Frankreichs Jahr der Strasse

2019 wird den Franzosen ganz sicher im Gedächtnis bleiben. Ein Jahr, das mit Protesten begann. Ein Jahr, das mit Protesten endet.  Ausgelöst  vor allem durch die Art und Weise des Regierens des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Unter dem Eindruck der Europawahlen, der Klimakrise und des Widerstandes gegen eine Reformpolitik, die viele Franzosen für ungerecht halten. Ein Rückblick auf ein bewegtes Jahr und wenn man Proteste mit Wein vergleichen will, dann war 2019 ganz bestimmt ein „großer Jahrgang“. 

WINTER 2019
Das Jahr beginnt turbulent. Seit zwei Monaten sorgt die Gelbwestenbewegung für internationales Aufsehen, die Bilder von brennenden Barrikaden und Verwüstungen in Paris gingen um die Welt. In seiner Neujahrsansprache schlägt Emmanuel Macron versöhnliche Töne an. Zwar wirbt er weiter für seine Reformpolitik, gesteht jedoch in Richtung der Gelbwesten: „Wir können es besser machen und wir müssen es besser machen.“

CHRONOLOGIE

Der lange Atem der gelben Westen

Als im November 2018 mehr als 300.000 Menschen landesweit gegen die geplante Erhöhung der Kraftstoffsteuer auf die Straße gingen, ahnte noch niemand, welches Ausmaß die sogenannte „Gelbwestenbewegung“ annehmen würde. Im Frühjahr demonstrieren jeden Samstag weiterhin tausende Menschen vereint in ihrem Hass auf die Regierung. Ihre diffuse Wut, allen voran auf ihren Präsidenten, schlägt noch immer mancherorts in Gewalt um.

Am 15. Januar lanciert Macron die „Große nationale Debatte“, mit den Schwerpunkthemen Ökologie, Steuern, öffentlicher Dienst und Demokratie. Bei mehreren live übertragenen Treffen diskutiert der Präsident teils stundenlang mit Bürgermeistern, die zuvor Anliegen und Vorschläge ihrer Einwohner gesammelt haben. Begleitet von großem medialen Interesse soll diese „Promo-Tour“ vor allem das Image des Präsidenten verbessern. Im März 2019 werden die Ergebnisse vorgestellt: die Franzosen wünschen sich vor allem Steuersenkungen und mehr direkte Partizipation. Dennoch glauben 63% der Menschen, die Ergebnisse dieser Bürgerbefragung habe keinen Einfluss auf die Politik der Regierung.

Am 22. Januar wird in Aachen eine Neuauflage des „Aachener Vertrags“ von Emmanuel Macron und Angela Merkel unterzeichnet. (siehe „Die Debatte“)

Am 15. und 16 März : demonstrieren mehrere zehntausend Menschen auf dem « Marche du siècle » in verschiedenen französischen Städten für eine aktivere Klimapolitik. Es ist der Auftakt einer ganzen Reihe von Demonstrationen für Umwelt und Klima, die das Jahr begleiten werden.

FRÜHJAHR 2019
Im Frühjahr beherrschen vor allem die Europawahlen die öffentliche Debatte, insbesondere die Zuspitzung auf das Duell „Macron vs. Le Pen“. Auffällig ist, dass im linken Spektrum alle politischen Kräfte auf einen „grünen“ Wahlkampf setzen. Indes gehen die Gelbwestenproteste zwar weiter, allerdings liegt die Beteiligung nur noch bei um die 20.000. Und schließlich hält die Welt einen Moment den Atem an, als die Kathedrale Notre-Dame in Flammen steht.

Chronologie

Am 10. April tritt ein neues Gesetz in Kraft, das unter der Bezeichnung „loi anti-casseur“ (Anti-Randalierer-Gesetz) bekannt wird. Es erlaubt Sicherheitskräften bei Demonstrationen schärfer gegen mutmaßliche Gewalttäter und Vermummte vorzugehen. Beamte dürfen nun während der Proteste ohne richterlichen Beschluss Taschen und Autos durchsuchen. Die Anordnung durch einen Staatsanwalt genügt.

