Parlamentswahlen 2022: Die jungen Italiener*innen zwischen Fortschrittswille und Resignation

Analyse

Viele junge Italiener*innen beschreiben sich selbst als progressiv und interessiert am Umweltschutz, als pro-europäisch und antifaschistisch. Sie betrachteten die Wahl am 25. September mehrheitlich als einen wichtigen politischen Wendepunkt und die Stimmabgabe somit als Pflicht. Jedoch fühlen sie sich von der Mehrzahl der kandidierenden Parteien in Italien nicht ausreichend repräsentiert und zudem hält die Unmöglichkeit der inländischen Briefwahl viele vom Gang zur Wahlurne ab.

Italienische Abgeordnetenkammer

Wie haben die jungen Wähler*innen in Italien abgestimmt?

Das Ergebnis der Parlamentswahlen steht fest: Italien hat eine rechte Koalition mit den Fratelli d‘Italia als landesweit führende Partei gewählt. Die Wahltrends nach Altersgruppe, die von den Umfrageinstituten Ixè (Tabelle 1), Swg (Tabelle 2) und YouTrend (Tabelle 3) aufgezeichnet wurden, weisen jedoch einige Unterschiede im Wahlverhalten der jungen Italiener*innen im Vergleich zur gesamten Wähler*innenschaft auf – und schreiben in den jüngsten Alterskategorien unterschiedlichen Parteien den ersten Platz zu.Bild entfernt.

Im Vorfeld der italienischen Wahlen am 25. September 2022 bezeichneten sich 29 Prozent der jungen Italiener*innen zwischen 18 und 24 Jahren selbst als Umweltschützende und 27 Prozent als Pro-Europäer*innen, außerdem als Progressive (27 Prozent) und Antifaschist*innen (25 Prozent) – während die Souveränist*innen nur 3 Prozent und die Faschist*innen 2 Prozent ausmachten. Für diejenigen, die am 25. September ihre Stimme abgaben, standen thematisch die eigenen Rechte und die Umwelt im Vordergrund und sie äußerten sich darüber hinaus besorgt zu den Themen Arbeit und Zukunft.[1] Die junge Wähler*innenschaft entschied sich folglich im Vergleich zum Rest der Italiener*innen eher für „alternative“ Listen des Mitte-Links-Spektrums und nahm so den großen, vor allem rechten, Politiker*innen verhältnismäßig Stimmen weg.

Wahlbeteiligung bei den Parlamentswahlen 2022 nach Altersgruppen
Tabelle 1: Wahlbeteiligung bei den Parlamentswahlen 2022 nach Altersgruppen, Ixè

 

Junge Italiener*innen zwischen 18 und 34 Jahren setzen Zeichen gegen Rechts

Unter den 18- bis 34-Jährigen hat Fratelli d‘Italia laut des italienischen Meinungsforschungsinstituts Ixè bei den diesjährigen Wahlen zwar mit knapp 20 Prozent am besten abgeschnitten, allerdings um gut 6 Prozentpunkte schlechter als im Gesamtergebnis. Die von Ixè veröffentlichten Umfragewerte zeigen außerdem, dass auch die anderen beiden Parteien des rechten Spektrums in Italien, Lega und Forza Italia, unter den jungen Menschen zwischen 18 und 34 Jahren unpopulärer sind als im Landesdurchschnitt. Für die rechte Koalition, die bei den Wahlen laut den Berechnungen von Ixè rund 43 Prozent aller abgegebenen Stimmen auf sich vereinen konnte, fiel die Unterstützung unter den Jungwähler*innen mit 32,6 Prozent dementsprechend wesentlich niedriger aus. Die Nachwahlanalysen des Umfrageinstituts Swg bestätigen diesen Eindruck und schreiben der Coalizione centro destra 35 Prozent der Stimmen der 18- bis 34-Jährigen zu.

Auch die Umfragen von YouTrend verweisen mit einem Stimmanteil von 31,1 Prozent auf ein schlechteres Abschneiden der drei rechten Parteien bei den jungen Italiener*innen. Hier landet der Movimento 5 Stelle, der von 21,2 Prozent der 18- bis 34-Jährigen gewählt wurde, auf dem ersten Platz und verdrängt die Fratelli d’Italia mit 17,3 Prozent auf Platz zwei. Während die junge Generation den rechten Politiker*innen somit eine Absage zu erteilen scheint, trifft die italienische Fünf-Sterne-Bewegung auch entsprechend der Zahlen von Ixè mit 16,9 Prozent bei den 18- bis 34-Jährigen auf eine leicht höhere Zustimmung als im Gesamtergebnis.

