Bipolar, tripolar, multipolar – die italienische Parteienlandschaft im Spiegel der Migrationspolitik

Artikel

Auch das Parteiengefüge Italiens erlebt große Veränderungen und das Kräfteverhältnis der Parteien unterliegt hohen Schwankungen. Die Migrationspolitik steht bei den kommenden Wahlen bislang nicht im Zentrum der Debatten, sie dient dennoch als Kompass zur Einordnung der Wahlbündnisse.

Sea-Watch 3

Die politische Landschaft Italiens vor den Wahlen

Italien hat keine Tradition eines bipolaren politischen Systems, weder in der reinen Form wie in den USA zwischen Republikanern und Demokraten noch in der abgeschwächten Form wie in Großbritannien zwischen Konservativen, Labour und, mit erheblichem Abstand, Liberalen. Versuche mit einer Art „Großen Koalition“, ehemals zwischen Christdemokraten und Kommunisten, die es am Ende nicht gegeben hat, und wie zuletzt in der von Mario Draghi aufgestellten Koalition von der „Lega“, „Forza Italia“, „5-Sterne-Bewegung“ und der „Partito Democratico“ (PD) hatten keinen langdauernden Erfolg.

Die ersten Wochen nach dem Rücktritt der Draghi-Regierung Ende Juli waren bestimmt von der Frage der Wahlkampfkoalitionsbildung, die vom Wahlgesetz praktisch vorgeschrieben ist. Das „wer geht mit wem?“ war auf der rechten Seite des politischen Spektrums relativ einfach. Die „Fratelli d'Italia“ (FdI) unter Giorgia Meloni, die „Lega“ unter Matteo Salvini und die „Forza Italia“ unter Silvio Berlusconi haben ausreichende Gemeinsamkeiten und vor allem die gemeinsame unverrückbare Absicht, sich an die Macht zu bringen, um ein Koalitionsprogramm zu formulieren. Dabei erscheint die FdI, die in den letzten Wahlen von 2018 auf nur 5 Prozentpunkte gekommen war, nach allen Umfragen als bei weitem stärkste Gruppierung mit etwa 24% der erwarteten Stimmen. In wenigen Jahren hat es Meloni geschafft, ihre in der neofaschistischen Tradition stehende Partei als kohärenten, innerparteilich kompakten Ausdruck der italienischen Rechten zu profilieren. Die Verweigerung, sich sowohl in den von Giuseppe Conte als danach von Draghi geführten Regierungen zu beteiligen und sich als praktisch einzige Opposition aufzustellen, hat nur noch mehr Sympathien bei Wähler*innen eingebracht, nicht nur bei den ohnehin rechts orientierten. Auch wenn bei den Koalitionsverhandlungen formell die Frage der Regierungsführung offengelassen wurde, dürfte es klar sein, dass im Fall eines Wahlsiegs Giorgia Meloni das Rennen machen und damit die erste Ministerpräsidentin der italienischen Geschichte sein wird. Vermutlich wird dann Salvini Innenminister werden und Revanche für seinen im September 2020 erzwungenen Abgang nehmen, in erster Linie in Form eines roll-back in der Migrations- und Asylpolitik. Dem dann 86-Jährigen Berlusconi, der so gern Staatspräsident hätte werden wollen, ist offenbar der Posten des Präsidenten des Senats, der 2. Parlamentskammer, versprochen, Nummer zwei in der institutionellen Hierarchie, gleich nach dem Staatspräsidenten.