Am 15. April bricht ein Feuer in der Pariser Kathedrale Notre-Dame de Paris aus, das für weltweites Aufsehen sorgt und eine Welle der Solidarität hervorruft. Schnell versucht Präsident Macron den Moment zu nutzen und beschwört die nationale Einheit. Trotz großer Skepsis von Experten verkündet er, das Gotteshaus binnen 5 Jahren zu restaurieren und wiederzueröffnen. Über Nacht spenden französische Industrielle mehrere hunderte Millionen Euro, darunter die Familien Pinault, Arnault und Bettencourt. Doch die spontane Großzügigkeit kommt nicht überall gut an: besonders unter den Gelbwesten, in deren Augen Macrons Politik sowieso nur den Reichen zugute kommt, herrscht Empörung. Der Hype um Notre-Dame sorgt neben einem Moment kollektiver Erschütterung also auch schnell für Unmut.

Am 01. Mai kommt es bei der alljährlichen Großdemonstration zum Tag der Arbeit zu Ausschreitungen und über dreihundert Festnahmen. Besonders eine Szene im Krankenhaus La Pitié-Salpêtrière ist umstritten. Vor der Polizei flüchtende Demonstranten hatten versucht, in einen Gebäudetrakt einzudringen, in der eine Intensivstation untergebracht ist. In Folge besucht Innenminister Christophe Castaner die Station und sprach von einem Angriff. Später muss er seine Aussage revidieren.

Am 26. Mai finden zum neunten Mal in der Geschichte Europawahlen statt.

Nach 2014 geht der Rassemblement National (der umbenannte Front National) erneut als stärkste Partei aus den Wahlen hervor. Mit 23,4 Prozent der Stimmen schlägt die Partei von Marine Le Pen Macrons „La République en Marche mit rund einem Prozent Vorsprung. Die französischen Grünen (EELV) gewinnen – ähnlich ihrer Schwesterparteien in anderen europäischen Ländern – fast 5% Stimmen hinzu und sind damit drittstärkste politische Kraft.

Am 07. Juni beginnt in Frankreich die Fußballweltmeisterschaft der Frauen. 52 Begegnungen von 24 teilnehmenden Nationen finden in neun französischen Städten statt. Die französischen Fußballerinnen erleben eine Welle der Begeisterung ihrer Landsleute und die TV-Übertragungen erreichen teils bis über 10 Millionen Zuschauer.

Am 21. Juni verschwindet am Rande der Fête de la musique in Nantes der Kindererzieher Steve Maia Caniço, als gegen 4h30 die Polizei das Fest am Ufer der Loire beenden will. Mit Tränengas, Schlagstöcken, Hunden und Gummigeschossen werden die Feiernden auseinandergetrieben. Vierzehn Menschen springen dabei in den Fluss, bis auf Steve werden alle gerettet. Später sagen Beteiligte aus, die Art der Intervention sei völlig disproportioniert gewesen. In den darauffolgenden Wochen, sorgt der Hashtag #oueststeve (Wo ist Steve?), sowie Plakat-Aktionen in ganz Frankreich mit dieser Aufschrift für Aufsehen. Der Regierung wird Untätigkeit vorgeworfen, umso die Beamten zu schützen. 38 Tage später wird die Leiche des jungen Mannes in der Loire gefunden. Die Untersuchung zu dem Fall geht bis heute weiter.

SOMMER 2019
Der Sommer in Frankreich steht ganz im Zeichen des G7- Gipfeltreffens in der südwestfranzösischen Stadt Biarritz vom 24. -26. August. Zuvor hatte Frankreich Ende Juli eine Hitzewelle mit neuen Rekordwerten erlebt und wieder mal den Rücktritt eines Umweltministers. Außerdem werden zahlreichen Häuserfassaden Botschaften sichtbar, die auf Morde an Frauen hinweisen.

