“NIEMAND WOLLTE SIE RETTEN"

Analyse

“NIEMAND WOLLTE SIE RETTEN” - So titelt die zweitgrößte italienische Tageszeitung „Repubblica“, am 1. März auf der ersten Seite. Drei Tage zuvor ist ein von der Türkei abgefahrener Fischerkahn mit etwa 190 Flüchtlingen bei Cutro in Kalabrien hundert Meter vor dem Strand gesunken. Mindestens 91 Menschen, darunter viele Kinder und Kleinkinder, sind ertrunken. Noch immer, Ende März, werden Leichen gefunden. Etwa 25 Personen gelten als vermisst.

Cutro - radio onda rossa

„Man hat sie ertrinken lassen“, schreibt die „Repubblica“, entgegen der Behauptung der Meloni-Regierung, man habe alles nur Mögliche getan, um die Tragödie in Cutro zu vermeiden, leider ohne Erfolg. Nach und nach kommen die Einzelheiten all der Versäumnisse der zuständigen Institutionen ans Licht. Die Staatsanwaltschaften in Kalabrien und in Rom ermitteln, bislang „gegen unbekannt“. Die Anwälte der Überlebenden und der aus vielen europäischen Ländern angereisten Familienangehörigen der Opfer sprechen nicht nur von dem Vergehen unterlassener Hilfeleistung, sondern auch von fahrlässiger Tötung.

In der Tat ist die für Seenotrettung zuständige Küstenwache in der kalabrischen Provinzhauptstadt Crotone, die über voll ausgerüstete und selbst bei Windstärke 8 unsinkbare Schnellboote verfügt, erst auf den Plan getreten, als bereits Dutzende von Körpern an den Strand gespült worden waren und jede Rettungsaktion zu spät kam. Zwei Schnellboote der Finanzpolizei hingegen, von Frontex über das Flüchtlingsboot in italienischen Küstengewässern informiert, waren längst vorher losgefahren, allerdings für eine law enforcement Operation, also mit der Aufgabe, eine illegale Einreise nach Italien zu verhindern und möglicherweise die Schlepper zu verhaften. Wegen zu hoher See mussten die Schiffe in den Hafen zurückkehren, ohne das Flüchtlingsboot gesichtet zu haben.

Es ist hier nicht der Ort, in die Diskussion um die Details der „Kommunikationsprobleme“ und „Missverständnisse“ zwischen Frontex, Küstenwacht , Finanzpolizei und Innenministerium einzusteigen, die die Staatsanwaltschaften und Gerichte noch jahrelang beschäftigen werden und die seit Wochen Gegenstand von Parlamentsdebatten und Medienaufmerksamkeit sind.

Es geht vielmehr um die politische Dimension und Verantwortung. Zum ersten: ganz offensichtlich wurde der Bekämpfung irregulärer Einreise der Vorrang gegeben vor der Seenotrettung. Die – zumal nicht für stürmische See ausgerüsteten – Schiffe der Finanzpolizei werden mobilisiert, die Küstenwacht soll erst mal abwarten. Die operativen Entscheidungen „vor Ort“ sind beeinflusst von den politischen Leitlinien, die sich auch in ministeriellen Anweisungen niederschlagen.  

„Die Migranten sollten nicht wegfahren von dort, wo sie sich befinden“, sagte Giorgia Meloni. Sie sollten also besser in der Türkei oder in Libyen bleiben. Der Innenminister Matteo Piantedosi hat es als unverantwortlich bezeichnet, dass Flüchtlingseltern ihre Kinder auf solche Überfahrten mitnehmen. Anders gesagt: die Opfer sind selbst schuld. Die Flüchtlinge sollten am besten gar nicht fliehen, sondern in Afghanistan oder Syrien bleiben, „wo wir ihnen bei sich zu Hause helfen“.

