Während tausende Landwirt*innen seit Wochen in ganz Europa auf den Straßen protestieren, organisierte die Heinrich-Böll-Stiftung - Büro Paris in Zusammenarbeit mit dem Büro Thessaloniki und dem Büro Berlin am 12. Februar 2024 eine Online-Diskussion über die Ursachen und mögliche Lösungen der Agrarkrise. Bäuerliche Vertreter*innen und Wissenschaftler*innen aus Frankreich, Deutschland und Griechenland stellten die Situation in ihren Ländern dar, veranschaulichten ihre Forderungen und schlugen politische Antworten vor.
Zu den Redner*innen gehörten Aurélie Catallo, Direktorin für Landwirtschaft Frankreich bei IDDRI, Gesine Langlotz, Sprecherin der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL, Deutschland), Mathieu Courgeau, Viehzüchter und Vorsitzender des Collectif Nourrir (Frankreich), und Panagiotis Kalfountzos, Vorsitzender der Thessalischen Landwirtschaftlichen Genossenschaft ThesGi (Griechenland).
Webinar Landwirtschaft: Ursachen und Wege aus der Krise in Deutschland, Frankreich und Griechenland - Heinrich-Böll-Stiftung France
Direkt auf YouTube ansehenDie angehäuften Probleme im Agrarsektor haben europäischen Landwirt*innen diesen Winter zu einer breiten Mobilisierung veranlasst. Und während Länder wie Griechenland mit dieser Art von Protesten vertraut sind, hatte es in Deutschland und Frankreich schon lange nicht mehr so eine gewaltige Mobilisierung von Bäuer*innen gegeben. Natürlich sind die Probleme von Land zu Land unterschiedlich, aber die strukturellen Probleme scheinen auf dem ganzen Kontinent gleich zu sein. Diese Probleme haben wahrscheinlich weitreichende Folgen für die Zukunft, da sie zu einer enormen Schwächung des Agrar- und Ernährungssektors führen – so wird Schätzungen zufolge die Hälfte der französischen Landwirt*innen, wenn sie in Rente gehen, nicht ersetzt werden. Wie in der Diskussion hervorgehoben wurde, sind die größten Herausforderungen für den Agrar- und Ernährungssektor heute sowohl wirtschaftlicher und sozialer als auch ökologischer Natur.
Wirtschaftliche Herausforderungen
Das größte wirtschaftliche Problem sind zweifellos die Produktionskosten. Genauer gesagt sind es die hohen Produktionskosten aufgrund steigender Energiepreise (viele Landwirt*innen fordern eine Senkung oder gar Befreiung von Steuern), aber auch die Kosten für Betriebsmittel (darunter auch stark gestiegene Preise für Mineraldünger) und Ausrüstung. Im Gegensatz zu den steigenden Produktionskosten sind die Verkaufspreise der Produkte stabil oder sogar rückläufig. Die Folge ist, dass in ganz Europa viele landwirtschaftliche Betriebe nicht mehr rentabel sind. Die Einkommen der Landwirt*innen sinken stetig: So wurde beispielsweise erwähnt, dass 15 Prozent der französischen Landwirt*innen unterhalb der Armutsgrenze leben, während die Verarmung auch den deutschen Landwirt*innen droht, die im Vergleich zu allen anderen Wirtschaftssektoren die niedrigste Rente erhalten. So sind die europäischen Landwirt*innen stark von der Förderung über die Gemeinsame Agrarpolitik der EU abhängig.
Ein weiteres Problem, das in der Diskussion erwähnt wurde, ist der unfaire Wettbewerb, da der europäische Markt mit billigen Produkten aus Drittländern überschwemmt wird, die nicht den europäischen Umweltvorschriften unterliegen, welche die Produktionskosten erhöhen. Darüber hinaus unterliegen viele Produkte aus Drittländern aufgrund von Handelsabkommen auch nicht denselben Steuern. Von der Produktion bis zum Verbrauch beeinflussen zahlreiche Zwischenhändler und natürlich der Einzelhandel die Preise, wobei teils enorme Gewinne etwa für Lebensmittelhersteller und den Einzelhandel entstehen. Das schadet sowohl den Erzeuger*innen als auch den Verbraucher*innen.
Soziale Herausforderungen
Viele Bäuer*innen sind verarmt, fühlen sich marginalisiert und haben unter den ökonomischen Folgen der jüngsten Krisen – der Covid-19-Pandemie, dem Krieg in der Ukraine – besonders gelitten. Wie bereits erwähnt, richten sich die Proteste der Landwirt*innen in der EU vor allem gegen die Entscheidungszentren, die deren Belange zu wenig berücksichtigen und nicht mit ihnen in Dialog treten, was das Vertrauen in die Demokratie schwächt.