Weit schwieriger hat sich die Koalitionsbildung im linken und mittleren Feld erwiesen. Dabei war allen Beteiligten klar, dass nur durch die Bildung eines einheitlichen Gegenpols der Sieg der Rechten möglicherweise zu verhindern sein würde. Die Strategie Enrico Lettas, Generalsekretär der PD, zumindest die aus seiner Partei vormals ausgeschiedenen Vertreter der „Mitte“ gemeinsam mit der PD wieder unter einem Dach zu versammeln, ist am Ende gescheitert. Der vormalige Ministerpräsident und Ex-Chef der PD Matteo Renzi hatte seine eigene kleine Partei „Italia Viva“ gegründet und befürchtet, in einer Koalition mit dem großen Bruder nicht mehr zur Geltung zu kommen. Carlo Calenda, 2019 über die Liste der PD ins Europäische Parlament gewählt, davor mehrmals Minister in von der PD geführten Regierungen, hatte sich mit seiner Partei überworfen, als diese mit der 5-Sterne-Bewegung 2020 eine Regierung gebildet hatte, und hat ebenfalls eine eigene Partei – „Azione“ - ins Leben gerufen, die Mitte August eine Koalition mit Italia Viva“ gebildet hat und in den letzten Umfragen auf 7-8% kommt. Der PD sind dann nur noch 3 andere kleine Parteien als Bundesgenossen geblieben, die von der ehemaligen EU-Kommissarin und Außenministerin Emma Bonino geführte „+Europa“, die Grünen (Europa Verde) und die „Sinistra Italiana“, die zusammen laut Umfragen nicht über 6% kommen dürften.

Und schließlich gibt es einen vierten Pol: die „5-Sterne-Bewegung“ (Movimento 5 Stelle), unter Giuseppe Conte, dem früheren zweimaligen Ministerpräsidenten. Niemand in dem Mitte-Links Flügel wollte mit der Bewegung zusammengehen, obwohl sie etwa 11% einbringen könnte, da ihr – vielleicht ungerechterweise - die wesentliche Schuld am Sturz der Draghi-Regierung zugeschrieben wird. Sie gilt als unzuverlässig, unberechenbar, um nicht zu sagen chaotisch und überdies als „populistisch“. Im Ergebnis führt die Zersplitterung und die, teils persönlichen, Verfeindungen unter den Mitte-Links-Formationen, dazu, dass sie nur sehr wenige unter dem Mehrheitswahlsystem gewählte Abgeordnete in das zukünftige Parlament bringen werden und damit von vornherein der rechten Koalition das Feld überlassen. 

 

Lampedusa und die Zukunft der Migrationspolitik

Während in früheren italienischen Wahlen und Wahlkämpfen die Migrations- und Asylpolitik eine herausragende Rolle spielte und von den Rechtsparteien populistisch ausgeschlachtet worden war, halten laut einer jüngsten Umfrage[1] diesmal nur 4% der Befragten das Thema für prioritär. An den ersten Stellen der Liste von Problemen stehen vielmehr die Inflation, die Rezession, die Steuern, die Arbeitslosigkeit, die Umweltzerstörung. Dazu kommt sicherlich jetzt die Sorge um die Energie-, vor allem Gasversorgung. Überdies wird bei der Umfrage ein Gesamtgefühl zum Ausdruck gebracht, sich nach der Pandemie und mit dem Krieg in der Ukraine in einem fortwährenden Krisenmodus zu befinden.