Diese Marschrichtung wird nicht nur von der italienischen Regierung vorgegeben, sondern auch von der EU, vielleicht mit etwas vorsichtigerer Sprache. Die Schlussfolgerungen der außerordentlichen Tagung des Europäischen Rats vom 9. Februar betonen wiederholt die dringende Notwendigkeit der Vorbeugung „irregulärer Ausreisen“, der „wirksamen Kontrolle der EU-Außengrenzen“, der verstärkten „Zusammenarbeit mit Herkunfts-und Transitländern“, der Verminderung des „Drucks auf die EU-Grenzen“[1]. Die Aufgabe von Frontex soll der „Schutz der Außengrenzen“ sein. In Bezug auf Seenotrettung beschränkt sich der Europäische Rat auf das Erfordernis „verstärkter Zusammenarbeit bei Such-und Rettungsaktionen“[2], ohne zu sagen, wer mit wem kooperieren soll. Der Begriff „Schutz“ wird in dem ganzen Kompendium der Entschließungen vor allem im Hinblick auf die Außengrenzen verwandt, nicht auf Flüchtlinge und Asylsuchende, die in keinem Punkt erwähnt werden. Der Vorschlag einer gemeinsamen EU-Operation für Search and Rescue stehe, so sagte ein Sprecher der EU-Kommission, nicht auf der Tagesordnung.

Die Schlussfolgerungen des Europäischen Rats vom 23. März tun das Migrationsthema in 5 Zeilen ab, in denen nur auf die nächste Sitzung im Juni verwiesen wird. Zum Leidwesen von Giorgia Meloni, die nach Brüssel gereist war, um gerade bei diesem Thema Fortschritte zu erzielen, die sie in der seit der Tragödie von Cutro aufgeheizten innenpolitische Debatte wie auch in Hinblick auf den Europawahlkampf dringend braucht

Noch ein Boot sinkt, Hilfeleistung kommt zu spät

Am 12. März ist ein weiteres Boot im zentralen Mittelmeer gesunken. Mindestens 30 Flüchtlinge ertrinken, 17 werden von einem Handelsschiff gerettet. Der Kahn befand sich, nach der Abfahrt von der ostlibyschen Küste, in internationalen Gewässern, aber innerhalb der libyschen Search-and-Rescue-Zone, in der offiziell Libyen für Seenotrettung zuständig ist. Das italienische Koordinationszentrum für Seenotrettung (IMRC) war jedoch als erstes über die Notlage informiert worden und daher nach der SAR-Konvention von Hamburg verantwortlich, Rettungsmaßnahmen sicherzustellen. Das IMRC hat sich allerdings damit begnügt, das lediglich entsprechende libysche Zentrum zu benachrichtigen. Dieses hat nichts unternommen: „wir haben keine Schiffe zur Verfügung“. Am Ende haben weder Italien noch Libyen, noch das relativ nah gelegene und ebenfalls informierte Malta einen rechtzeitigen Rettungsversuch unternommen.

Bezieht sich die Forderung des Europäischen Rats auf verstärkte Zusammenarbeit mit Transitländern auch auf Libyen? Das bringt uns zu der zweiten Überlegung: die Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache, oder besser die Abschiebung von Verantwortung, die allein am 12. März zum Tod von 30 Menschen geführt hat.

Die außerordentlich ausgedehnte libysche SAR-Zone wurde erst 2018, auf Druck Italiens und der EU, eingerichtet und bei der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation (IMO) angemeldet. Die verschiedenen libyschen Küstenwachteinheiten, zu Teilen in der Hand von extrastaatlichen Milizen und im Verdacht, selbst am Schlepperbusiness und Menschenhandel beteiligt zu sein, werden sowohl von Italien wie von der EU ausgerüstet, finanziert und ausgebildet[3]. Meloni hat bei ihrem kürzlichen Besuch in Tripolis die Lieferung weiterer 6 Schnellboote zugesagt. Die Finanzierung der libyschen Küstenwache ist für ein Jahr vom italienischen Parlament, gegen die Stimmen der Demokratischen Partei (PD)[4] und anderer Oppositionsparteien, für ein Jahr verlängert worden.

Seit 2018 wurden mehr als 50.000 Flüchtlinge und Migranten von der libyschen Küstenwacht aufgebracht und gewaltsam nach Libyen in die illegalen Haftzentren zurückgebracht, davon allein 22.000 im Jahr 2022, obschon UNHCR und IOM wiederholt erklärt haben, Libyen sein kein „place of safety“ im Sinne des internationalen Seerechts. NGOs berichten, dass die libysche Koordinationsstelle für Seenotrettung häufig gar nicht auf Hilferufe reagiert. In mehreren Vorfällen wurden NGO Rettungsschiffe von den Libyern mit Waffengewalt bedroht, wenn sie in deren SAR-Zone operieren. Die Waffen werden von Italien geschenkt. Die Bundesregierung hat im März 2022 erklärt, Deutschland habe die Ausbildung des Personals der libyschen Küstenwacht eingestellt, angesichts der Berichte von Misshandlungen von Flüchtlingen und Migranten.

