ist keine Empathie für diese Menschen. Das ist so ein Klischee, die zwei kleine Italiener. Das ist so auch verniedlichend und so. Die zwei kleine Italiener sind immer noch Bambini.

Dieses Infantilisieren von Italienern zeigt sich selbst noch in den 90er Jahren. Da gibt es doch diesen Werbespot. Mit diesem verspielten, verführerischen, leicht unseriösen Cappucino-Mann. Der lockt ne blonde Frau in seine Wohnung, weil sie nen Falschparker sucht. Und erst nachdem er ihr nen Kaffee gemacht hat, säuselt er: „Isch habe gar kein Auto....“

Das sind so abgreifbare Stereotypen, die weit verbreitet sind: „Nett, aber nicht ganz zuverlässig“.

Selbst im linken Spektrum wird in den 60er Jahren mit Stereotypen gearbeitet. Edith Pichler hat mich auf das Lied „Tonio Schiavo“ von Franz Josef Degenhardt aufmerksam gemacht. Degenhardt war damals ein ganz populärer, gesellschaftskritischer Liedermacher. Im Song „Tonio Schiavo“ von 1966 besingt er das Schicksal eines Süditalieners in Herne.

Er ist weggegangen aus Süditalien.  Seine Familie mit 8 Kindern wohnt in einem Zimmer. Die Schwester ist auch dabei. Eine große Familie, viele Kinder. Hier wird er ausgebeutet und er muss viel arbeiten und so weiter. Und dann gibt es Streit mit dem Polier.

Und an der Stelle schauen wir am besten mal kurz auf den Songtext: „Richtiges Geld schickte Tonio nach Hause // Sie zählten's und lachten im Mezzo Giorno // Er schaffte und schaffte für zehn auf dem Bau // Und dann kam das Richtfest und alle waren blau // Der Polier der nannte ihn "Itakersau".“

Und was dann? Tonio Schiavo nimmt sein Klappmesser. Das ist ein Stereotyp! Die Italiener haben immer ein Klappmesser dabei. Also etwas was positiv hätte sein sollen, ist hier jetzt im Nachhinein negativ. Am Anfang des Liedes spielt die Gitarre mit einer Melodie wie „O Sole Mio“.  Auch hier wird ein bisschen mit Bildern gearbeitet, also mit Projektionen. 

Da haben wir wieder das Motiv des ausländischen „Messermanns“. Darüber haben wir ja schon in der ersten Folge gesprochen...

Obwohl das Lied „Tonio Schiavo“ einfühlsam gemeint ist, nutzt es dieses Klischee. Ich denke auf jeden Fall erzählen diese beiden Lieder von 1961 und 1966 sehr viel mehr über die damalige deutsche Mehrheitsgesellschaft als über die italienischen Arbeitskräfte in Deutschland.

Wenn wir hier schon im popkulturellen Bereich sind: Kino hatte ja lange Zeit auch eine ganz wichtig Funktion im kulturellen Austausch.Wie sieht es da zwischen Deutschland und Italien aus?

 Auf jeden Fall ebenfalls sehr prägend. Da sind so große italienische Regisseure wie Visconti, Pasolini, Bertolucci, Fellini. Und Edith Pichler sagt:

Die waren sehr wichtig für eine bestimmte deutsche Elite oder Intellektuelle, Akademiker. Diese Neorealismus und so weiter. Die Italo-Western von Leone, das war ganz toll. Dann die Schauspielerinnen, die bekannt sind. Claudia Cardinale, die gerade gestorben ist. Sofia Loren. Lebt immer noch. Gina Lollobrigida. Dann: Bud Spencer! War mehr so für die Masse, für die jungen Leute. Das habe ich auch geguckt, die fand ich lustig. Zumal Terence Hill Deutscher ist. Ein Sachse!! (lacht) Deswegen hat er so schöne blaue Augen.... (lacht)

Terence Hill ein Sachse?! Man lernt nie aus!

Ja, die Mutter stammt von da. Der Vater war Italiener.

Ich frage mich, ob er im Italienischen nen sächsischen Dialekt hat...

Sehr gute Frage! Habe ich leider vergessen, Edith Pichler zu fragen. Sie hat mir aber erzählt, dass der deutsch-italienische Kulturaustausch anfangs vor allem privaten Initiativen zu verdanken war.

Zum Beispiel in West-Berlin.
 

Es gab ein bekanntes Restaurant, geführt von jungen Italienern. Die hatten so einen Verein gegründet. Man hatte die Möglichkeit, Italienisch zu lernen.  In Berlin gab es damals kein italienisches Kulturinstitut. Diese Bar diente fast als Kulturinstitut Italiens in Berlin. Damals kamen die Videofilme auf, da wurden Filme gezeigt. Also eine Reihe von Initiativen, die aus der Community entstanden sind. 

Dieses gegenseitige Rezipieren habe es auch in Italien gegeben, erzählte mir Tonia Mastrobuoni.

In Italien, gab es eine große Liebe für diese Generation der Regisseure, Wim Wenders, Fassbinder, Herzog. Die waren alle sehr geliebt und dann gab es irgendwann zwischendurch eine Manie auch für Edgar Reitz und so. Hier hat man ja auch sehr viel Visconti geliebt. Und er hat sich ja auch der deutschen Literatur gewidmet. Ich meine, eines seiner Meisterwerke ist ja „Tod in Venedig“ von einer Erzählung von Thomas Mann. Auch die deutschen Schriftsteller, die waren sehr gelesen, auch Peter Schneider oder ein großer Theaterregisseur Peter Stein, der hat ja seit Jahrzehnten auch Erfolg in Italien. Und ich denke, das hat sich irgendwann ein bisschen gelegt. Diese gegenseitige Neugierde ist schwächer geworden. Die Deutschen scheinen mehr Interesse zu haben an Frankreich, an den Vereinigten Staaten, an anderen Länder, weniger an Italien und genauso umgekehrt, also die Italiener lesen die Franzosen viel mehr als die deutschen Schriftsteller oder die Spanier oder die Amerikaner. 

