Nonna Mayer beobachtet als Politologin seit Jahrzehnten Wahlverhalten, Umfragen und insbesondere die Evolution rechtsextremer Parteien sowie die Einstellungen zu Rassismus und Antisemitismus. Als Forschungsdirektorin am renommierten CNRS (Centre national de la recherche scientifique) veröffentlichte sie zahlreiche, viel beachtete Arbeiten zu diesen Themen.
Wie hat sich die politische Landschaft in Frankreich in den letzten Jahren und Jahrzehnten verändert?
Ich sehe einen großen Bruch in der klassischen Parteienlandschaft, den traditionellen politischen Lagern, seit dem Jahr 1992, als der Vertrag von Maastricht verabschiedet wurde. Die Europa-Frage hat die klassische Links-Rechts-Spaltung aufgebrochen, denn es war die linke und rechte pro-europäische Mitte auf der einen Seite und die jeweils äußeren anti-europäischen Strömungen auf der anderen. Letztere hatten allerdings entgegengesetzten Gründe, Europa abzulehnen. Der Front National lehnte Europa damals aus Angst vor Identitätsverlust und Einwanderung ab, die Linke wiederum wegen ihrer Angst vor einem Europa des Finanzkapitals. Dieser Bruch hat sich dann erneut 2005 beim Referendum zur Europäischen Verfassung gezeigt. Und 2017 mit Macrons Diktum «weder links noch rechts» zog diese Frage auch in die Präsidentschaftswahlen ein. Also auch wenn Europa nicht als Thema von den Bewerbern hervorgehoben wird, so schwingt es doch im Unterbewusstsein der Franzosen und Französinnen mit. Es geht um Offenheit gegenüber der Welt oder Abgrenzungstendenzen. Macron hat mit dem Thema Europa nicht die Wahlen verloren, im Gegenteil, er hat es sich auf die Fahnen geschrieben. Um diese Karte erneut auszuspielen, wäre es ihm am liebsten, die Gegnerin in der zweiten Runde hieße Marine Le Pen, oder noch besser Éric Zemmour. Genau diese Konstellation aber ist es, die so frustrierend ist, denn sie reflektiert nicht die entscheidenden Zukunftsfragen, wie soziale oder ökologische Themen. Die Themen der Linken tauchen in diesem Duell nicht auf und daher rührt auch die große Zahl von Nichtwählern.
Wie überrascht sind Sie vom Verlauf dieses Wahlkampfs?
Was wirklich keiner vorhersehen konnte, war der Krieg in der Ukraine, der wirklich die Stimmung durcheinanderbringt. Wir wussten zwar schon, dass es ein ungewöhnlicher Wahlkampf wird, dass es sehr unvorhersehbar ist und die Dinge in Bewegung bleiben.
Wir sind kaum aus der Corona-Pandemie heraus. Die hat sich wirklich stark auf die Wählerschaft ausgewirkt, wie man bereits bei den letzten Regionalwahlen sehen konnte. Es gab eine immense Zahl von Nichtwählern oder Enthaltungen. Zwei Drittel der Wahlberechtigten sind nicht an die Urnen gegangen; unter den Jungen Menschen waren es sogar 85%. Das liegt aber nicht daran, dass es per se kein Interesse an Politik gibt, sondern an einer völligen Abkehr von der politischen Klasse. Es deutete sich bereits an, dass dies auch im Präsidentschaftswahlkampf eine Rolle spielen wird, obwohl dieser deutlich mehr Medienaufmerksamkeit erfährt und insgesamt auch mehr Menschen mobilisieren wird. Corona hat die Menschen demotiviert; obgleich Angst vor Inflation und vor der schwindenden Kaufkraft herrscht. Und nun kommt die Angst vor einem Krieg hinzu.
Normalerweise, heißt es, spielt die internationale Situation für die Wahlentscheidung der Menschen keine wichtige Rolle. Aber der Ukraine-Krieg verstärkt die allgemeine Unsicherheit. Noch nie gab es, einen Monat vor den Wahlen, so viele unentschiedene Wähler und Wahlberechtigte, die noch nicht wissen, ob sie überhaupt zur Wahl gehen wollen.
Es bleibt also noch eine große Gruppe, von der wir nicht wissen, wie sie sich entscheidet. Wir sollten uns auf jeden Fall vorsehen, zu schnelle Schlüsse aus Umfragen zu ziehen. Häufig schauen wir wie bei einem Pferderennen zu, wer gerade wie schnell oder langsam läuft, aber diese Umfragen muss man mit Vorsicht genießen. Die meisten, aktuellen Umfragen werden online durchgeführt, was zum einen zur Folge hat, dass dort die Wahlentscheidung durchaus ehrlicher offengelegt wird, als zum Beispiel bei einer direkten Befragung. Allerdings sind durch Online-Umfragen einige in der Bevölkerung ausgeschlossen; zum Beispiel ältere Menschen, ohne Internetzugang, bestimmte entpolitisierte Milieus, die keine Bereitschaft haben, an diesen Umfragen teilzunehmen.
