Zwischen Banalisierung der Rechtsextremen und Mehrheitsfindung: Frankreich nach den Parlamentswahlen

Analyse

Die XVI. Wahlperiode der V. Republik wurde diese Woche eröffnet. Das ist für die Machtverhältnisse innerhalb der Assemblée nationale ein entscheidendes Momentum.

 Bild des Eingangs der Assemblée Nationale

Neben dem großen Gewinn des Rassemblement Nationals (RN), der mit 89 Abgeordneten die größte Oppositionspartei darstellt und sich dadurch auch finanziell aufstocken kann, werden in diesem Artikel die Schlüsselerkenntnisse der neuen Wahlperiode zusammengefasst. 

  • Zum ersten Mal in der V. Republik, die seit 1958 besteht, gibt es keine absolute Mehrheit für die Partei eines neu gewählten Präsidenten. Mit 250 Abgeordneten (fünf davon haben sich nach der Wahl der Fraktion neu angeschlossen) braucht Macron nun für jede Gesetzesverabschiedung mindestens 39 Stimmen aus der Opposition. Bislang ist noch unklar, ob Macron sich einen festen Koalitionspartner sucht, oder ob für jedes Gesetz neue Mehrheiten gefunden werden müssen - bei seiner Rede letzte Woche gab er dazu keine Hinweise. Am 6. Juli möchte Premierministerin Elisabeth Borne eine Absichtserklärung der neuen Regierung abgeben. 

 

  • Parlamentarismus und Koalitionsbildung werden in Frankreich wahr! Macron bezeichnete die Situation in Frankreich als “erschreckend banal”. Jedoch ist es für Frankreich eine ungewöhnliche Situation: Viele haben die Assemblée nationale in den letzten Jahren als eine “Registrierungskammer” der Regierung bezeichnet, die Gesetzen nur noch zustimmt. So kam es dazu, dass in den letzten fünf Jahren mehr als 240 Gesetzesvorschläge und -entwürfe verabschiedet wurden. Durch den Verlust der absoluten Mehrheit müssen nun Kompromisse gefunden werden, weshalb auch eine drastische Senkung der Zahl der Gesetzesverabschiedungen erwartet wird.

 

  • Ein spannender Punkt ist wie sich der RN abseits seiner beliebten Themen wie Migration oder der “nationalen Priorität” positioniert. Es gibt bereits innerhalb des RN einige Unstimmigkeiten bezüglich gesellschaftlicher Thematiken, wie beispielsweise das Recht auf Abtreibung.

 

  • Eine Banalisierung der Rechtsextremen ist im Gange. Nach dem ersten Wahlgang der Parlamentswahlen gab es seitens Ensemble! keinen klaren Aufruf sich gegen den Rassemblement National zu stellen (mit kleinen Ausnahmen, wie z.B des Europa-Staatsministers Clément Beaune). Selbst im Wahlkreis von Marine Le Pen wählte die ausgeschiedene Macron-Kandidatin lieber ungültig als für das NUPES-Bündnis. Die Absurdität wird hier besonders ersichtlich, da in diesem Fall sogar eine Grüne-Kandidatin gegen Le Pen antrat. Ein weiterer Schritt der Banalisierung fand nach dem Verlust der absoluten Mehrheit in der Assemblée nationale statt, als führende Ensemble!-Politiker*innen, wie beispielsweise Macrons Justizminister Éric Dupond-Moretti, offen über eine mögliche Zusammenarbeit mit dem RN bei Gesetzesverabschiedungen gesprochen haben. 

    Noch deutlicher wurde die Normalisierung des RN diese Woche bei der Vergabe der Präsidiumsposten in der Assemblée nationale (AN). In der Geschäftsordnung der Assemblée ist vorgesehen, dass die sechs Vize-Präsident*innen die Verhältnisse der AN wiederspiegeln müssen. Der Tradition nach würden in dieser Wahlperiode zwei Sitze an das Ensemble!-Bündnis, zwei an den RN und zwei an das NUPES-Bündnis gehen. Wenn es jedoch keine Einigung gibt (in diesem Fall hat NUPES gegen die Vergabe von zwei Sitzen an den RN gestimmt), dann muss, so die vorgesehene Regel, jede*r Vize-Präsident*in durch eine freie Wahl der Abgeordneten gewählt werden. Eine Wahl der RN-Abgeordneten in das Präsidium ist eine politische Entscheidung und könnte, wie es sich in Deutschland mit der Nicht-Wahl eines*r AfD-Vizepräsident*in im Bundestag gezeigt hat, verhindert werden. Um die Wahl der Rechtsextremen abzuwenden, haben sich zusätzlich zwei Grüne-Kandidat*innen aufgestellt. Mit diesem strategischen Vorgang sollte aufgezeigt werden, dass es eine stillschweigende Vereinbarung im rechten Lager gab - denn die RN-Kandidat*innen wurden mit den Stimmen von Ensemble! und LR gewählt