In Bezug auf die sozialen Komponenten ist das größte Problem, dass die Zahl der Landwirt*innen in Europa abnimmt und ihr Alter steigt, da die Bodenpreise besonders hoch sind, vor allem für die Jüngeren. Die Landwirte tendieren dazu, nicht nur den Agrar- und Ernährungssektor, sondern auch die ländlichen Gebiete zu verlassen, was zu deren Entvölkerung beiträgt. Schätzungen zufolge haben 50 % der französischen Landwirt*innen niemanden, der ihre Betriebe übernehmen wird, wenn sie in den Ruhestand gehen, was der Agrarfrage eine generationenübergreifende Dimension verleiht. Ein weiteres wachsendes Problem ist die starke Ungleichheit zwischen den landwirtschaftlichen Betrieben, mit einem deutlichen Rückgang kleiner Familienbetriebe und einer zunehmenden Konzentration von Agrarland in den Händen einiger weniger Großproduzenten.
Ökologische Herausforderungen
Die Verringerung der CO2-Emissionen sowie andere ökologische Herausforderungen wie das Wassermanagement betreffen den Agrarsektor in besonderem Maße. Der Green Deal – der Plan der EU, Europa bis 2050 CO2-neutralzu machen – berücksichtigt nicht ausreichend den wirtschaftlichen Druck auf die Landwirt*innen.Durch Gesetze und Richtlinien und natürlich durch die Gemeinsame Agrarpolitik wird versucht, Umweltziele zu erreichen, aber es wird aus Sicht vieler Landwirt*innen nicht genügend darauf geachtet, gleichzeitig die wirtschaftliche Lebensfähigkeit der Landwirte zu sichern. Besonders deutlich wird dies bei ökologisch wirtschaftenden Betrieben, wo das Ungleichgewicht zwischen Kosten und Einkommen zu Ungunsten der Erzeuger*innen wirkt.
Darüber hinaus werden viele Umweltmaßnahmen, wie die Einbeziehung von landwirtschaftlichen Betrieben in "Öko-Regimes" oder die Beschränkung von Pestiziden, trotz ihres lobenswerten Ziels als übereilt umgesetzt angesehen, ohne den Landwirt*innen eine echte Begleitung anzubieten. Die bisherigen Maßnahmen für einen ökologischen Übergang berücksichtigen zu wenig die neuen Umstände (Pandemie, Krieg, steigende Produktionskosten) und sind vor allem nicht mit der Gewährleistung eines stabilen und angemessenen Einkommens für die Landwirt*innen verbunden, die folglich die Last der Transformation allein tragen müssen.
Vorschläge von Landwirt*innen
Da die Proteste sehr aktuell sind, konzentrierte sich die Diskussion auf die Forderungen der Landwirt*innen und ihre Vorschläge. Als erstes wurde betont, dass die Reaktion der Regierungen bisher weitgehend unbefriedigend war - unser Webinar fand am Tag vor dem Treffen des griechischen Premierministers mit Vertreter*innen der Landwirtschaft statt. Die von den Regierungen vorgeschlagenen Maßnahmen wurden als kurzsichtig und als bloße Notmaßnahmen bezeichnet, da sie lediglich versuchen, die akuten Auswirkungen der Krisen abzumildern, aber nicht die strukturellen Probleme angehen. Um die strukturellen Probleme in der Agrarpolitik zu adressieren, ist ein offener Dialog mit den Landwirt*innen notwendig. Neben den offensichtlichen Vorschlägen, die Einkommen der Landwirt*innen durch Senkung der Produktionskosten zu verbessern, waren einige der gehörten Bemerkungen, die sich auf die Gesamtheit der landwirtschaftlichen Probleme beziehen, folgende:
- Regulierung des Agrarhandels, Stärkung der Direktvermarktung und Deckelung der Gewinne von Lebensmittel(einzel)händlern
- Stärkung der Markt- und Verhandlungsposition von Agrarbetrieben
- Mehr Macht für Genossenschaften und Produzent*innen bei der Preisgestaltung
- Einbeziehung des Einkommensschutzes in die Umweltmaßnahmen
- Schuldenerlass für überschuldete Landwirt*innen
- Stärkung der lokalen Produktion und Verarbeitung von Lebensmitteln
- Zuweisung eines größeren Anteils der Zuschüsse an agrarökologisch wirtschaftende Betriebe
- Abbau von Bürokratie und Vereinfachung der Verfahren
- Systematische Beratung der Landwirt*innen u. a. zur langfristigen Planung und zu notwendigen Investitionen im Sinne der Transformation
- Langfristige und nachhaltige Bodenpolitik, um den Zugang zu Land für alle zu gewährleisten
- Systematische Ausbildung von Landwirt*innen zu den wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts
- Begrenzung der Abhängigkeit der Landwirt*innen von GAP-Subventionen
- Zugang aller Landwirt*innen zu notwendigen Technologien durch eine angemessene öffentliche Finanzierung
- Systematische Einbeziehung wirtschaftlicher Herausforderungen von Landwirt*innen in die Strategien von Umwelt-NGOs
- Bekämpfung von Ungleichheiten bei der Verteilung von Land, Wasser und Subventionen
- Gerechter Zugang zu Nahrung für alle, indem Ungleichheiten in der gesamten Gesellschaft bekämpft werden