Tendenziell sagen viele Umfragen für die Rechten mehr Prozentpunkte voraus, als sie womöglich bekommen werden. Der Rechtsruck, wie er sich am Ende in den Zahlen ausdrücken wird, liegt entscheidend an der Zahl der Wahlenthaltungen. Das gilt bei diesen Wahlen mehr als jemals zuvor.
Wie verändert der Krieg in der Ukraine den französischen Wahlkampf?
Für Macron ist die Krisensituation sozusagen von Vorteil, denn solche Art Ereignisse spielen meist den Amtsinhabern zu. Im Sturm stellt man sich eher hinter den Präsidenten. Andere Kandidaten und Kandidatinnen sind durch ihr zweideutiges Verhältnis zu Russland in Schwierigkeiten geraten. Ob Le Pen, Mélenchon oder Zemmour ... deren Haltungen zu Putin sind im Moment äußerst problematisch. Letztlich wird es vor allem darum gehen, inwieweit uns der Krieg in der Ukraine ökonomisch trifft, inwieweit die Kaufkraft schnell deutlich sinkt. Denn dann könnte dies wieder zentral für den Wahlkampf werden.
Wurde Éric Zemmour zu Beginn des Wahlkampfs überschätzt und hat man ihm zu viel Beachtung geschenkt, gemessen an seiner Bedeutung für diese Wahlen?
Zuerst hatte seine Kandidatur natürlich den Effekt des Neuen. Er weckte das Interesse auch im Vergleich zu Marine Le Pen, die schon etwas angestaubt wirkte, die zwar ihre Truppen zu guten Wahlergebnissen führte, aber ohne eine wirkliche Machtoption in der Hand zu halten. Hinzu kommt die Tatsache, dass Éric Zemmour im Vergleich zu Le Pen auf viele deutlich bürgerlicher wirkt, ohne den Makel eines Vaters, der schließlich immer noch als Antisemit und Holocaustleugner gilt. Marine Le Pen wird immer die Tochter von Jean-Marie bleiben. Selbst wenn Marine Le Pen hier ein großes Reinemachen versucht hat; Zemmour hat diesen Makel erst gar nicht. Als Journalist ist er zudem ständig präsent - auf CNews oder mit seinen Beträgen im Figaro. Dadurch hat sich eine richtige Aura um ihn herum gebildet. Gleichwohl hat er sich mit seinen geschichtsverzerrenden Aussagen, zum Beispiel über General Pétain, der die französischen Juden gerettet hätte, selbst in den Fuß geschossen. Und mittlerweile finden selbst Leute, die zunächst bereit waren, für ihn zu wählen, er gehe bei Themen, wie Islam oder Einwanderung, zu weit. Und hier habe ich noch nicht von der Gewalt bei seinen Wahlkampfveranstaltungen gesprochen. Wir erinnern uns an Villepinte zum Beispiel, wo Aktivistinnen von SOS Racisme angegriffen wurden.. Nach und nach also hat der Nimbus um ihn abgenommen und wir kommen wieder zu einer realistischeren Einschätzung. Wir lernen also einmal mehr, den Umfragen zu Beginn von Wahlkämpfen nicht zu viel Gewicht beizumessen.
Wie hat Zemmour aber jetzt schon unsere Gesellschaft geprägt, hat er nicht bereits jetzt schon Spuren in der französischen Gesellschaft hinterlassen?
Der erste Eindruck ist, dass es Bewegungen sind, die sich um eine Führungsfigur scharen. Das heißt, was von ihnen ohne einen Éric Zemmour übrigbleiben würde, ist nicht ausgemacht. Aber es stimmt schon: es war ein Enthusiasmus zu beobachten. Aber wissenschaftliche Betrachtungen zeichnen ja das Bild über einen weitaus größeren Zeitraum. Das heißt, schaut man sich die gesellschaftliche Dynamik über viele Jahre an, dann trifft nicht zu, was der anfängliche Erfolg für Zemmour vermuten ließ. Denn insgesamt wird die französische Gesellschaft langsam toleranter und offener. Unter den Wählern des rechten Lagers gibt es natürlich einen Anteil, der ideologisch von Angst vor Einwanderung und dem Islam geformt ist. Dennoch zeigen Untersuchungen, dass sich die Mehrheit der französischen Bevölkerung, und selbst rechtsextreme Wähler, weder Marine Le Pen noch Éric Zemmour tatsächlich als Staatsoberhaupt vorstellen kann.