Das klingt nach „70 Jahre Anwerbeabkommen“ eher ernüchternd, was die deutsch-italienische Wahrnehmung betrifft. Zumindest auf kultureller Ebene. 

Vielleicht ist auch Ausdruck einer deutsch-italienischem „Normalität“. Dieses Auseinanderdriften sei jedenfalls kein neues Phänomen. Es zeichne sich seit einiger Zeit ab.

Es gibt einen ganz großen Historiker in Italien. Ich finde, das ist einer der Historiker, der am besten Deutschland verstanden hat, obwohl er sich nicht nur mit Deutschland beschäftigt hat. Und der heißt Gian Enrico Rusconi. Ich liebe ihn sehr. Und er hat in den letzten Jahren, zumindest in den Berlusconi-Jahren, hat er von dieser schleichenden Entfremdung gesprochen. Ich finde, das ist ein wunderschöner Ausdruck. Diese Neugierde und diese Nähe zwischen Italien und Deutschland... kulturell sehe ich sie sehr, sehr wenig. Und das ist wirklich sehr schade. 

Wir haben diesen Podcast ja mit Daniela Cavallo begonnen. Als Vorsitzende des Gesamt- und Konzernbetriebsrats von Volkswagen – wie blickt sie auf die Rolle von italienstämmigen Mitarbeitenden? Spielt das noch eine besondere Rolle?

Jein, für sich persönlich ja und auch mit Blick auf die Geschichte. Immerhin gab es bei VW ja mit dem Italiener Lorenzo Annese den ersten ausländischen Betriebsrat in Deutschland. Aber:

Die Betriebsratsarbeit, wenn man die vergleicht mit der Zeit von Lorenzo und anderen, dann war es eher so, dass die Betriebsratsmitglieder damals mit italienischem Hintergrund auch für die Italienerinnen und Italiener zuständig waren und die am Anfang eher betreut haben, vertreten haben, unterstützt haben, während dann natürlich irgendwann das gewandelt ist, dass alle egal welche Nationalität sie haben, natürlich sich um alle Beschäftigten kümmern und nicht um eine spezielle Gruppe. 

Ist aus ihrer Sicht die Geschichte von Deutschland als Einwanderungsland eine Erfolgsgeschichte?

Da sagt sie eindeutig: ja. Auch wenn es durchaus Probleme gebe, die angepackt werden müssten

und vor allem auch nicht verschwiegen werden dürften. Aber das  „Anwerbeabkommen Italien-Deutschland“ das war bedeutend, weil es den Weg geebnet hat zu ähnlichen Abkommen mit anderen Staaten. Die 70 Jahre seien ein Grund zum Feiern.

Weil leider diese positiven Beispiele sehr in den Hintergrund geraten sind und nur noch über negative Dinge gesprochen wird. Und sehr stark auf dem Rücken von Menschen mit Migrationsgeschichte eigentlich die Probleme, die wir in der Gesellschaft ja definitiv haben, ausgetragen werden. Da erwarte ich einfach auch von verantwortlichen Politikerinnen und Politiker, dass sie ihrer Verantwortung nachkommen und nicht noch dieses Thema schüren.

Wie sehr diese Integration von einigen Italienerinnen und Italienern  gelungen ist, dazu hat mir Tonia Mastrobuoni übrigens eine ganz wundervolle Geschichte erzählt.

Ich habe früher bei der Tageszeitung „La Stampa“ gearbeitet und die gehört ja der Agnelli-Familie und der Familie gehört Fiat. Und als der große Diesel-Skandal 2015 kam... Winterkorn und so weiter. Da bin ich amTag danach sofort nach Wolfsburg. Irgendwann stand ich da auf dem Platz in der Innenstadt und da höre ich Italienisch reden. Und dann komme ich näher und dann sind da so eine Gruppe. Vier, fünf Rentner, italienische Rentner. Und ich komme da an und sage: Hallo, ich bin Tonia Mastrobuoni. Ich arbeite für „La Stampa“ und ich wollte wissen: Wie sieht es aus? Jetzt Diesel-Skandal, was machen Sie? Absolute Stille, da haben mich nur alle angeguckt. Also angestarrt. Nichts gesagt. Und ich so: Entschuldigung, vielleicht soll ich Deutsch reden? Dann meinte einer: Nein, nein, nein! Parla Italiano! Dann hab ich gesagt, ja, noch mal, ich bin Tonia Mastrobuoni, ich bin Korrespondentin, „La Stampa“. Ich wollte hier mal wissen, wie es euch geht und nach den Diesel-Skandalen, was ihr denkt und so. Dann steht einer auf und sagt: Sie sind eine Verräterin. Sie sind Konkurrenz. Sie sind „La Stampa“. Sie sind Fiat. Wir reden nicht mit Ihnen. Ich hab gesagt, ich bin Italienerin, so wie Sie. Und sie haben gesagt, nein, wir sind Volkswagen. Wir sind Italiener, aber in Deutschland und arbeiten für Volkswagen. Und Volkswagen ist unsere Familie. Das war unglaublich. 

Tja, die Familie steht eben über allem.