Bei dem Unglück vom 12. März befanden sich auch Militärschiffe der „Irini“-Operation der EU in der Nähe des gefährdeten Bootes. Dass sie nicht eingegriffen haben,  hat die EU Kommission damit erklärt, dass „Irini“ nicht in libyschen Hoheitswässern operieren könne. Dem Sprecher der Kommission ist die Verwechslung von SAR-Zone und Hoheitsgewässern unterlaufen… Laut Presseberichten haben „Irini“-Schiffe in 3 Jahren Tätigkeit noch nie eine Hilfsleistung im Meer unternommen.  

Schon wieder ein Immigrations-Dekret

Als Antwort auf die Katastrophe in Kalabrien hat die italienische Regierung am 10. März ein Eil-Dekret verabschiedet, das zweite seit Beginn des Jahres, das Asyl und Migration zum Thema hat.

Das Dekret, dessen Umsetzung in ein Gesetz gegenwärtig vom Parlament diskutiert wird, sieht eine kleine Öffnung für die legale Zuwanderung von ausländischen Arbeitskräften vor, aber schweigt über legale Zufahrtswege von Flüchtlingen und Asylbewerbern. Der zentrale Punkt des Dekrets ist jedenfalls die starke Einschränkung des „speziellen Rechtsschutzes“ für Asylbewerber und Migranten, deren Abschiebung ins Herkunftsland das Grundrecht auf familiäres und privates Leben verletzen würde. Dieser Rechtsschutz, der die vormaligen Regelungen zum Aufenthaltsrecht „aus humanitären Gründen“ ersetzt, war erst Ende 2020 unter der Draghi-Regierung in das Ausländergesetz eingefügt worden[5]. Damit war zum ersten Mal für die Zuerkennung des Rechtsschutzes nicht allein die Situation im Herkunftsland, sondern der Grad der tatsächlichen Integration und das Vorhandensein familiärer Beziehungen in Italien ausschlaggebend. Die Regelung weist eine gewisse Ähnlichkeit mit dem kürzlich in Kraft getretenen deutschen „Chancen-Aufenthaltsrecht[6] auf, allerdings ist ein vorheriger Zeitraum von „geduldetem“ Aufenthalt nicht erforderlich. Die „Duldung“ ist dem italienischen Aufenthaltsrecht unbekannt.

Im Jahr 2022 wurde der „spezielle Rechtsschutz“ 11.000 Asylbewerbern zuerkannt, die damit ein zweijähriges, verlängerbares Aufenthalts-und Arbeitsrecht haben. Das entspricht 21% aller Asylentscheidungen und mehr als der Hälfte aller positiven Entscheidungen. Die insbesondere vom stellvertretenden Ministerpräsidenten und früheren Innenminister Matteo Salvini gewollte Abschaffung dieser Form von Rechtsschutz wird die Zahl der irregulär anwesenden Ausländer erheblich erhöhen. Dies ist im Kontext der Tatsache zu sehen, dass zehntausende Migranten und Asylbewerber illegal beschäftigt und ausgebeutet werden, vor allem in Agrar-, Bau- und Touristikbetrieben. Über die Frage des speziellen Rechtsschutzes gibt es einen Konflikt zwischen Salvinis Lega und der Mehrheitspartei Melonis, Fratelli d’Italia, so dass möglicherweise die Restriktion im Aufenthaltsrecht vom Parlament, auch auf Wunsch des Staatspräsidenten Sergio Mattarella, abgemindert wird. Insgesamt gibt es in der Asyl-und Migrationsdebatte Widersprüche innerhalb der Regierungskoalition, wobei kein Zweifel bestehen kann, dass sich alle Rechts-Parteien über die Grundorientierung einig sind. Dies wurde auch deutlich bei der reibungslosen parlamentarischen Verabschiedung des ersten Migrationsgesetzes der neuen Regierung, die das Ziel hat, die Tätigkeit von NGOs in der Seenotrettung zu behindern und verstärkter, einschnürender Kontrolle zu unterwerfen. 