Die Partei des Mitte-Links-Spektrums Partito Democratico (PD) schneidet in deren Umfrage bei den jungen Italiener*innen jedoch auch deutlich schlechter ab als auf der gesamtnationalen Ebene. So haben in der Gruppe der 18- bis 34-Jährigen wesentlich weniger Italiener*innen (laut Ixè sind es 14,6 Prozent) für den PD gestimmt als unter den 65-Jährigen und Älteren (26,3 Prozent). YouTrend und Swg schreiben dem PD immerhin 16,8 beziehungsweise 19 Prozent zu, womit die Stimmen der Jungwähler*innen auch hier nicht an die der Gesamtwähler*innenschaft heranreichen. Die Partei, die neben der Fünf-Sterne-Bewegung am Vorabend der Wahl zu den Parteien mit der größten Anziehungskraft besonders auf junge Menschen zählte, konnte diesem Ruf somit verhältnismäßig nicht gerecht werden.

Stattdessen schnitt unter anderem der Terzo Polo gebildet von der sozialliberalen Partei Azione und Italia Viva aus der politischen Mitte unter den Wähler*innen unter 35 Jahren überdurchschnittlich gut ab; laut der Ixè-Umfrage erhielt er knapp über 13 Prozent anstatt 7,8 Prozent im Gesamtergebnis. Die Analysen von Swg und YouTrend zeigen für diese Altersgruppe ebenfalls ein überdurchschnittlich gutes Ergebnis des Terzo Polo (10 beziehungsweise 10,6 Prozent).

Es ist zu vermuten, dass sich die jüngeren Wähler*innen – vor allem die jungen Leute, die auch für Fridays for Future demonstrieren – außerdem für die Koalition der linken Partei Sinistra Italiana und der italienischen grünen Partei Europa Verde – Verdi entschieden. Die Zahlen von Ixè bestätigen dies; während die links-grüne Allianz italienweit 3,6 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnte, kam sie unter den 18- bis 34-Jährigen auf mehr als das Doppelte, nämlich auf 7,7 Prozent. Es scheint demnach in dieser Hinsicht kein Zufall zu sein, dass die Allianz im italienischen Wahlkampf diejenige war, die sich am meisten auf die Themen Umwelt und persönliche Rechte fokussierte – Themen, die allen voran den jungen Menschen in Italien besonders am Herzen liegen.[2]

Am auffälligsten ist dennoch der stark erhöhte Stimmenanteil in der jungen Alterskategorie für die Partei +Europa, die hier, so die Ergebnisse von Ixè, von mehr als 9 Prozent gewählt wurde – italienweit waren es gerade einmal 2,8 Prozent.

Laut YouTrend kommen allein die fünf hier aufgeführten italienischen Parteien beziehungsweise Koalitionen des Mitte-Links-Spektrums in der Alterskategorie zwischen 18 und 34 Jahren auf einen Stimmenanteil von 60,9 Prozent; bei der Ixè-Umfrage sind es sogar 61,8 Prozent – fast das Doppelte im Vergleich zum rechten Bündnis unter Giorgia Meloni.

Wahlbeteiligung bei den italienischen Parlamentswahlen 2022 in der Altersgruppe der 18- bis 34-Jährigen
Tabelle 2: Wahlbeteiligung bei den Parlamentswahlen 2022 in der Altersgruppe der 18- bis 34-Jährigen, Swg

 

(Erst-)Wähler*innen unter 25 Jahren positionieren sich noch stärker in Richtung Mitte-Links

Noch eindrücklicher werden diese Wahltendenzen, wenn man anhand der Analysen von Ixè einen Blick auf das Wahlverhalten der jüngsten Italiener*innen unter 25 Jahren, die größtenteils zum ersten Mal im Rahmen einer Parlamentswahl ihre Stimme abgaben, wirft. Unter ihnen beträgt der Anteil der Fratelli d’Italia-Unterstützenden nur 15,4 Prozent und die rechte Lega wurde mit 2,5 Prozent abgestraft.