Chronologie

Am 16. Juli tritt Umweltminister François de Rugy zurück, nachdem das Onlineportal Mediapart einen Skandal um fragliche Ausgaben von Staatsgeld aufgedeckt hat, insbesondere für üppige Dinner, die in Frankreich auch sehr übertrieben sein müssen, um zum Skandal zu werden. Es ist der siebente Rücktritt eines französischen Umweltministers in sieben Jahren. Ihm folgt Élisabeth Borne, die das Amt zusätzlich zum Verkehrsministerium übernimmt. Der häufige Personalwechsel erschwert eine kohärente, kontinuierliche und langfristige Arbeit bei den wichtigen Themen Energiewende, Klima- und Umweltschutz.

Überraschungsbesuch: Auf dem G7 Gipfel in Biarritz vom 24.-26. August überrascht Emmanuel Macron die Anwesenden, weil er einen Kurzbesuch des iranischen Außenministers Mohammed Dschawad Sarif organisiert hat. Die Iran-Krise als eines der großen Konfliktthemen des Gipfels geht vor allem die USA an, deren Präsident Donald Trump zwar den Iraner nicht persönlich trifft. Macrons Coup findet große Beachtung, weil er damit auf Anerkennung als internationaler Vermittler hofft. Im Vorfeld der G7-Gipfels hatte Macron bereits Russland Präsident Wladimir Putin in seinem Sommersitz empfangen und eine Neuausrichtung der Russlandpolitik angekündigt. Auf EU-Ebene, wo Macron gerne als Vorreiter gesehen wird, sorgt er allerdings im Jahresverlauf für unangenehme Überraschungen, weil Frankreich die Entscheidung für den Beginn von Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien blockiert und stärkere Hürden fordert, um, so eine Begründung, das Funktionieren einer erweiterten EU zu garantieren. Macron wird im Herbst außerdem für außenpolitischen Wirbel sorgen, weil er die Nato als „hirntot“ bezeichnet.

HERBST - JAHRESENDE 2019
Auch wenn die Gelbwesten nur noch wenige tausend Menschen anziehen, braut sich schon neuer Protest zusammen. Denn immer wieder gehen einzelne Berufsgruppen auf die Straße, um ihren Unmut über ihre Arbeitsbedingungen Luft zu machen: Krankenhausmitarbeiter, Feuerwehrleute, Beamte, sogar Polizisten. Die Unbeliebtheit des Präsidenten schlägt auf der Straße geradezu in Hass um und am Ende des Jahres steht ein vielerorts streikendes Frankreich geradezu still.

Chronologie

Schwarzer Nebel über Rouen:  Am 26. September kommt es nahe der nordfranzösischen Stadt Rouen zu einem Großbrand in der Chemiefabrik Lubrizol, bei dem 52000 Tonnen Schmiermittel und allerlei Chemikalien, von Asbest bis hin zu Dioxinen in Flammen aufgehen. Kritik gibt es anschließend an der intransparenten Informationspolitik der Regierung. Gleichzeitig dominiert in den Medien der Tod des ehemaligen Präsidenten Jacques Chirac die Berichterstattung. Welche genauen langfristigen Umweltrisiken die Gase und Partikel, die bei dem Brand freigesetzt wurden, darstellen und welche Schäden sie verursachen, ist bis heute unklar.  

Polizei unter Schock:  Am 03. Oktober tötet ein Mitarbeiter der französischen Polizei in der Polizeipräfektur in Paris vier seiner Kollegen, der sich zuvor offenbar radikalisiert hatte Infolge flammt erneut eine Debatte nach besserem Schutz vor islamistischer Radikalisierung im öffentlichen Dienst auf. Einen Tag zuvor hatten noch zehntausende Beamte für mehr Anerkennung ihres Berufs und bessere Arbeitsbedingungen protestiert.