Welche Strömungen kann man im rechten politischen Spektrum ausmachen?
Das rechte Lager ist innerlich extrem gespalten. Zum einen, weil Macron sich politisch den Republikanern angenähert hat, also einer moderaten Rechten, so wie sie zum Beispiel von Alain Juppé verkörpert wird.. Auf der anderen Seite gibt es Republikaner am rechten Rand, Hardliner wie Éric Ciotti, der behauptet, man müsse bei Fragen des Islams härter reagieren, der auch von einer Bevölkerungsverdrängung spricht. Es waren diese Republikaner, die gegen die „Ehe für alle“ auf die Straße gegangen sind, die den Feminismus verachten; unter ihnen sogar Frauen. Diese Spaltung der Rechten ist auch für Valérie Pécresse eine Herausforderung. Sie muss einen extremen Spagat versuchen, wenn sie auf der einen Seite Wähler und Wählerinnen gewinnen will, die eher in Richtung Zemmour oder zum Rassemblement National tendieren und jenen, die moderat auf Macron setzen. Zusammengenommen liegt das rechte Lager bei 30%, aber eben gesplittet und das wird jetzt zu einem Problem für sie.
Und wie steht’s mit der Linken?
Im linken Lager sieht es – man kann es nicht anders sagen - desolat aus. Es gibt eine unübersichtliche Anzahl an Kandidaten und Kandidatinnen. Mélenchon steigt derzeit etwas in den Umfragen, aber ob er Le Pen einholen kann, ist fraglich. Er hat zwar einige interessante Punkte in seinem Programm, doch als Person ist er vielen suspekt. Er hat sich 2017 als schlechter Wahlverlierer erwiesen. Auch wenn er ganz sicher ein sehr intelligenter Kopf ist, schreckt er mit seinen Äußerungen über autokratische Staatsführer ab. Aber wir wissen nicht, was noch passieren kann.
Gibt es die reale Gefahr, dass sich die verbale Gewalt, die wir in diesem Wahlkampf erleben, in tatsächliche Gewalt umschlägt, wie wir es in Deutschland während der Flüchtlingswelle 2015 beobachten mussten?
Am politischen Rand besteht immer das Risiko, dass sich verbale Gewalt in reale Gewalt wandelt. Und Éric Zemmour trägt dazu bei. Die Angriffe auf Aktivistinnen von SOS Racisme auf einer Wahlveranstaltung habe ich ja schon erwähnt. Wenn sich die Kandidaten und Kandidatinnen nicht deutlich von solchen gewaltbereiten Gruppen abgrenzen, besteht das Risiko, dass sich Leute sagen, wenn auf der politischen Seite Dinge erlaubt sind, dürfen wir das auch. Was die beiden extrem rechten Lager unterscheidet, ist die soziale Zusammensetzung. Wähler von Le Pen stammen tendenziell aus eher ärmeren Milieus auf dem Land. Zemmour zieht eine neue eher besser situierte Wählerschaft an, für die Marine Le Pen fast schon zu gemäßigt ist, die sich zum Beispiel auch nicht am Widerstand gegen die „Ehe für alle“ beteiligt hat. Interessant ist auch die Tatsache, dass es Le Pen geschafft hat, vor allem Frauen zu gewinnen, die mittlerweile mehr als die Hälfte der Wählerschaft darstellt. Bei Zemmour ist es das Gegenteil, ihn wählen Männer im fortgeschrittenen Alter. Es zeigt sich also auch hier, auf rechter Seite gibt es kein einheitliches Wählerprofil, was diese Wahlen aus soziologischer Sicht so komplex macht.
Nonna Mayer empfiehlt für mehr Informationen:
The impact of gender on the Marine Le Pen vote : https://www.cairn-int.info/article-E_RFSP_676_1067--the-impact-of-gender-on-the-marine-le.htm
2019 Report on the fight against racism, anti-Semitism and xenophobia: https://www.cncdh.fr/fr/publications/les-essentiels-2019-report-fight-against-racism-anti-semitism-and-xenophobia
2020 Report on the fight against racism: https://www.cncdh.fr/sites/default/files/the_essentiels_report_on_the_fight_against_racism_2020_-_english.pdf
L'immigration en débat : rhétorique et arguments, disputes et polémiques: https://www.college-de-france.fr/site/francois-heran/course-2021-11-05-10h30.htm