Der Anteil der Links-Grün-Wählenden beträgt dahingegen 10,5 Prozent – etwa das Dreifache im Vergleich zum allgemeinen Wahlergebnis – und +Europa konnte 12,3 Prozent der 18- bis 24-jährigen Wähler*innen in Italien von sich überzeugen. Azione und Italia Viva landeten gemeinsam sogar bei 17,6 Prozent. Stellt man hier erneut mit den Wahlanalysen von Ixè den Links-Rechts-Vergleich an, so beträgt der Stimmenanteil für die fünf genannten Mitte-Links-Parteien in der jüngsten Alterskategorie 67,5 Prozent (mehr als zwei Drittel!) und überragt die Stimmen für Meloni, Salvini und Berlusconi, die bei den 18- bis 24-Jährigen zusammen bei nur 25,4 Prozent landen, um mehr als 42 Prozent. Es fällt demnach allgemein bei allen Nachwahlanalysen auf, dass die Stimmen für die Parteien aus der politischen Mitte und Linken unter den jungen Wähler*innen durchweg über und der Anteil für die rechten Parteien unter dem italienischen Durchschnitt lagen.

Wahlbeteiligung bei den italienischen Parlamentswahlen 2022 in der Altersgruppe der 18- bis 34-Jährigen
Tabelle 3: Wahlbeteiligung bei den Parlamentswahlen 2022 in der Altersgruppe der 18- bis 34-Jährigen, Quorum/YouTrend

 

Gefühl der schlechten Repräsentation und fehlende Möglichkeit der Briefwahl bedingen hohe Wahlenthaltung

Nur etwa vier von zehn Italiener*innen zwischen 18 und 24 Jahren halten die Politik für grundlegend wichtig. Und obwohl 88 Prozent der Meinung sind, dass Wählen eine Bürgerpflicht ist, die man immer ausüben sollte, und knapp zwei Drittel die Wahl am 25. September für einen wichtigen Wendepunkt hielten, befürchten 87 Prozent, dass sich mit der „herrschenden Klasse“ nie etwas ändern wird.[3]

Ich bin zur Wahl gegangen und habe die Stimmzettel leer gelassen. Warum? Keine Partei hat jemals wirklich etwas getan, und ich habe die Nase voll von gebrochenen Versprechen. Die Politik hat mich im Stich gelassen.

Die jungen Italiener*innen fühlen sich in den meisten Fällen also nicht gut von den kandidierenden Parteien vertreten. Nur mit Blick auf die antifaschistische und progressive Haltung der Jugend scheint mehrheitlich Einigung zu bestehen.

Ich habe die am wenigsten schlimmste Option gewählt. Als ich ins Wahllokal ging, war es mein Ziel, die absolute Mehrheit der Rechten zu verhindern. Kurz gesagt, ich habe Parteien gewählt, die den Vormarsch aufhalten können.

Dass der Wahlkampf einen großen Teil des älteren Segments der Generation Z und des jüngeren Segments der Millennials nicht überzeugen konnte und dementsprechend unter den jungen Italiener*innen zu einem Gefühl der mangelhaften Repräsentation führte, zeigte zum einen die Verteilung der Stimmen derjenigen, die trotzdem durch die Abgabe ihrer Stimme Einfluss nehmen wollten.

Ich hätte eher links gewählt, aber die Linke ist zu elitär geworden. Junge Menschen haben keine Bezugsperson. Niemand legt zum Beispiel Wert auf die Forschung, und viele von uns gehen ins Ausland.

Auch eine Umfrage von UNICEF Italia[4], die wenige Wochen vor dem Wahltermin durchgeführt und veröffentlich wurde, zeigt Schwächen des italienischen politischen Systems hinsichtlich der Einbindung der jüngeren Generation auf. So gaben über 45 Prozent der dort Befragten an, zwar über die Wahlprogramme der Kandidat*innen informiert zu sein, aber Schwierigkeiten zu haben, klare, für junge Menschen geeignete Informationen zu finden. Auch dies führt zu mangelndem Vertrauen in die derzeitige politische Klasse Italiens in Bezug auf die Themen, die den Jugendlichen wichtig sind. Aber die unzureichende Repräsentation spiegelt sich andererseits auch im Wahlverhalten der jungen Menschen in Italien wider, die immer zahlreicher von den Wahlurnen fernbleiben und das Geschehen in der institutionellen Politik Italiens aus der Ferne beobachten. So gaben laut Ixè bei den Parlamentswahlen nur knapp 60 Prozent der 18- bis 34-Jährigen ihre Stimme ab. Mehr als jede*r Dritte dieser Altersgruppe entschied sich somit gegen die Stimmabgabe und die Wahlenthaltung lag immerhin um 4 Prozent höher als im nationalen Schnitt. Sie übertraf die Enthaltungen der Wahlen im Jahr 2018 sogar um mehr als 10 Prozent.[5]