    Der RN wurde schon innerhalb der ersten Woche der Wahlperiode institutionalisiert und schaffte es sich als Regierungspartei zu präsentieren. Marine Le Pen bestreitet nun auch öffentlich, dass der RN eine rechtsextreme Partei sei und möchte dementsprechend nicht mehr ganz rechts in der Assemblée sitzen…

 

  • Das Bündnis NUPES hält bis jetzt zusammen und hat es geschafft gemeinsame Kandidat*innen für die Schlüsselpositionen in der AN (z.B. Vizepräsident*innen) und für die Ausschussvorsitzenden zu benennen. Das kann man als Erfolg bezeichnen, insbesondere vor dem Hintergrund der Erklärungen von Jean-Luc Mélenchon (La France Insoumise) und Fabien Roussel (Parti Communiste Francais). Eine der Herausforderungen des NUPES-Bündnisses wird sein, sich als konstruktive Opposition und nicht als blockierende Macht darzustellen. Zumal die Möglichkeit besteht, dass Macron innerhalb der nächsten fünf Jahre die Assemblée Nationale auflösen lässt und es zu Neuwahlen kommt. Spannend wird zudem wie sich NUPES bei den Europawahlen 2024 verhalten wird, da das Thema Europa zu den größten Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Bündnisses führt. 

 

  • Der Versammlung der XVI. Legislaturperiode gehören insgesamt 215 Frauen und 362 Männer an, was einem Frauenanteil von 37,2% (2017: 38,8%) entspricht. Das Durchschnittsalter der Abgeordneten liegt bei  49 Jahren. Demgegenüber ist die Fraktion der Grünen jünger und weiblicher. Mit 13 Frauen von 23 Abgeordneten hat die Fraktion einen Frauenanteil von 56,5%; das Durchschnittsalter liegt bei 43,2 Jahren. Die jüngste Grüne Abgeordnete ist Marie-Charlotte Garin mit 26 Jahren (Vgl. NUPES: Louis Boyard, 21 Jahre), die ältesteste Grüne ist Christine Arrighi mit 62 Jahren (Vgl. NUPES: André Chassaigne, 72 Jahre). Die Grünen sind in den acht Ausschüssen präsent:

 

Ausschuss

Abgeordnete

Commission de la défense nationale et des forces armées
(Verteidigungsausschuss)

Julien Bayou, Cyrielle Chatelain

Commission des affaires culturelles et de l’éducation
(Ausschuss für Bildung und Kultur)

Francesca Pasquini, Jean-Claude Raux, Sophie Taillé-Polian

Commission affaires sociales
(Ausschuss für soziale Angelegenheiten)

Marie-Charlotte Garin, Sébastian Peytavie, Sandrine Rousseau

Commission des affaires économiques
(Wirtschaftsausschuss)

Delphine Batho, Charles Fournier, Julie Laernoes

Commission des affaires étrangères
(Ausschuss für internationale/auswärtige Angelegenheiten)

Hubert Julien-Laferrière, Sabrina Sebaihi, Aurélien Taché

Commission des finances, de l’économie générale et du contrôle budgétaire
(Finanz- und Haushaltsausschuss)

Christine Arrighi, Karim Ben Cheikh, Eva Sas

Commission des lois constitutionnelles de la législation et de l’administration
(Rechtsausschuss)

Jérémie Iordanoff, Benjamin Lucas, Sandra Regol

Commission du développement durable et de l’aménagement du territoire
(Ausschuss für Umwelt/nachhaltige Entwicklung und Raumplanung)

Lisa Belluco, Marie Pochon, Nicolas Thierry