Rebellion fürs Klima: Zwischen dem 05. – 12. Oktober organiseren verschiedene Umweltorganisationen, u.a. Désobéissance Écolo Paris/Youth for Climate und Extinction Rebellion wie in anderen Städten diverse Protestaktionen, um auf die Folgen des Klimawandels aufmerksam zu machen. Vor allem die Besetzung des Einkaufszentrums Italie 2 in Paris am 05. Oktober durch eine bunte Mischung von rund 1000 Klimaaktivisten, Gelbwesten und Jugendlichen aus den Banlieues zusammen wird medial begleitet. 18 Stunden hielten sie die Blockade des Shoppingcenters aufrecht.

Schlappe für Macrons Kandidatin: Am 10. Oktober lehnt das EU-Parlament die von Frankreich für die EU-Kommission vorgeschlagene Politikerin Sylvie Goulard mit großer Mehrheit ab, weil sie in eine Affäre um Scheinbeschäftigung eines Assistenten sowie umfangreiche Nebeneinnahmen eines Brüsseler Think Tanks verstrickt ist. Die Ablehnung der von Ursula von der Leyen nominierten und von Macron unterstützten Kandidatin wird als Schwächung Macrons innerhalb der Europäischen Union interpretiert. Im Dezember beginnen Ermittlungen gegen die Politikerin.  

Julien Bayou wird am 30. November im Alter von 39 zum neuen Vorsitzenden der französischen Grünen (EELV) mit großer Einigkeit gewählt.   

Am 05. Dezember beginnt der Generalstreik gegen Macrons Rentenreform mit einer Großdemonstration, an der landesweit fast eine Million Franzosen teilnehmen. Große Teile des Bahnverkehrs und des Pariser Metronetzes werden bestreikt. Trotz einiger Zugeständnisse der Regierung, eine Woche nach Beginn der Arbeitsniederlegung zeigen sich die Gewerkschaften ausdauernd.

16. Dezember tritt Jean-Paul Delevoye, der Rentenbeauftragte der Regierung, zurück nachdem er wegen zahlreicher Nebenjobs in die Kritik geraten war. Gerade im Kontext der anhaltenden Proteste gegen die Pläne zur Rentenreform, schwächt der Rücktritt die Regierung.

AUSBLICK 2020

Ob die Rentenreform und damit auch Macrons Autorität und Handlungsfähigkeit dem Druck der Straße standhält? Ob auch 2020 ein großer Protestjahrgang wird? Zum Jahresende hin wird es nochmal spannend werden.

Auf jeden Fall steht bereits im März ein weiterer Stimmungstest mit den Kommunalwahlen an, bei dem wiederum den Grünen gute Chancen eingeräumt werden. Zuvor wird an den 5. Jahrestag des Attentats auf Charlie Hebdo, am 07. Januar 2015, erinnert werden, am Jahresende jähren sich auch die Anschläge vom 13. November zum fünften Mal. Auf europäischer Ebene stehen unter anderem die Verabschiedung des European Green Deal, die Verhandlungen des mehrjährigen Finanzrahmens sowie die Reform der Agrarpolitik an. Es ist davon auszugehen, dass Frankreich im Energiebereich weiter darauf drängen wird, seine marode Nuklerabranche als „saubere Energie“ zu deklarieren und damit auch über EU-Gelder finanzieren zu lassen. Im Bereich der Agrarpolitik ist kaum davon auszugehen, dass Frankreich zu einer wirklichen Neuausrichtung bereit ist. Im Sommer wird das Land in Marseille Gastgeber für den wichtigen IUCN World Conservation Congress sein. Für einen Erfolg der deutschen EU-Ratspräsidenschaft im zweiten Halbjahr wird es entscheidend sein, ob und wie das deutsch-französische Tandem funktioniert.    

Immerhin beginnt 2020 in wenigen Tagen mit einer guten Nachricht: Ab 01. Januar 2020 sind in Frankreich endgültig verschiedene Plastikartikel, wie Besteck und Wattestäbchen, verboten.