Dennoch zeigt die Migrationspolitik die größten Unterschiede zwischen den Links- und Rechts-Blöcken und das Populismus-Potential für den Wahlkampf. In einer weiteren Umfrage[2] befürworten auf der einen Seite 52% der Befragten die sofortigen Rückschiebungen an den Grenzen, auf der anderen Seite halten zwei Drittel Maßnahmen für die Beförderung der Integration von ausländischen Minderjährigen für vorrangig. Dazu gehört auch das „ius scholae“, ein italienischer Neologismus für die Einbürgerung ausländischer Schülerinnen und Schüler. Ein entsprechender Gesetzentwurf, von der 5-Sterne-Bewegung eingebracht und von der PD und anderen Mitte-Links-Parteien unterstützt, war im Juli schon vom Grundrechteausschuss der Deputiertenkammer verabschiedet, aber dann kam die vorzeitige Auflösung des Parlaments. Nach dem Entwurf sollten künftig in Italien geborene oder vor dem 12. Lebensjahr eingereiste Kinder ausländischer Eltern auf Grund bloßer Erklärung eines Elternteils oder des Vormunds die italienische Staatsbürgerschaft erwerben, wenn sie einen Schul- oder Ausbildungszyklus von mindestens 5 Jahren abgeschlossen haben. Die Maßnahme würde sofort etwa 300.000, in absehbarer Zeit über eine Million Kinder und Jugendliche betreffen. „Lega“ und „FdI“ hatten mit allen Mitteln versucht, die Verabschiedung zu verhindern. Im Programm der Rechts-Koalition wird das Thema, über das Berlusconis „Forza Italia“ zerstritten ist, nicht erwähnt. Im Programm der „Lega“ hingegen wird ausdrücklich jede Reform des Staatsangehörigkeitsrechts ausgeschlossen. Die von der PD geleitete Koalition „Demokratisches und Fortschrittliches Italien“ hingegen hat in ihrem Programm das Prinzip hervorgehoben, dass in Italien studierende Kinder von Ausländern Italiener sind. Zumindest in diesem Punkt ist die Koalition auch mit der 5-Sterne-Bewegung und der Calenda-Renzi-Koalition einig. Nur werden sie alle zusammen mit großer Wahrscheinlichkeit keine Mehrheit dafür im zukünftigen Parlament finden.

Das Programm der Rechts-Koalition, insgesamt vage und undetailliert in vielen Themenbereichen, formuliert in der Migrationspolitik klare Ziele. In erster Linie wird die Rückkehr zu Salvinis „Sicherheits- und Immigrationsdekreten“ aus den Jahren 2019/20 angekündigt, also die Abschaffung eines Aufenthaltsstatus aus humanitären Gründen; geschlossene Häfen für Seenotrettungsschiffe; Kriminalisierung der im Seenotrettungsdienst aktiven nichtstaatlichen Organisationen; ein stärkerer Gebrauch des Konzepts der „sicheren Herkunftsländer“ von Asylbewerbern. Darüber hinaus will die Koalition Auffanglager für Asylbewerber außerhalb der EU einrichten, „in Übereinstimmung mit den nordafrikanischen Behörden“, in etwa nach dem britischen Vorbild der Abschiebung von Asylbewerbern nach Ruanda. „Verstärkte Verteidigung der Außengrenzen“, Aufstockung der Grenzpolizei, Zustimmung zu dem im September 2020 von der EU-Kommission vorgelegten Neuen Pakt zur Asyl- und Migrationspolitik sind weitere Punkte des Programms. Dies alles steht unter dem von Salvini erneut propagierten Slogan „prima gli italiani“ („erstmal die Italiener“). Und Meloni hat in einem Interview die Küsten Siziliens mit der Grenze zwischen USA und Mexico verglichen.

Im Einzelnen gibt es allerdings Widersprüche zwischen den Koalitionspartnern. Meloni verzichtet nicht auf den Plan einer „Seeblockade“ unter Einsatz der Kriegsmarine. Salvini hält das für keine gute Idee, weil nicht realisierbar, zumindest nicht von Italien allein. Das Programm der „Lega“ sieht vielmehr „gemeinsame Patrouillen“, zusammen mit libyschen und tunesischen Marineeinheiten in den Hoheitsgewässern dieser beiden Länder vor. Asylanträgen bei diplomatischen Vertretungen Italiens oder der EU in Herkunfts- oder ihnen benachbarten Ländern – bisher im italienischen Recht nicht vorgesehen – soll der Vorrang gegeben werden. Die Dauer der Abschiebehaft soll wieder auf 6 Monate erhöht, neue Hafteinrichtungen sollen erstellt werden. Zweimal während des Wahlkampfs ist Salvini auf der zum Symbol gewordenen Insel Lampedusa erschienen, nicht, um die unsäglichen Zustände in dem dortigen Erstaufnahmelager anzuprangern, vielmehr die von Nordafrika ausgehende „Invasion“. Berlusconi hält diese Besuche für nicht gut, weil sich Salvini damit ungebührlich profilieren und seine Partner in den Schatten stellen könnte.