Ich habe nicht die Beteiligung gefunden, die ich mir gewünscht hätte. Ich habe einfach in aller Eile gewählt und bin nur hingegangen, weil es absolut keine Warteschlange gab.

Wie sind diese Zahlen zu lesen? Vielleicht als Zeichen der Politikverdrossenheit der jüngeren Generation in Italien – oder vielleicht auch des Desinteresses. Tatsache ist, dass dieser Teil der jüngeren Wähler*innenschaft scheinbar niemanden gefunden hat, der oder die ihn vertritt; die Themen, die der jungen Generation wichtig sind, kamen in den Wochen vor der Parlamentswahl scheinbar zu kurz.[6]

Es gibt nur wenige jugendpolitische Maßnahmen, zumindest in den Wahlprogrammen. Sie nehmen im Wahlkampf wenig Raum ein.

Hinzu addiert sich in Italien die fehlende Möglichkeit der Briefwahl im Inland (und erst seit 2006 dürfen zumindest im Ausland lebende Italiener*innen über das neue Parlament per Brief abstimmen). Vor allem die Jugendlichen, die für das Studium ihre Heimatstadt – in der sie zumeist zum Wählen registriert sind – verlassen haben, bemängeln in diesem Zusammenhang viele Umständlichkeiten, die die Motivation, wählen zu gehen, drastisch sinken lassen.[7]

Ich verstehe die Schwierigkeiten vieler Studierender, die wie ich von zu Hause weg sind, und nicht zum Wählen zurückkommen konnten, weil die Kosten für die Rückfahrkarten sehr hoch waren. Es gab außerdem Verkehrsprobleme, so dass viele es vorzogen, nicht zu kommen und zu wählen.

Dass die Option zur Briefwahl in Italien nicht besteht und dies für viele eine Zugreise zu (aufgrund des zu Wahlzeiten stark vermehrten Reiseaufkommens) hohen Preisen nötig macht, beziehungsweise erfordern würde, verstehen viele der jungen Wähler*innen als die Verwehrung des Rechts zu wählen besonders für diejenigen, die sich sodann aus finanziellen und zeitlichen Gründen gegen die Stimmabgabe entscheiden (müssen).

Wählen zu gehen sehe ich als Pflicht, aber auch als Recht. Und dieses Recht sollte vom Staat garantiert werden.

Besonders paradox scheint die ausbleibende Möglichkeit des voto per corrispondenza auch in Anbetracht der formal noch bestehenden Wahlpflicht, die bei Parlamentswahlen in Artikel 48 der italienischen Verfassung vorgesehen ist. Die Unmöglichkeit der Briefwahl ist demnach mit Blick auf die hohe Wahlenthaltung ein weiterer Faktor, der sich auch zu der Tatsache addiert, dass viele junge Wähler*innen für keine Partei des rechten Spektrums stimmen wollten – und dennoch die Vorahnung hatten, dass die Rechte zweifellos auf einen klaren Sieg zusteuern würde. Diese Nachrichten wurden von den Meinungsinstituten in Italien schließlich ohne Ausnahme verkündet seit der italienische Staatspräsident Sergio Mattarella nach dem Sturz der Regierung von Mario Draghi das Parlament aufgelöst und Neuwahlen ausgerufen hatte. Denn das italienische Wahlrecht würde die Einheit der rechten Koalition bevorteilen und die Uneinigkeit des gegnerischen Lagers bestrafen. Somit schien das Wahlergebnis schon im Vorfeld nahezu festzustehen und die jungen Wähler*innen konnten schnell den Eindruck gewinnen, dass ihre Stimme (gegen den rechten Block) daran kaum etwas ändern würde. Und so dürfte es durchaus nicht nur den jungen Italiener*innen ergangen sein.