„Europa lässt uns im Stich“      

Zum tausendsten Mal wird von der Regierung, aber auch von einem Teil der Medien behauptet, die EU und die anderen Mitgliedsstaaten ließen Italien allein bei der Bewältigung der Migrationsproblematik. Daran ist einiges wahr, anderes nicht.

Wahr ist, dass Italien, wie auch Griechenland, Spanien, Malta und Zypern, die „Med-5“, allein wegen der geographischen Lage am Mittelmeer mit Bootsankünften aus Nordafrika und dem Vorderen Orient konfrontiert sind, ein Phänomen, das die anderen Mitgliedsländer nicht kennen, da sie keine „sensiblen“ Küsten haben. Allein in den ersten drei Monaten des Jahres sind über 26.000 Flüchtlinge und Migranten über das Meer in Italien angekommen, davon 2.000 unbegleitete Minderjährige. Das ist ein Anstieg von mehr als 300% gegenüber dem vergleichbaren Zeitraum 2022. Die Erstaufnahmestrukturen, angefangen von Lampedusa, sind völlig überlastet. Die im Juli 2022 feierlich erklärte Bereitwilligkeit anderer Länder, zuvorderst Deutschland und Frankreich, innerhalb eines Jahres 10.000 Bootsflüchtlinge aufzunehmen, hat in 8 Monaten nur zu wenigen hundert Umsiedlungen geführt. Kein anderer Mitgliedsstaat nimmt an den Seenotrettungsaktionen teil, die in 2022 zu 90% von der italienischen Küstenwacht und zu 10% von NGOs durchgeführt wurden.

Auf der anderen Seite stehen aber die Asylstatistiken, die ausweisen, dass Italien 2022 auf Platz 5 unter den europäischen Ländern gefallen ist, hinter Deutschland, Frankreich, Spanien und sogar Österreich. Die 77.000 Asylbewerber in Italien entsprechen einem Drittel der Zahl in Deutschland  und wenig mehr als der Hälfte in Frankreich. Vereinfacht gesagt: die Flüchtlinge kommen zwar in Italien an, die meisten von ihnen aber wandern irregulär weiter in andere Länder. Die Zahl der auf Grund der Dublin-Verordnung nach Italien zurücküberstellten Asylbewerber war sehr gering. Im Dezember hat Italien erklärt, wegen Überlastung die Anwendung der Dublin-Regelungen überhaupt vorerst auszusetzen.

Das seit Jahren zu beobachteten Tauziehen um das Dublin-System und die „Sekundärwanderung“ von Italien in andere Mitgliedsstaaten, namentlich Deutschland, Frankreich, Österreich und die assoziierte Schweiz, wird erst dann ein Ende haben, wenn es zu einer gemeinsamen europäischen Asylpolitik kommt, die diesen Namen verdient. Ein solches System müsste in der Lage sein, nationalstaatliche Egoismen zu überwinden und gleichzeitig den Schutz von Flüchtlingen und deren berechtigte Interessen und Verbindungen zu einem bestimmten Land in den Vordergrund zu stellen. Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat zwar gesagt, Migration und Asyl seien eine der vier Prioritäten für die Zeit bis zu den europäischen Wahlen 2024, aber angesichts der gegenwärtigen politischen Konstellationen in vielen Mitgliedsländern, nicht zuletzt in  Italien, dürften wir von einer gemeinsamen EU-Asylpolitik im obigen Sinne weit entfern sein.   

 

[1] Europäischer Rat, Schlussfolgerungen der außerordentlichen Sitzung vom 9. Februar 2023, Kap.19 u. 20

[2] Ebenda, Kap. 23

[3] Der Zusammenhang zwischen der Untetrstützung der libyschen „Küstenwache“ seitens Italiens und der EU und der an Migranten und Flüchtlingen begangenen Verbrechen in Libyen ist, erneut, herausgestellt in dem am 27. März 2023 veröffentlichten Bericht der fact finding mission der UN,  https://www.dw.com/en/un-backed-probe-finds-proof-of-torture-sex-slavery-in-libya/a-65139276

[4] Es ist aber daran zu erinnern, dass das im Februar 2017 unterzeichnete Memorandum Italien-Libyen, das die Unterstützung Libyens bei der „Bekämpfung illegaler Abreisen“ vorsieht, auf Betreiben des damaligen, der PD angehörigen Innenministers Marco Minniti zustandekam.

[5] Gesetz Nr. 173/2020 v. 18.12.2020

[6] § 104c Aufenthaltsgesetz