Diametral entgegengesetzt liest sich das Programm der Koalition „Demokratisches und Fortschrittliches Italien“. Dort wird ein neues Migrationsgesetz angekündigt, unter Ablösung des 2001 unter der Berlusconi-Regierung verabschiedeten und nach wie vor gültigen „Bossi-Fini-Gesetzes“. Ein Amt für die Koordinierung der Migrationspolitiken soll eingerichtet werden, in Anlehnung an das deutsche BAMF. Humanitäre Korridore für die legale Einreise von Flüchtlingen und Asylbewerber*innen sollen unterstützt und ausgeweitet werden. Arbeitsmigrant*innen und ausländische Student*innen sollen verstärkte Möglichkeit regulärer Zuwanderung haben. Die Überwindung des „Dublin“-Systems wird angestrebt. Das Netz dezentraler kleiner, von Kommunen und NGOs verwalteten Aufnahmeeinrichtungen soll potenziert, die staatlich verwalteten Notstandszentren schrittweise abgebaut werden. Die PD hat im Juli einen Schritt zu einer veränderten Migrationspolitik gemacht, als sie im Parlament die Zustimmung zu der Refinanzierung der Unterstützung der sogenannten libyschen Küstenwacht verweigert hat. Schon bei dieser Gelegenheit konnte die PD aber keine Mehrheit hinter sich versammeln. Es steht zu erwarten, dass nach den Wahlen am 25. September die programmatischen Vorstellungen der Partei und ihrer Koalition auf dem Papier stehen bleiben werden.

In der Zwischenzeit kann man die Realität nicht aus den Augen lassen:  die Bootsankünfte aus Nordafrika, zuvorderst aus Tunesien, in Lampedusa und anderen sizilianischen Häfen sind seit Beginn des Jahres auf 61.527 Flüchtlinge und Migrant*innen gestiegen (in demselben Zeitraum 2021: 39.928; in 2020: 19.800). 1.264 Flüchtlinge und Migrant*innen, darunter 45 Kinder, sind in dem Zeitraum von Januar bis Ende August im zentralen Mittelmeer ertrunken. 14.157 Flüchtlinge und Migrant*innen sind in diesem Zeitraum von den von Italien und der EU finanzierten Schiffen der libyschen Küstenwacht abgefangen und in die libyschen Haftlager zurückgeführt worden, allein 1.216 in der letzten Augustwoche. Die Zustände im total überfüllten Aufnahmezentrum auf Lampedusa werden von internationalen und nationalen Organisationen als unmenschlich beschrieben.

Wie ist die zukünftige Haltung Italiens in der Migrations- und Asylpolitik auf europäischer Ebene im Fall eines Wahlsiegs der rechten Koalition abzusehen? Der Beifall zum „Neuen Pakt“ der EU-Kommission könnte bedeuten, dass Italien aus der gemeinsamen Position mit den anderen Med-5 Staaten (Griechenland, Malta, Spanien, Zypern) ausscheidet, die seit 2 Jahren beständig mehr Solidarität auf EU-Ebene einklagt, das heißt insbesondere ein verbindliches Programm der Umverteilung von Asylbewerber*innen und geretteten Schiffbrüchigen auf alle Mitgliedsstaaten der EU. Italien wird sich dafür stark machen, dass die EU in Drittländern „Hotspots“ zur Erstaufnahme von Asylbewerber*innen einrichtet, in denen die Asylgesuche geprüft und beschieden werden sollen. Italien wird sicher auch eine Verstärkung von Frontex befürworten und sich dafür einsetzen, dass die Aktionen der Agentur im Mittelmeer und in Drittländern potenziert werden. Im Fall, dass es zu den von der „Lega“ propagierten „gemeinsamen Patrouillen“ kommt, wird Italien eine Kostenbeteiligung seitens der EU verlangen, da es sich ja um den Schutz der gemeinsamen Außengrenzen handelt. 


[1] Umfrage von Demos, abgedruckt in Repubblica 22. August 2022

[2] Umfrage von L’Atlante Politico, abgedruckt in „Repubblica“ 22. August 2022